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Endlich hat die PT (Arbeiterpartei) es geschafft: Nach einem grandiosen Wahlsieg ist sie führende Partei in der
brasilianischen Bundesregierung. Nach drei vergeblichen Anläufen 1989 gegen de Melo, 1994 und 1998 gegen Cardoso ist Luiz
Inácio Lula da Silva der neue Präsident und Hoffnungsträger Brasiliens. Der frühere Gewerkschaftsführer wurde in der
Stichwahl am 27.10. von über 52 Millionen Brasilianer (über 61%) gewählt. Noch nie hat eine linke Partei so viele Stimmen erzielt und dies
in einem Land, wo die Kluft zwischen Arm und Reich die größte der Welt ist. Es handelt sich um einen historischen Einschnitt mit internationalen
Auswirkungen.
Die Freude über den Sieg Lulas und die enorme Stärkung der PT-Fraktion wird
allerdings deutlich getrübt durch den Verlust der Landesregierungen in Rio Grande do Sul, aber auch in Amapa. Bereits in der ersten Runde konnte
Piauí gewonnen werden. Nur knapp verlor die PT in Ceari und im Bundesdistrikt Brasília. Dennoch: Die Mehrheit will eine einschneidende
politische und gesellschaftliche Wende. Sie glaubt nicht mehr an die Versprechen der Rechten, die enormen Ressourcen und das wirtschaftlich Potenzial zum
Wohl aller anstatt nur zum Vorteil weniger Privilegierter einzusetzen.
Der Politisierungsgrad in Brasilien ist hoch. Zahlreiche soziale Bewegungen gibt es im ganzen
Land. Sie reichen von Gewerkschaften wie der CUT, die gegen Überausbeutung, mangelhafte soziale Sicherungen und nur geringe Rechte kämpfen;
über die Bewegung der Landlosen (MST), die mit Besetzungsaktionen und Ansiedlungsprojekten große Sympathien in der Bevölkerung, aber
den Hass der Großgrundbesitzer auf sich gezogen hat; die Bewegungen der Kleinbauern, der Obdachlosen, der Arbeitslosen, der Schwarzen und Frauen
gegen Diskriminierung bis hin zur Bewegung gegen die amerikanische Freihandelszone. Diese führte unlängst noch ein Referendum durch, in dem
sich 10 Millionen Brasilianer gegen diese Form des neoliberalen Kolonialismus ausgesprochen hatten.
Die PT entstand am Ende der 70er Jahre die Militärdiktatur befand sich schon im Niedergang und wurde in dem obigen Kontext
allmählich immer stärker. Es war ein harter und steiniger Weg, sich als linke Partei zu entwickeln in einer Zeit, in der der Sozialismus weltweit
diskreditiert wurde und neoliberale Regierungen sich als einzige politische Alternative darstellten. Mächtige Gruppen, welche die Wirtschaft, die Medien
und den gesamten Staatsapparat kontrollierten, versuchten mit allen Mitteln, die PT in Misskredit zu bringen.
Trotzdem erzielte die PT Erfolg über Erfolg. Sie gilt als einzige Programmpartei
Brasiliens und stammt aus der Selbstorganisation der Arbeiterinnen und Arbeiter. Deshalb hat die Partei auch stets dafür gesorgt, ein Gleichgewicht
zwischen der Teilnahme an Regierungen und den sozialen Bewegungen zu schaffen.
Man glaubte daran, dass eine sozialistische Partei gleichzeitig den Staat als
Unterdrückungsapparat abschaffen und die Organisation der Zivilgesellschaft fördern müsse. Seit die PT zunächst auf kommunaler und
schließlich auf der Ebene der Bundesländer die ersten Wahlen gewann und mit der Umsetzung ihres Programms begann, wurde sie in den letzten 20
Jahren weltweit als linke Kraft bekannt, die konkrete Alternativen entwickelte. Andererseits musste sie zwischenzeitlich auch Rückschläge
hinnehmen wie den Verlust der Präfektur in der Megastadt São Paulo oder der Landesregierungen von Espírito Santo und dem Bundesdistrikt
Brasília, weil sie den immensen Herausforderungen nicht gewachsen war oder schwere politische Fehler begangen wurden.
