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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 24

André Bretons libertärer Marxismus

Doppelter Stein der Weisen

Breton kann nach wie vor nicht vereinnahmt werden. Sein notwendig unvollendetes großes Vorhaben, die alchimistische Verschmelzung von verrückter Liebe, Poesie des Wunderbaren und sozialer Revolution ist nicht integrierbar in die spießbürgerliche Welt. Er bleibt in unversöhnlicher Opposition zur bestehenden Gesellschaft, unbequem wie ein schöner Knochen, der quer in den kapitalistischen Schlund gesteckt wurde — vergleichbar den Knochen der Eingeborenen der Salomonen, voller Inschriften und Bilder.
Das revolutionäre Bestreben liegt dem Surrealismus zu Grunde, und nicht zufällig heißt der erste Text der Gruppe Die Revolution zuerst und immer (1925). Im selben Jahr führt Breton der Wunsch, mit der westlichen bürgerlichen Zivilisation zu brechen dazu, sich den Ideen der Oktoberrevolution anzunähern, wie seine Zusammenfassung von Trotzkis Über Lenin bezeugt. Als er 1927 der Kommunistischen Partei Frankreichs beitritt, behält er doch, wie er in der Broschüre Am großen Tag erklärt, sein "Recht der Kritik".
Das Zweite Manifest des Surrealismus (1930) zieht alle Konsequenzen daraus und behauptet "unsere völlige, vorbehaltlose Übereinstimmung mit den Grundsätzen des historischen Materialismus". Indem er zugleich den Unterschied und sogar den Gegensatz zwischen dem "primitiven" und dem "modernen" Materialismus betont, auf den sich Friedrich Engels beruft, besteht André Breton darauf, "dass der Surrealismus aufgrund der Affinitäten, die ich aufgezeigt habe, sich dem marxistischen Denken, und einzig ihm, als unauflöslich verbunden betrachtet".

"Gothischer" Marxismus

Es versteht sich von selbst, dass sein Marxismus nicht mit den offiziellen Vulgarisierungen der Komintern übereinstimmt. Man könnte ihn als einen "gothischen" Marxismus definieren, d.h. als einen für das Wunderbare, für das Moment des Finsteren in der Revolte, für die Erhellung, die, einem Blitz gleich, den Himmel der revolutionären Aktion aufreißt, sensiblen Marxismus.
In anderen Worten: Es handelt sich um eine von Arthur Rimbaud, dem Comte de Lautréamont und dem englischen Schauerroman inspirierte Rezeption der marxistischen Theorie — die aber auch nicht nur für einen Augenblick die gebieterische Notwendigkeit vergisst, die bürgerliche Ordnung zu bekämpfen. Es mag paradox wirken, Das Kapital und "Le Château d‘Otrente", den Ursprung der Familie und "Eine Zeit in der Hölle", Staat und Revolution und Melmoth the Wanderer wie kommunizierende Röhren miteinander zu verbinden. Doch dank dieses einzigartigen Verfahrens entsteht in seiner beunruhigenden Originalität der Marxismus André Bretons.
Er gehört jedenfalls wie der von José Carlos Mariátegui, Walter Benjamin, Ernst Bloch und Herbert Marcuse zu jener unterirdischen Strömung, die unter den gewaltigen Dämmen der Orthodoxie hindurch das 20.Jahrhundert konstituieren: der des romantischen Marxismus.
So möchte ich eine Denkweise nennen, die von bestimmten vorkapitalistischen kulturellen Erscheinungen fasziniert ist und die kalte und abstrakte Rationalität der modernen Industriegesellschaft ablehnt — die aber diese Nostalgie in kämpferische Energie zur revolutionären Veränderung der Gegenwart transformiert.
Alle romantischen Marxisten lehnen sich gegen die kapitalistische Entzauberung der Welt auf, die eine logische und notwendige Folge der Reduktion auf Quantitäten, der Verallgemeinerung des Marktes und der Verdinglichung ist — doch bei André Breton und dem Surrealismus erreicht der romantisch-revolutionäre Versuch, die Welt durch die Vorstellungskraft erneut zu verzaubern, seinen deutlichsten Ausdruck.

