SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 5

Kautsky lesen!

Leo Panitch über den neuen Imperialismus, die Rivalität zwischen der EU und den USA und die Aufgaben der Linken

Du hast immer auf die aktive Rolle hingewiesen, die Staaten im Prozess der Globalisierung spielen, nicht nur, aber vor allem die Rolle des US-Staates. Welche Rolle spielt der US-Staat in der neuen Weltordnung?
Leo Panitch: Das hängt davon ab, wo man beginnt. Die wichtigste Rolle spielte er vor zwanzig Jahren, als er zuerst sich und dann dem Rest der Welt eine restriktive Finanzpolitik verordnete. Das war 1981 unter Paul Volcker, mit dem sog. Volcker-Schock, als die US-Amerikaner die Zinsraten erhöhten und die Inflation niederdrückten, als sie die Industriellen zwangen, den Rücken der amerikanischen Arbeiterklasse zu brechen und die ineffizienten Teile des US-Kapitalismus zu rationalisieren. Diese Strategie übertrug sich auch nach Europa, weil das Kapital zunehmend auch dorthin ging. Dieser Neoliberalismus genannte Prozess wurde die Basis struktureller Anpassungspolitik auch in der Dritten Welt, weil deren Staaten die auf den neuen Zinssätzen beruhenden Schulden nicht mehr bezahlen konnten. Der IWF kam erst dann, im Zuge des US-Handels, und veränderte mittels seiner Anpassungsprogramme das soziale Kräfteverhältnis auch innerhalb der Dritte-Welt- Staaten — soweit dies ging.
Das war die Hauptrolle des US-Staates und es ist eine durchaus alte. Aber das war nicht nur der US-Staat allein. Auch andere fortgeschrittene kapitalistische Staaten waren sehr aktiv, wenn es um die Förderung des Neoliberalismus, um die Förderung einer neuen Regulationsform unter finanzieller Kontrolle ging. Auch die Deregulation in Deutschland ist zu einem großen Teil staatlich angetrieben und beinhaltet eine Reihe von institutionellen Veränderungen.
Staaten sind keine Opfer des Globalisierungsprozesses, sie sind deren aktive Agenten und sie tragen die Verantwortung für dessen Weitertreiben. Es ist staatliche Politik, die die neuen Regeln des freien Markts durchsetzt.

Aber du schreibst dem US-Staat eine zentrale Rolle zu.
Der US-Staat ist ein spezifischer Staat mit einer besonderen Qualität. Er ist ein imperialer Staat und spielt eine treibende Rolle. Alle anderen Staaten sind vom US- Staat durchdrungen. Wir sehen das an dem offensichtlichen Beispiel der NATO. Das deutsche Militär kann aufgrund des Charakters der NATO nicht als ein von den USA unabhängiger Teil des deutschen Staatsapparats betrachtet werden. Auch andere Staaten waren zunehmend verantwortlich nicht nur für das Management ihrer eigenen Ökonomie, sondern für ein Management, dass sich konsistent und in Verbindung mit den USA in die globale Ökonomie einfügte. Es geht also niemals nur um den US-amerikanischen Staat. Er kann dies nur durch die anderen Staaten hindurch machen. Und der US-Staat bewerkstelligt dies weniger im klassisch- imperialistischen Sinne, sondern mehr konsensual, in einem durchaus gegenseitigen Prozess. Das führt zu einem anderen Typ von Empire, zu einem Empire, das auf einer Internationalisierung des Staates beruht. Damit meine ich im Allgemeinen, dass Staaten nicht nur ihre eigene, nationale Ökonomie managen müssen, sondern zunehmend auch die globale Ökonomie. Es gibt zunehmende Überschneidungen zwischen bestimmten sozialen Kräften im US-Staat und entsprechenden sozialen Kräften in anderen Staaten, auch in Dritte-Welt-Staaten.

