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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 17

Das Argentinische Sozialforum

Ein Schritt zu mehr Einheit

Vom 22. bis 24.August fand in Buenos Aires das Argentinische Sozialforum statt. Etwa 20000 Menschen nahmen daran teil — eine beeindruckende Zahl, wenn man bedenkt, dass unter der Militärdiktatur in den 70er Jahren 30000 Menschen "verschwunden" sind und eine ganze Generation von politisch Aktiven enthauptet wurde.
Die breite Beteiligung war nicht vor vornherein gesichert; die argentinische Linke ist sehr zersplittert und es gibt viel Sektierertum. In Buenos Aires aber traten unterschiedliche politische und ideologische Standpunkte nebeneinander auf, vor allem faszinierte die Breite der sozialen Bewegungen: neben Tausenden von Piqueteros (Arbeitslose, die Straßenblockaden errichten), standen Vertreter der Mittelklassen, Jugendliche in großer Zahl, die Gewerkschaft CTA, Attac Argentinien und das fortschrittliche Wissenschaftszentrum Clacso (Centro latinoamericano de sciencias sociales); letzteres hatte eine wesentliche Rolle für das Zustandekommen des Forums gespielt.
Es gab einen objektiven Druck, das Forum durchzuführen. Argentinien steht vor wesentlichen sozialen, politischen und internationalen Weichenstellungen. Die Wirtschaftskrise lastet auf den Erwerbslosen wie auf den Mittelklassen und den Arbeitern.
Demgegenüber steht eine enorme soziale Kreativität: die Tauschwirtschaft hat sich massiv ausgebreitet, es gibt vier parallele Währungen, mehrere Fabriken wurden von den Belegschaften besetzt, die die Produktion wieder in Gang gesetzt haben und die Produkte direkt an die Konsumenten verkaufen. In diesen Fabriken begnügen sich die Arbeiter nicht damit, Genossenschaften zu bilden, wiewohl sich diese Eigentumsform ausbreitet, weil viele Unternehmer den Löffel abgeben; sie stellen diesen Schritt vielmehr in den Rahmen der gegenwärtigen sozialen Kämpfe und vertiefen damit die antikapitalistische Mobilisierung. Auf dem Forum hat sich eine nationale Koordination der besetzten Fabriken gebildet, die von den Belegschaften wieder in Gang gesetzt wurden.
Es gab auch politische Termine: in wenigen Monaten sollen in Argentinien Präsidentschaftswahlen stattfinden. Auf der Linken ist die Lage kompliziert: Elisa Carrio, die Spitzenkandidatin der Allianz für eine Republik der Gleichen (ARI, ein Mitte-Links-Bündnis), liegt in den Umfragen mit 25% der Stimmen vorn; links von ihr kann der frühere Sprecher der trotzkistischen Strömung um Nahuel Moreno, Zamora, auf 8—9% zählen. Das Sozialforum positionierte sich in dieser Frage nicht, gleichwohl gab es hitzige Debatten, denn den Kandidaten sollten die Forderungen der sozialen Bewegungen mit auf den Weg gegeben werden.
Auch über einen möglichen Wahlsieg von Lula wurde diskutiert. Alle sahen darin die Chance für einen radikalen Wandel im gesamten Südteil des lateinamerikanischen Kontinents, einschließlich Uruguays, wo die soziale Bewegung ebenfalls zunimmt, aber auch Boliviens, wo die radikale Linke wächst; deren Vertreter, der Bauernführer Evo Morález, war der Held des Argentinischen Sozialforums.
Das erste Signal für eine politische Wende in der Region wäre die Kündigung des Abkommens über die Panamerikanische Freihandelszone ALCA. Im März 2003 soll eine Konferenz der Staats- und Regierungschefs in Buenos Aires stattfinden; sie wird Anziehungspunkt für eine kontinentale Mobilisierung sein.
Die soziale Bewegung ist gespalten. Die Erwerbslosen waren im Dezember als erste auf die Straße gegangen, gefolgt von den Mittelklassen, die gegen die Einfrierung ihrer Bankguthaben protestierten. Die Gewerkschaften waren damals kaum dabei; die abhängig Beschäftigten erhielten weiter ihren Lohn und die Gewerkschaftsführungen interessierten sich wenig für die Anliegen der anderen Bevölkerungsschichten. Die Mehrheitsgewerkschaft CGT ist völlig bürokratisiert. Aber auch die CTA, obwohl kämpferischer, stand zunächst abseits, u.a. weil sie auf den "Volksversammlungen", die nun in fast jedem Stadtteil emporschossen, nicht mehr im Mittelpunkt stand.
Die populistischen Maßnahmen der neuen Regierung, die in der Tradition des Peronismus steht, haben die Sache nicht einfacher gemacht. Die Piqueteros haben sich gespalten, als die Regierung eine Art Mindestsicherung für die Erwerbslosen einführte. Politisch gibt es eine Spaltung zwischen der Führung der CTA, die ein Wahlbündnis zwischen Elisa Carrio und Zamora anstrebt, und denjenigen, die eine getrennte Kandidatur der radikalen Linken befürworten.
Die Bewegung scheint dennoch stark genug, die meisten dieser Spaltungen zu überwinden. Mit Ausnahme der sehr sektiererischen Partido Obrero (die stärkste Gruppe der radikalen Linken) waren alle anderen am Sozialforum beteiligt. Am letzten Tag fand eine Versammlung der Aktivisten-Netzwerke statt, auf der über die Notwendigkeit der Einheit diskutiert wurde; sie verständigte sich darauf, künftig gemeinsame Aktionen zu entwickeln.

Nach einem Interview mit Christophe Aguiton für die französische Wochenzeitung Rouge vom 12.9.2002.




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