SoZ Sozialistische Zeitung |
Der früher belebte Checkpoint zwischen Bethlehem und Jerusalem, der vor der Abriegelung durch Tausende von
Palästinensern bevölkert war, die nach Jerusalem zur Arbeit oder zum Einkaufen fuhren, ist bei unserer Ankunft wie ausgestorben. Zwei Panzer
dominieren das Bild. Von den palästinensischen Häusern und Werkstätten auf palästinensischer Seite sind nur noch die Trümmer
sichtbar. Die Bulldozer der israelischen Armee haben alles in der Nähe des Checkpoint niedergewalzt. Der palästinensische Taxifahrer, der uns auf
der leeren, vierspurigen Straße nach Bethlehem entgegenkommt und unser Gepäck aufladen will, wird gerade von einer militärischen
Patrouille gestoppt. Unsere internationalen Pässe ermöglichen ihm nach einem Disput die Abfahrt.
Im Zentrum von Bethlehem und Beit Jalla erinnert kaum mehr etwas an die Besetzungaktionen
im Frühling. Nur die von den Panzern niedergefahrenen Straßenschranken und Verkehrsampeln sind Spuren der über einen Monat dauernden
Besetzung und Ausgangssperre. Seit August hat sich die israelische Armee aus dem unmittelbaren Stadtgebiet zurückgezogen und konzentriert sich auf die
Abriegelung der palästinensischen Wohngebiete an den Grenzen der beiden Städte. Die Menschen haben in Windeseile ihre Häuser repariert.
Die Gemeinde hat sogar die umgefahrenen Alleebäume wieder neugepflanzt. Die Geschäfte sind alle geöffnet, das Internetcafe ist von jungen
Frauen belebt. Sogar die letzten palästinensischen Polizisten in Uniform regeln den Verkehr.
Am Abend werden wir das erste Mal damit konfrontiert, dass das friedliche Bild trügt. Um die Wohnung surrt es wie bei einem
Modellfliegerwettberwerb. Unsere Gastgeberin und ihr Sohn machen Sprüche, ob sie denn noch nicht genügend gute Aufnahmen von ihnen
hätten. Wir verstehen die Szene nicht. Sie klären uns auf: das Surren kommt von den unbemannten Überwachungsdronen der israelischen
Armee, die über den Dächern die Bewohner der palästinensischen Städte überwachen. Das Surren begleitet uns fast jeden Abend.
Auf unserem Weg zur NGO Badil, einer Organisation für die Rechte der
palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr, werden wir vom Wächter der palästinensischen Gefangenenorganisation auf einen
Kaffee eingeladen. Der hagere Mann kommt aus dem Flüchtlingslager Deheisha in der Nähe von Bethlehem. Seit zwei Jahren kann er nicht mehr
nach Israel zur Arbeit. Seit der Initifada macht die israelische Polizei auch verstärkt Jagd nach schwarzarbeitenden Palästinensern in Israel.
Über 10000 wurden in den letzten zwei Jahren verhaftet und die Angehörigen müssen für ihre Freilassung bis zu 5000 Shekel bezahlen
(gut zwei Monatslöhne). Für die meisten unbezahlbar. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt mit 2 Dollar am Tag und ist von den
Nahrungsmittelverteilungen der internationalen Hilfswerke abhängig geworden. Der Wächter klagt, dass er das Schulgeld seiner zwei Kinder nicht
mehr bezahlen kann.
Wir vereinbaren einen Termin für den nächsten Tag, um mit einem englisch
sprechenden Vertreter der Gefangenenorganisation über ihre Arbeit zu sprechen. Basim S. empfängt uns mit einem Tee. Er arbeitet als
Fernsehjournalist und hilft als Freiwilliger bei der NGO aus. Die Gefangenenorganisation Palestinian Prisoner Society betreut die 9000 Gefangenen in
israelischen Gefängnissen. Die Mehrheit sind Minderjährige.
Nach den ersten Verhören im Internierungslager in der Nähe von Ramallah,
werden sie in Gefängnisse und Lager innerhalb der grünen Grenzen eingesperrt. Die Verwandten aus den besetzten Gebieten haben deshalb kaum
die Möglichkeit, ihre Angehörigen in den Gefängnissen zu besuchen. Die meisten Gefangenen haben nie einen Haftrichter gesehen und die
Gefangenhilfsorganisation ist auf die Unterstützung von Organisationen in Israel angewiesen, die die gesammelte Nahrung, Kleider und Decken in den
Gefängnissen und Lagern verteilen.
Die israelische Armee hat die "Administrativhaft" wieder eingeführt. Sie
erlaubt die Inhaftierung ohne konkreten Verdachtsmomente für sechs Monate. Die Administrativhaft kann ohne Richter und konkrete Verdachtsmomente
sechsmal um ein halbes Jahr verlängert werden. Die Gefangenhilfsorganisation schätzt, dass 90% der Gefangenen Folterungen ausgesetzt sind.
Basim drückt uns ihre englische Dokumentation in die Hand, in denen 40 namentliche Fälle von Ermordungen nach der Verhaftung aufgelistet sind.
35000 Personen wurden in den letzten zwei Jahren verhaftet. In allen Familien gibt es deshalb Angehörige, die kurze oder längere Zeit von den
Massenverhaftungen betroffen sind. Die Angst davor ist zur Alltagsrealität geworden.
Die Kinder wollen mit uns immer und immer Krieg spielen. In ihrem Alltag ist er auch in Bethlehem allgegenwärtig. Als die israelischen
Kampfflugzeuge diesen Frühling die Kaserne der palästinensischen Polizei zerstörte, lagen die beiden Städte in einer weißen
Staubwolke. Wenn die Apachehelikopter und die Kampflugzeuge über der Stadt kreisen und einen Angriff signalisieren, dann öffnen die
palästinensischen Bewohner ihre Fenster und Türen, damit nicht die Scheiben in Bruch gehen.
Die Kinder gehen wieder in die Schule, die früher begonnen hat, weil die Lehrer wieder
mit Ausgangssperren rechnen. Die Jugendlichen sollen trotzdem ihr Schuljahr ganz abschließen können. Gestern wurde in Beit Jalla wieder ein
angeblich Verdächtiger von der israelischen Armee auf offener Straße liquidiert. Die Nachricht machte schnell die Runde. Die Bedrohung ist nicht
nur in den Spielen der Kinder allgegenwärtig.
Im israelischen Radio und Fernsehen, das auch in den besetzten Gebieten empfangen werden
kann, wird offen und regelmäßig über die Notwendigkeit des "Transfers" der palästinensischen Bevölkerung aus den
besetzten Gebieten debattiert. Nicht nur Rechte in der Regierung Peres/Sharon verlangen die Vertreibung der Palästinenser aus den besetzten Gebieten
nach Jordanien, auch der neue israelische Generalstabschef hat im September die Vollendung des Unabhängigkeitskriegs von 1948 im Falle eines
Irakkriegs angekündigt. Die Gefahr der Vertreibung liegt bei unserem Abschied wie Blei auf dem so friedlich erscheinenden Bethlehem.
Urs Diethelm