Es ist also nicht die Frage eines unbestimmten "Empire", wie diskutiert wird. Es geht für dich um einen neuen imperialen Staat und du sagst, dass wir uns um einen neuen Begriff von Imperialismus kümmern müssen. Was verstehst du im Gegensatz bspw. zu Hardt/Negris Empire darunter?
Zuallererst: Entgegen der alten marxistischen Imperialismustheorie (Luxemburg, Lenin usw.) haben wir es nicht mit einem Imperialismus zu tun, der zu grundlegenden innerimperialistischen Rivalitäten zwischen den fortgeschrittenen Ländern führt. Die engsten Beziehungen bestehen zwischen diesen fortgeschrittenen Ländern und dem US-Staat. Die Beziehungen zu den Dritte-Welt-Staaten sind schwächer. Natürlich gibt es die Surplusausbeutung aus der Dritten Welt, doch das Wesen des neuen Imperialismus liegt in den engen Verbindungen zwischen den imperialistischen Staaten unter der hegemonialen Dominanz des US-Staates.
Was die Rivalitäten zwischen Europa und Amerika angeht, so gibt es Konflikte und auch Widersprüche. Aber innerhalb einer tiefen institutionellen Verbindung, die nicht zu einem fundamentalen Bruch führen wird — es sei denn, es käme zu revolutionären Veränderungen in den sozialen Klassenverhältnissen.
Zweitens und im Gegensatz zum modischen Empire-Begriff von Hardt/Negri: Die akzeptieren den traditionellen Imperialismusbegriff (eine Überproduktionskrise in der Ersten Welt, die gewaltsam auf die Länder der Dritten Welt abgewälzt wird) und sagen, das sei nun passé. Und was an dessen Stelle tritt, ist ein zentralisiertes Empire, ein Empire, dass seine Ursprünge in der US-Tradition souveräner Macht hat, dass nun jedoch ein gleichsam abstraktes Machtmodell in einer globalisierten Welt ist. Hardt und Negri haben hier einen sehr von Foucault beeinflussten Begriff von Empire. Ich würde dagegen argumentieren, dass das neue Empire wirklich in Washington DC oder New York zentriert ist. Aber es operiert durch andere Staaten hindurch, vor allem durch die anderen fortgeschrittenen Staaten. Das ist der neue Imperialismus.
Das ist weniger der alte marxistische Imperialismusbegriff, der Imperialismus und Kapitalismus in eins setzte (eben als expansiven Kapitalismus). Mein Imperialismusbegriff betont, dass es ein Imperialismus von Staaten ist. Es ist ein Imperialismus des globalen Kapitalismus, selbstverständlich, aber es ist ein Staatsprojekt, in dem herrschende Klassen eine enorme Rolle spielen. Dafür brauchen wir einen neuen Imperialismusbegriff.

Und der Feind des Imperialismus sind weniger die anderen imperialistischen Zentren, sondern die Dritte Welt? Oder gegen wen funktioniert dieser Imperialismus?
Er richtet sich gegen bestimmte Klassen, auch gegen andere herrschende Klassen. Er richtet sich gegen bspw. die US-amerikanische Arbeiterklasse. Und natürlich geht es um Auspressung des Surplus, der bspw. in Ostasien erarbeitet wird. Aber es gibt nicht unbedingt den staatlichen Feind. Sogar China wird zunehmend zu integrieren versucht, ähnlich wie Russland. Der schwierige Aspekt dieser Angelegenheit ist die Frage, ob die Staaten der Dritten Welt stabilisiert werden können, ob sie in der Lage bleiben werden, ihre subalternen Klassen unten zu halten. Ob sie bspw. wie in Pakistan in der Lage sind, ihre Atombomben nicht den fundamentalmuslimischen Kräften auszuliefern.
Das ist der große Widerspruch dieses Imperialismus: dass er durch die anderen Staaten hindurch wirkt, die jedoch von internen Klassenkämpfen geprägt werden.

Du hast in einem Vortrag gesagt, wir sollen mehr Kautsky lesen. Was ist dessen spezifische Aktualität?
Wir müssen natürlich sehr vorsichtig sein mit Kautsky. Auch er hat sehr stark für seine Zeit geschrieben. Aber der Kautsky, der gegen Lenin sagte, dass der Ausgang des Ersten Weltkriegs nicht notwendigerweise zu einem Todeskampf der Bourgeoisien und zur kommunistischen Weltrevolution führe (Lenins Idee), dieser Kautsky hatte Recht.
Nicht notwendigerweise auf die kurze Sicht, aber bereits in den 20er Jahren veränderte sich das Verhältnis zwischen amerikanischem und britischem Imperialismus. Vor allem jedoch seit 1945, seit wir eine Allianz imperialistischer Bourgeoisien unter US- amerikanischer Führerschaft. Kautsky hat das gesehen. Er hatte mehr Recht in seiner Vision der Entstehung eines Ultraimperialismus. Lenin hat seine Theorie immer etwas überpolitisiert. Er hat seine Theorien immer vor allem dazu benutzt, die unmittelbaren Aufgaben des politischen Kampfes zu bedienen. Die Theorie ist dadurch etwas verarmt, dass er sie in Strategie und Taktik hat aufgehen lassen.
Auch Kautsky zog Schlüsse aus seiner Theoriearbeit, die falsch waren. Er glaubte an die Ausweitung der Demokratie innerhalb des kapitalistischen Staates im Sinne einer gradualistischen Sozialisierung der Produktion. Das war genauso falsch. Wenn man die Reformen nicht dazu benutzt, um auf ihnen aufzubauen, um weiter zu gehen, um die Warenförmigkeit, die Kommodifizierung und die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen, wenn man beim sozialen Lohn stehen bleibt, verliert man auch den. Wir wollen also nicht zurückgehen zu Kautsky. Einzig in dem Sinne, dass uns seine Vision eines Ultraimperialismus weiter bringt als Lenin.