Hinter dem Sieg der PT und der brasilianischen Linken insgesamt liegt ein sehr schwieriger
Wahlkampf. Die Gegner des bürgerlichen Lagers schickten zunächst verschiedene Kandidaten ins Rennen. Es gelang ihnen diesmal nicht, sich
bereits im ersten Wahlgang auf eine Einheitskandidatur zu verständigen. Die altbekannten Kritikpunkte an Lula, "fehlende
Verwaltungserfahrung", "keine Hochschulausbildung", seine Identifizierung als Führer einer Radikalisierung in Brasilien, verfehlten
diesmal ihre Wirkung.
Im aktuellen Kontext Brasiliens, wo die Unzufriedenheit gleichzeitig mit Verarmung und Verschuldung zunahm, und dies unter einem Intellektuellen und
Akademiker wie dem Präsidenten Cardoso, fanden die Eliten keine "Wunderalternative" mehr, um einem ihrer Kandidaten
Glaubwürdigkeit und Attraktivität zu verleihen. Es wurde versucht, eine Regierung Lula als Abstieg in wirtschaftliches und gesellschaftliches Chaos
an die Wand zu malen.
Vertreter des IWF und mächtige Geldanleger wie George Soros stießen
Drohungen aus und machten Lula für die anhaltende Entwertung der Landeswährung Real verantwortlich. Brasilien unter Lula werde in eine noch
schlimmere Krise als das Nachbarland Argentinien abrutschen. Andererseits kamen auch die Gegenkandidaten nicht umhin, die desaströsen Folgen des
neoliberalen Kurses unter Cardoso zu kritisieren.
Doch die Manöver der Rechten und der internationalen Finanzwelt waren diesmal
vergeblich. Lula wäre fast schon im ersten Wahlgang am 6.10. gewählt worden. In der Stichwahl trat der Gesundheitsminister José Serra als
Vertreter der Regierung Cardoso und letzte und vergebliche Hoffnung der Eliten gegen Lula an. Doch in dem Maße, wie Lulas Sieg nicht
mehr aufzuhalten war, verstärkte sich eine bereits vor den Wahlen zu beobachtende Tendenz: Teile der Eliten versuchten eine Annäherung. Lula
habe sich geändert und die PT werde überhaupt nichts ändern. Nicht nur, weil die Marktmechanismen es nicht erlaubten, sondern auch, weil
er und die PT sich inzwischen angepasst hätten. Eigene Äußerungen Lulas, die weltweite Beachtung fanden, scheinen ihre Ansicht zu
bestätigen.
In der Tat hat sich in der PT vieles verändert. Verschiedene innerparteiliche
Strömungen, sind so verschieden geworden, dass es den Anschein hat, als gäbe es keine gemeinsame PT mehr. Strömungen, die auf den
Führungsebenen die stärkste Position innehaben, treten strategisch für ein "nationales" Projekt für die
"gesamte" Bevölkerung ein. Deshalb ist die PT nicht mehr so einfach Vertreterin der Arbeitenden und der unteren Volksklassen, sondern sie
sucht Alternativen, um "ein Brasilien für alle" zu schaffen.
Nach diesem Projekt scheint es so, als würde alles unter einen Hut passen, auch wenn die
Interessen sehr widersprüchlich sind. Auf der einen Seite soll z.B. das Land weiter die Auslandschulden bezahlen und den Spekulanten die Angst nehmen,
auf der anderen Seite soll mehr in Sozialprogramme investiert und mehr soziale Gerechtigkeit erreicht werden.
