SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 4

Geiselnahme in Moskau

Der Anfang vom Ende Putins?

von BORIS KAGARLITZKI

Boris Kagarlitzki lebt, lehrt und schreibt in Moskau. Den noch vor der gewaltsamen Stürmung des besetzten Theaters geschriebenen (hier leicht gekürzten) Kommentar entnahmen wir der Moscow Times vom 26.Oktober.

Die Präsidentschaft Wladimir Putins begann mit den Moskauer Bombenanschlägen von 1999 und mit seinem Versprechen, die Ordnung im Lande wieder herzustellen. Viele russische Bürger sahen in Putin die Verkörperung ihres Traums von einem vertrauenswürdigen Staat und einer starken Hand. Ordnung und Sicherheit sollten hergestellt werden, egal, was es kosten würde. Menschenrechte und Redefreiheit wurden zurückgestellt oder ganz vergessen.
Heute steht Putin vor der ernstesten Krise seiner Präsidentschaft. Die Gruppe bewaffneter Männer und Frauen, die das Nord-Ost-Theater in Moskau besetzt haben, haben dem Kreml-Regime einen Schlag ins Herz versetzt. Putin versprach Sicherheit, aber drei Jahre nachdem er an die Macht kam, waren vollbewaffnete Kämpfer in tschetschenischen Uniformen in der Lage, ungehindert und in Jeeps in der Hauptstadt herumzufahren und Hunderte von Geiseln zu nehmen. Er versprach Ordnung, aber seine Polizei-, Sicherheits- und Militärkräfte demonstrierten totale Machtlosigkeit.
Was während der letzten drei Jahre in Tschetschenien passierte, waren keine "Antiterroroperationen". Es war nicht einmal ein Krieg, sondern eher ein brutaler und sinnloser Pogrom.
Im Kreml hat man schon lange verstanden, dass der tschetschenische Krieg nicht zu gewinnen ist — aber man könnte ihn ja vergessen machen. Die Realität setzt sich jedoch immer wieder durch. Der Kreml gewann die Informationsschlacht, in dem er seine Kritiker ruhig stellte und die Massemedien zwang, still zuhalten über das, was aktuell in Tschetschenien vorging. Die Schlacht haben sie gewonnen, den Krieg jedoch verloren. Der Glaube in die Allmacht der Propaganda endete in politischer Unfähigkeit.
Die Realität der tschetschenischen Tragödie platzte in das politische Leben des Landes in der denkbar brutalsten Form: Der Krieg kam nach Moskau und riss alle Informationshindernisse und
-mauern ein. Ich meine Krieg, nicht Terrorismus. Man kann die bewaffneten Kämpfer verdammen so viel man will, aber es wäre offensichtliche Scheinheiligkeit, auszulassen, dass sich die Bundesarmee in Tschetschenien erheblich schlimmer aufgeführt hat als jene Tschetschenen, die das Theater besetzt haben.
Wieviele Menschen sind in Tschetschenien in den vergangenen drei Jahren ohne jede Spur verschwunden? Wie viele Städte und Dörfer wurden zerstört? Wie viele Menschen wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, weil ihr Leben untragbar wurde? Es ist die Bundesarmee, die über die letzten drei Jahre Tschetschenen entführt und getötet hat, die systematisch friedvolle Städte geplündert und zerstört und unschuldige Menschen terrorisiert hat. Sie tragen die die Hauptverantwortung für das, was nun geschehen ist. Wenn man nach Terroristen suchen möchte, gibt es schlimmeres, als mit der Suche im Kreml zu beginnen.
Ängstliche Politiker fahren fort, die Litanei des "Man kann mit Terroristen nicht verhandeln!" zu murmeln. Aber alle Erfahrung mit den zwei tschetschenischen Kriegen belegen das Gegenteil. Zuerst hat Moskau alle moderaten tschetschenischen Politiker, all jene, mit denen ein Übereinkommen möglich gewesen wäre, zu Terroristen erklärt. Und als dann radikale Elemente in den Vordergrund traten zu terroristischen Methoden griff, knickte die Moskauer Führung ein und begann zu verhandeln. Das war früher der Fall und es scheint sich vor unseren Augen zu wiederholen.
Indem sie eine politische Lösung zurückwiesen und allein auf Zwang setzten, haben sich die Bundesbehörden selbst zum Misserfolg verurteilt. Tschetschenische Führer sind politisch nicht so stark, aber tschetschenische Kämpfer sind darauf vorbereitet, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Anders als russische Generäle sind sie zum Sterben bereit. Aus diesem Grunde werden sie auch niemals allein durch den Gebrauch der Gewalt niedergeschlagen.
Es waren russische Spezialisten, die die tschetschenischen Spezialkräfte für den Krieg in Abchasien trainierten, und es scheint, dass die Tschetschenen schnell lernen. Doch unabhängig wie vorbereitet sie waren, die Frage steht, wie sie eine solch umfangreiche Operation im Zentrum der Hauptstadt durchführen konnten, ohne die Unterstützung einflussreicher Individuen. Dies kommt all jenen in den Kopf, die um die andauernden Probleme wissen, die die Moskauer Polizei Menschen "kaukasischer Herkunft" bereitet.
Mit diesem neuen terroristischen Akt in Moskau beginnt der Stern Putins zu sinken. Überlassen wir die Analyse der verschiedenen Versionen des Ereignisses den Verschwörungstheoretikern. Wie auch immer, dessen Konsequenzen werden nicht weniger dramatisch sein als die von 1999.



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