Du sagst, es gäbe keine grundlegend antagonistischen Widersprüche zwischen den führenden imperialistischen Zentren. Wir sind derzeit Zeugen zunehmender Widersprüche zwischen den USA und der EU, speziell Deutschland. Du siehst hier keinen grundlegenden Bruch?
Nein. Ich glaube, dass hier Spannungen existieren und dass die Europäer die USA drängen möchten, ein besseres, multilaterales Empire zu sein. Sie stellen in Frage, ob es ein gutes Empire ist, nicht, dass es ein Empire ist. Das ist keine strukturale Frage.

Und du siehst keine antagonistischen Interessen zwischen bspw. der deutschen und der US-Bourgeoisie?
Es gibt Konkurrenz. Das ist die Natur des Kapitalismus. Sie wollen mehr Spielraum für sich selbst, ökonomisch, militärisch usw., nicht jedoch im Sinne einer wirklichen Herausforderung des amerikanischen Empire.

In welcher Weise sollte also die internationale Linke auf diese Situation reagieren?
Ich denke, dass wir eine enorme Gelegenheit haben. Denn wenn sich irgendjemand bspw. in Europa, Deutschland oder Brasilien für Demokratie engagiert, dann wird das vor allem die Linke sein, die darauf hinweist, wie Demokratie in diesen Allianzen, in den existierenden Staaten, im US-Staat ausgehöhlt wird. Das eröffnet Möglichkeiten, die Hegemonie in den Staaten zu erringen, und ohne Illusionen, dass wir uns mit nationalen Bourgeoisien verbünden müssten. Das bedeutet, das wir für eine fundamentale Demokratisierung unserer Staaten streiten und die Führerschaft innerhalb derselben erringen müssen. Das wird natürlich sehr schwierig und in manchen Teilen der Dritten Welt etwas einfacher.
Die konkrete Kritik an der Rolle der USA eröffnet den Linken also Möglichkeiten, eine grundsätzlichere Kritik zu entfalten an Deutschlands strukturellen Beziehungen zum US-Imperialismus. Was machen wir, wenn die USA im Irak intervenieren? Dürfen sie die amerikanischen Basen in Deutschland benutzen? Wenn US-Amerikaner angeschossen werden, dürfen sie in deutsche Krankenhäuser gebracht werden? Das zeigt dir das tiefe Wesen der Integration und es erlaubt uns, Fragen zu stellen über die Natur dieser Beziehung und über deren Kontrolle.

Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass es keine Kraft gibt, die so etwas in Gang zu bringen vermag oder um die Aufgabe zu wissen scheint.

Man muss halt damit beginnen, eine solche Kraft aufzubauen. Wie lange hat es gebraucht, eine Kraft wie die deutsche Sozialdemokratie aufzubauen? Von den frühen 1860er zu den späten 1890er Jahren! So müssen wir denken.
Das heißt nicht, dass wir uns nicht in Kämpfen engagieren sollen, nicht auf die Straße gehen sollen oder um Reformen streiten. So bauen wir ja gerade diese Bewegung auf. Aber eben auch dadurch, dass wir aufzeigen, was darüber hinaus nötig ist, nämlich eine sehr grundsätzliche Änderung der Natur des Staates. Wenn wir die Frage der Demokratie ernsthaft stellen, geht es eben auch um die alte Frage, was und wie produziert wird und wie die Ressourcen und Produkte verteilt werden — wie das Mehrprodukt verteilt wird.

Leo Panitch ist Professor für Politische Wissenschaften in Toronto. Er ist Herausgeber des internationalen Jahrbuchs Socialist Register. In den Sozialistischen Heften für Theorie und Praxis Nr.1/2002 haben wir seinen Aufsatz "Eine neue Strategie für die Arbeiterbewegung" veröffentlicht. Soeben als Broschüre erschienen ist ein Rezensionsaufsatz von Panitch und Sam Gindin zu Hardt/Negris Empire (Hrsg. TIE Offenbach; für 5 Euro zu beziehen über express-afp@t-online.de). Das Gespräch für die SoZ führte Christoph Jünke.




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