Mit den Zielen der PT in den 80er Jahren hat das nur noch wenig zu tun. Der PT-Mehrheit ging
es darum, um jeden Preis an die Macht zu kommen und von da aus die politische Hegemonie zu sichern. Dafür ging man sogar Bündnisse mit
rechten Parteien ein, wie der Liberalen Partei (PL), führte einen angepassten Diskurs und verzichtete auf traditionelle Programmbestandteile.
Mit dieser Konzeption wurde die PT sogar von großen Unternehmern unterstützt,
und einer von ihnen ist der Chef eines Textilkonzerns und neue Vizepräsident José Alencar. Bedeutende Kreise haben auch verstanden, dass die
neoliberale Politik ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen schwer getroffen hat. Das Problem ist nun, dass zentrale Positionen, die Lula und bedeutende Teile
der PT heutzutage vertreten, den Eliten keinen Schrecken mehr einjagen. Ihre Unsicherheit besteht allerdings darin, ob diese Kräfte in der PT dem
Erwartungsdruck aus Bevölkerung und einer weiteren Politisierung nach links werden standhalten können.
Ein anderer Teil der PT übt Widerstand gegenüber diese "sozialdemokratische" Richtung, die sich in der PT seit der Niederlage von
1989 allmählich durchsetzte. Sozialistische Strömungen, die besonders im Süden Brasiliens, in Rio Grande do Sul, stark sind, kritisieren
sowohl die Bündnisse mit Liberalen, als auch das Abrücken der PT von der Revolutionsperspektive.
Obwohl diese linken Strömungen nicht die Mehrheit in der PT haben, sind sie
kohärent mit der Geschichte der Partei, den Kongressentschließungen und haben starken Einfluss auf das Programm der PT. Für sie sind die
Wahlen nur ein Mittel des Machtkampfs und sie treten dafür ein, die politische Hegemonie durch Klassenkampf innerhalb der Gesellschaft aufzubauen.
Mit Rücksicht auf die eigenen Erfahrungen der PT beweisen sie, dass eine linke
Regierung überhaupt kein Machtinstrument ist, wenn sie nicht die Bevölkerung mobilisiert und dadurch legitimiert ist, Veränderungen zum
Vorteil der Mehrheit durchzusetzen. Wahlerfolge der PT, die nicht als Folge einer soziale Bewegung erreicht wurden, blieben isoliert und sie übernahmen
nichts anderes als die Rolle von Verwaltern eines krisenhaften Kapitalismus.
Es wird mit Sicherheit zu schweren Konflikten innerhalb der PT führen, wenn die
"Anpassungspositionen", die Lula während des Wahlkampfs vertreten hat, tatsächlich umgesetzt werden. Andererseits ist auch zu
beachten, dass die PT eigentlich mit dem Wahlerfolg nicht an die "Macht" gekommen ist, sondern zunächst nur an die Regierung, die sehr
komplex ist und nur einen Teil der Macht bedeutet. Gegen diese Regierung werden sich die bürgerliche Parlamentsmehrheit, große Teile der
Rechtsprechung, die "wirtschaftliche Macht", die mächtigen Medienkonzerne und im Zweifel das Militär einsetzen.
Auch im Volk hat die PT noch nicht die Mehrheit und die politische Hegemonie. Es waren
durchschnittlich immer "nur" 30%, die PT wählten und bereit waren, das Originalprogramm der PT zu unterstützen. Zu kurzfristigen
revolutionären Veränderungen kann es unter diesen Bedingungen kaum kommen, selbst wenn die PT es wollte.
Die neoliberalen Regierungen haben die Interventionsfähigkeit des Staates enorm
reduziert und die Mobilisierungskraft der Volksorganisationen hat in den 90er Jahren abgenommen. Bedeutende Fortschritte wie die Landreform, die Umkehrung
der Prioritäten, die Wiederverstaatlichung wichtiger Unternehmen und ein Zahlungsstopp bei den längst mehrfach zurückgezahlten
Auslandschulden können nur durch eine Mobilisierung des Volkes durchgesetzt werden.
