SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 8

Neuer EU-Sprech:

"L‘Etat c‘est moi = Der Haushalt bin ich!"

Am 27.Juni dieses Jahres veröffentlichte die Regierung unter Jean-Pierre Raffarin einen Bericht, wonach das französische Haushaltsdefizit höher als erwartet ausfällt, und mit 2,6% des Bruttoinlandprodukts (BIP) gefährlich nah an derjenigen Grenze liegt, die mit dem Maastrichter EU- Stabilitätspakt als "Obergrenze für die jährliche öffentliche Verschuldung" gezogen worden war. Die EU-Kommission forderte daraufhin eine Wende in 2003. Doch Chirac und Raffarin setzten noch eins drauf und präsentierten im September den Haushaltsentwurf für das kommende Jahr. Darin wird eine Neuverschuldung von 44,6 Milliarden Euro anvisiert, was 3,2% des BIP entsprechen würde.
Jetzt hagelte es Kritik aus den Reihen der EU. Gegen die Stimme des französischen Finanzministers beschlossen alle übrigen EU-Finanzminister Anfang Oktober, dass "Länder mit Haushaltsproblemen ihre konjunkturbedingten Defizite um jährlich mindestens 0,5 Prozentpunkte senken" müssten. Danach hätte Frankreich einen neuen, in diesem Sinn korrigierten Haushalt vorlegen müssen.
Doch Frankreichs Finanzminister Francis Mer meinte kühl, Frankreichs Regierung habe "andere Prioritäten".
Während der österreichische Finanzminister Grasser von einer "Provokation" sprach, schwieg der deutsche Vertreter — Finanzstraatssekretär Caio Koch-Weser — zu Frankreich beredt und äußerte auf die Frage, wie hoch denn das deutsche Defizit ausfalle mit: "Das ist eine gute Frage".
Denn nach der Bundestagswahl erweisen sich die Behauptungen von Schröder und Eichel, die Bundesregierung werde bis 2004 einen "annähernd ausgeglichen Haushalt" vorlegen, als Wahlkampflüge, die vor allem auf Stoibers Behauptung zielte, die SPD-Grünen-Regierung könne nicht "wirtschaften". Das Ganze war wohl inszeniert: Noch kurz vor den Wahlen gab es im Bundestag eine erste Lesung des Haushalts 2003; darin wird tatsächlich für das kommende Jahr eine Neuverschuldung von nur noch 15,5 Milliarden Euro — 5,1 Millarden Euro weniger als 2002 — ausgewiesen. Inzwischen wissen wir: Die Neuverschuldung 2002 wird um bis zu 10 Milliarden Euro höher liegen. Deshalb wird es noch in diesem Jahr einen Nachtragshaushalt geben. Im kommenden Jahr wird es keinen Abbau der Neuverschuldung, wohl aber einen massiven Abbau von Sozialleistungen geben. Damit wird das deutsche Haushaltsdefizit im laufenden und im nächsten Jahr bei mehr als 3% des BIP liegen.
Erst nachdem die zwei größten EU-Länder — und nicht etwa ein ökonomisches Leichtgewicht wie Portugal — den Stabilitätspakt verletzen, erklärte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi, der gesamte Stabilitätspakt sei "dumm", da "starre Regeln in der Politik schon immer kontraproduktiv" gewesen seien. Richtig an Prodis Hinweis ist, dass die 3%-Marke willkürlich ist. Allerdings waren es gerade die Regierungen in Paris und Bonn gewesen, die dieses Kriterium eingeführt und verteidigt hatten. Hinter dem willkürlichen Maastricht- Kriterium und der Verschuldungspraxis in der EU verbergen sich jedoch drei andere, tatsächlich ernste Krisenerscheinungen:
Wichtiger als das Jahresdefizit sind die addierten öffentlichen Schulden und deren Entwicklung. Hier wurde — ebenfalls im Maastricht-Vertrag — vereinbart, dass diese Schulden nicht höher als 60% des BIP liegen dürfen. Die BRD überschreitet in 2002 erstmals diese Marke. In Italien und Griechenland machen diese Schulden deutlich mehr als das BIP aus (110 bzw. 125%). Der kontinuierliche Anstieg der Staatsschulden als BIP- Anteil ist jedoch eine gefährliche internationale Tendenz: In den USA liegt dieser Anteil bei rund 60%, in der Eurozone 69%; in Japan wurden 132% erreicht. In allen drei imperialistischen Zentren steigt dieser Anteil von Jahr zu Jahr.
Die neuen Schulden werden nicht etwa für neue Investitionen im produktiven Sektor aufgenommen, die sich schließlich einmal auszahlen und die Schulden rechtfertigen könnten. Sie entstehen vielmehr durch Steuergeschenke an Konzerne, Banken und Bestverdiener bei weiterem Sozialabbau und Senkung der Massennachfrage; und bei gleichzeitigem Anstieg der Rüstungsausgaben (letzteres gilt vor allem für die USA und Frankreich). Diese Kombination verschärft jedoch die Krisentendenzen und reduziert die Möglichkeiten für staatliche Eingriffe weiter.
Diese gefährlichen Tendenzen paaren sich mit immer deutlicheren Anzeichen für eine neue internationale Rezession, die unter den gegebenen Bedingungen in eine Weltwirtschaftskrise überzugehen droht.
Apropos Europäische Union. Das einzige wirkliche Steuerungselement, das dieser Zusammenschluss formell souveräner Nationalstaaten hat und das die Stabilität der Einheitswährung Euro gewährleisten könnte, ist eine in den Grundzügen gemeinsame Finanzpolitik, hergestellt über die Europäische Zentralbank und die Einhaltung der Maastrichtkriterien. Bereits die ersten Krisentendenzen zeigen, wie fragil diese Konstruktion ist — und damit wie brüchig die EU und die Einheitswährung selbst sind. In Abwandlung eines Satzes von Ludwig XIV., des Sonnenkönigs, erklären die EU-Regierungschefs schlicht: "L‘état c‘est moi — der Etat bin ich selbst."

Winfried Wolf


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