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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 22

Konferenz der FEG-Marburg

Auf dem Weg zu einem neuen Euro-Kapitalismus?

Sie waren zusammengekommen, um eine Zwischenbilanz der sozioökonomischen und politischen Strukturveränderungen des europäischen Integrationsprozesses im Kontext der neuen Weltordnung zu ziehen. Und was sich da auf Einladung der an der Uni Marburg unter Federführung von Frank Deppe angesiedelten Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaften (FEG) traf, das lässt sich vielleicht mit dem Begriff der akademischen Linken am treffendsten bezeichnen. Entsprechend war man am Wochenende vom 11./12.10. auf der Suche auch nach Ansatzpunkten "für progressive analytische und politische Interventionen", wie es im Einladungstext stand.
Will man das Ergebnis auf einen Nenner bringen, so lässt sich sagen, dass die versammelten Forscher, Denker und Aktivisten die Frage, ob wir auf dem Weg zu einem neuen europäischen Kapitalismus sind, eher negativ beantworten. Viel war in Marburg die Rede von einem neuen finanzgetriebenen Akkumulationsregime und auf je eigene Weise brachten die Referenten Material bei, wie dieses funktioniert.
John Grahl von der Universität Nord-London zeigte auf, wie es nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems Anfang der 70er Jahre zum Aufstieg internationaler Kreditmärkte kam und wie diese die makroökonomische Politik auch in Europa nachhaltig veränderten. Im Aufstieg dieser korporierten Finanzgruppen sieht Grahl eine historisch neue Stufe der Sozialisierung der kapitalistischen Produktionsweise, die jedoch die alten Unternehmenskulturen und unmittelbaren Arbeitsbeziehungen noch nicht aufgelöst hat. Die europäische Antwort auf diese Herausforderung des hegemonialen US-Kapitalismus sieht er in einem pragmatischen Versuch, die Anpassungskosten zu minimieren. Von einer spezifisch "europäischen" Antwort, von einer europäischen Re-Regulierung könne jedoch nicht die Rede sein.
Eine solche Re-Regulierung von links forderte der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Jörg Huffschmid. Auch er grenzte den Einfluss der neuen Finanzmärkte auf die hegemoniale Oberfläche ein, sieht die strukturellen Veränderungen vorwiegend kurzfristig angelegt und als Ausfluss einer grundlegenden Veränderung verteilungspolitischer Parameter. Die vor allem über den Finanzsektor ablaufende europäische Integration verbleibt für Huffschmid im nationalen Rahmen, wie er am Beispiel des Bankensektors ausführte. Die dortigen Konzentrationsprozesse seien zwar immens, aber vorwiegend national — der Einfluss des auswärtigen Kapitals sei nicht gewachsen.
Hans-Jürgen Bieling (Universität Marburg) und Christoph Scherrer (Universität Kassel) beschrieben die Veränderungen der politischen Regulationsformen der letzten 30 Jahre. Scherer zeigte am Beispiel der USA auf, wie Veränderungen in der herrschenden Klassenzusammensetzung auf die politische Klasse umschlugen und zur neoliberalen Wende der 70er und 80er Jahre wurden. Bieling beschrieb diesen Prozess für die EU und kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der institutionelle Druck zwar stark und nachhaltig wirke, aber noch keine spezifisch europäische Regulationsform hervorgebracht habe.
Auch der Kanadier Sam Gindin von der Universität Toronto betonte, dass Europa die US-amerikanische Strategie nicht wirklich in Frage stelle, sie bestenfalls nur verändere. Die These vom ökonomischen Niedergang der USA versuchte er dabei mit ausführlichen Beispielen zu widerlegen.
Die an der Universität Budapest lehrende Dorothee Bohle rundete das analytische Bild ab, in dem sie aufzeigte, wie die Osterweiterung der EU dazu führe, dass die Herausbildung eines einheitlichen ökonomischen Raums erschwert werde. Dem fehlgeschlagenen Marktradikalismus im Osten stehe ein zwar vom transnationalen europäischen Kapital angetriebener, aber noch immer überwiegend eingegrenzter Neoliberalismus im Westen gegenüber.
Die politische Zuspitzung brachten dann Leo Panitch (Universität Toronto) und Ulrich Brand (Universität Kassel) in die Runde. Panitch, Herausgeber des internationalen linken Jahrbuchs Socialist Register provozierte die umfangreich geführte Methodendiskussion, indem er dazu aufrief, weniger von Hegemonie und mehr von Imperialismus zu sprechen ("Kautsky lesen!"). Am Beispiel der NAFTA zeigte er auf, dass die Penetration der Weltökonomie durch die US-Ökonomie ein durchaus gegenseitiger Prozess ist, den auch die Penetrierten bzw. ein nennenswerter Teil derselben ökonomisch wollen. Natürlich gebe es Widersprüche und Auseinandersetzungen, aber von einer wirklichen Opposition der EU gegen die USA könne keine Rede sein, denn der globalisierte Neoliberalismus sei ein viel zu integriertes System. (Vgl. dazu das Interview mit Panitch auf Seite 5 der vorliegenden Ausgabe.)
Die Vermischung nationaler Bourgeoisien mit dem transnationalen Kapital unter Bedingungen der ökonomischen Strukturkrise lasse, so Panitch, die bislang dominante Strategie der nationalen Arbeiterbewegungen, sich mit den eigenen Bourgeoisien zu verbünden, zunehmend obsolet werden. Seine These, dass auf diesem Wege Räume für eine neue radikaldemokratisch-sozialistische Linke geöffnet werden, traf auf ebenso lebhafte Reaktionen wie Brands These, dass wir es bei den neuesten sozialen Bewegungen, bei den Globalisierungskritikern mit neuen, spezifisch "postfordistischen Protestbewegungen" zu tun hätten.
Spätestens hier wurde deutlich, dass die anwesenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eben auch engagierte Linke sind. Doch die (an sich durchaus produktive) Fülle der Referate ließ eine über interessante Anfänge hinaus gehende Debatte leider nicht mehr zu.

Christoph Jünke

Kontakt und Infos: Feg@mailer.uni-marburg.de.


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