Selbstverständlich werden soziale Bewegungen es bald besser haben mit einer Regierung
der PT. Aber ein Problem, das sich bereits aus den Erfahrungen der Partei in Landesregierungen ergab, ist das Aufsaugen von Führungskräften aus
den sozialen Bewegungen, die nicht mehr an der Mobilisierung teilnehmen, sondern sich um Stellen im Staatsapparat kümmern. Das hat auch zur
Demobilisierung innerhalb der Gesellschaft beigetragen.
Auf der anderen Seite hat das Auswirkungen auf eine neue Art von Opposition
gegenüber der Regierung. Durch die Unzufriedenheit mit der Regierungsbürokratie haben Teile der PT die Bevölkerung gegen die PT-
Regierungen mobilisiert. Auch die rechten Parteien haben Einfluss auf die Basis der Bewegungen gewonnen. Darin zeigt sich die Widersprüchlichkeit,
gleichzeitig Bewegung und Regierung zu sein.
Der Erfolg einer Regierung Lula hängt letztlich davon ab, ob sich unter ihr die
Volksmacht entwickeln kann, ob sie die Impulse der gesellschaftlichen Bewegungen aufgreift, damit die Kräfteverhältnisse weiter nach links
verschieben kann, um ein "Brasilien für alle" durchzusetzen, oder ob sie enttäuscht, gegensteuert, demoralisiert und damit ihre eigene
Niederlage vorbereitet.
In der Hochburg der Parteilinken, Rio Grande do Sul (mit weltweit beispielhaften Formen erweiterter Demokratie, v.a. dem Beteiligungshaushalt), hat die PT
die Gouverneurswahlen verloren. Der Kandidat der bürgerlichen PMDB, Germano Rigotto, konnte sich in der Stichwahl gegen Tarso Genro von der PT in
einem schwierigen Lagerwahlkampf mit 300000 Stimmen Vorsprung (etwa 52% gegen 47%) durchsetzen.
1998 hatte die PT mit Olívio Dutra nach einem harten Wahlkampf sehr knapp
gewonnen. Gestützt auf eine nur brüchige Linkskoalition im Landesparlament gelang es ihr dennoch, die beste Regierung in der Geschichte des
Landes aufzustellen. Bei der Kandidatenaufstellung durch ein Mitgliederreferendum im März dieses Jahres konnte sich Tarso Genro, der dem
gemäßigten Parteiflügel zugerechnet wird, überraschend und knapp gegen Olívio Dutra durchsetzen. Alarmierend: Selbst in der
PT-Hochburg, der Landeshauptstadt Porto Alegre, erzielte Tarso Genro nur einen Vorsprung von 0,4% vor Rigotto.
Bei aller Freude über den Wahlsieg Lulas ist der Verlust der PT-Landesregierung im
brasilianischen Süden bitter. Es gibt eine Hoffnung weniger, auch im Brasilien Lulas ein linkes Gegengewicht zu erhalten, obwohl die Landtagsfraktion
der PT deutlich gestärkt und "nach links" ausgebaut werden konnte.
Das jetzige Ergebnis in Rio Grande do Sul zeigt, dass es nicht genügt, gut zu regieren.
Höheres und dauerhaftes politisches Bewusstsein hängt auch von anderen Faktoren ab. Wahlergebnisse sind offenbar auch nicht die besten
Parameter zur Bewertung der politischen Leistung einer Partei. Der Stellenwert von Regierungserfahrungen und Wahlkämpfen als Mittel des Aufbaus
politischer Hegemonie muss auch in der PT erneut überprüft werden, gerade jetzt, wo sie ihre nominell größten Erfolge in Brasilien
erzielte.
Antonio Inácio Andrioli / Hermann Dierkes