Anarchismus und Kommunismus

Bretons Marxismus unterscheidet sich von der rationalistischen und szientistischen, kartesianisch-positivistischen, stark vom französischen Materialismus des 18.Jahrhunderts geprägten Tendenz, die die offizielle kommunistische Lehre in Frankreich prägte, auch durch sein Insistieren auf dem hegelianischen dialektischen Erbe des Marxismus.
In einem Vortrag zur "surrealistischen Situation des Objekts" im März 1935 in Prag hob Breton die herausragende Bedeutung des deutschen Philosophen für den Surrealismus hervor: "Hegel hat sich in seiner ‚Ästhetik‘ mit allen Problemen beschäftigt, die heute auf dem Gebiet der Poesie und der bildenden Kunst die schwierigsten sind, und er hat die meisten von ihnen mit sonst unerreichter Klarsicht gelöst … Ich sage, dass man heute noch Hegel zu Rate ziehen muss, um über die gute oder schlechte Fundiertheit der surrealistischen künsterischen Praxis zu urteilen."
Einige Monate später kommt er in seiner berühmten Rede auf dem Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur im Juni 1935 darauf zurück und scheut sich nicht, gegen den Strom eines gewissen antideutschen Chauvinismus zu erklären: "Vor allem in der deutschsprachigen Philosophie haben wir das einzig wirksame Gegengift gegen den rationalistischen Positivismus gefunden, der hier weiterhin Verheerungen anrichtet. Dieses Gegengift ist nichts anderes als der dialektische Materialismus als allgemeine Theorie des Wissens."
Diese Berufung auf den Kommunismus und auf den Marxismus verhindert nicht, dass André Breton zugleich eine tief in seinem Denken verankerte libertäre Haltung einnimmt. Es genügt, an das Glaubensbekenntnis des Ersten Surrealistischen Manifests (1924) zu erinnern: "Einzig das Wort Freiheit begeistert mich noch." Walter Benjamin ruft André Breton und seine Freunde in seinem Artikel über den Surrealismus von 1929 dazu auf, die "anarchistische Komponente" der revolutionären Aktion mit ihrer "methodischen und disziplinierten Vorbereitung" zu verbinden — d.h. mit dem Kommunismus…
Die Fortsetzung der Geschichte ist bekannt: Den Positionen Trotzkis und der Linken Opposition immer näher kommend werden die meisten Surrealisten (außer Louis Aragon!) 1935 endgültig mit dem Stalinismus brechen. Das ist in keiner Weise ein Bruch mit dem Marxismus, der ihre Analysen weiterhin inspiriert, aber ein Bruch mit dem Opportunismus Stalins und seiner Nachbeter, der "unglücklicherweise dazu tendiert, die beiden wesentlichen Bestandteile des revolutionären Geistes zu vernichten, die da sind: Die spontane Ablehnung der gegenwärtig den Menschen vorgesetzten Lebensbedingungen und das gebieterische Bedürfnis, sie zu verändern."
Breton besucht Trotzki 1938 in Mexiko. Sie werden gemeinsam eines der wichtigsten Dokumente der revolutionären Kultur des 20.Jahrhunderts verfassen — den Aufruf "Für eine unabhängige revolutionäre Kunst", in dem folgende berühmte Passage vorkommt: "Für das künstlerische Schaffen muss die Revolution von Anfang an ein anarchistisches Regime persönlicher Freiheit errichten und garantieren. Keine Autorität, kein Zwang, nicht die Spur einer Weisung! … Marxisten können hier mit Anarchisten Hand in Hand gehen."
Wie man weiß, hat Trotzki diese Passage selbst geschrieben, aber man kann davon ausgehen, dass sie Frucht der langen Gespräche der beiden am Ufer des Patzcuaro-Sees sind.

Libertärer Sozialismus

In der Nachkriegszeit wird die Sympathie Bretons für den Anarchismus deutlicher. In Arcane 17 (1947) erzählt er von dem starken Gefühl, das er als Kind empfunden hat, als er im Friedhof auf einem Grabstein diese einfache Inschrift entdeckte: "Weder Gott noch Herr". In diesem Zusammenhang stellt er eine allgemeine Überlegung an: "Über der Kunst, über der Poesie, man mag es wollen oder nicht, weht eine mal schwarze, mal rote Fahne" — zwei Farben, zwischen denen er sich weigerte zu wählen.
Von Oktober 1951 bis Januar 1953 werden die Surrealisten regelmäßig mit der Zeitung Le Libertaire, dem Organ der französischen Anarchistischen Föderation zusammenarbeiten, für das sie Artikel und kurze Mitteilungen beisteuern.
Den engsten Kontakt mit der Föderation unterhielten sie vermittelt über die Korrespondenz mit dem libertären Kommunisten Georges Fontenis. In diesem Zusammenhang schreibt André Breton 1952 den flammenden Text La claire tour, mit dem er an die libertären Quellen des Surrealismus erinnerte. "Als sich der Surrealismus erstmals selbst erkannte, weit bevor er sich selbst definierte, als er noch eine einfache freie Assoziation von Individuen war, die die gesellschaftlichen und moralischen Zwänge ihrer Zeit insgesamt ablehnten, da war es im schwarzen Spiegel des Anarchismus."
Dreißig Jahre und viele Enttäuschungen später erklärt er sich wiederum als Anhänger des Anarchismus, nicht desjenigen, den man zur Karikatur machen wollte, sondern desjenigen "den unser Genosse Fontenis als den Sozialismus selbst beschreibt, das heißt als diese moderne Einforderung der Würde des Menschen (seiner Freiheit ebenso wie seines Wohlergehens)." Trotz des Bruchs von 1953 brach Breton die Verbindungen mit den Libertären nie ab und schloss sich weiterhin ihren Initiativen an.
Dieses Interesse für den libertären Sozialismus und die aktive Verbindung mit ihm führt ihn gleichwohl nicht dahin, seine Verbundenheit mit der Oktoberrevolution und mit den Ideen Trotzkis zu verleugnen. Am 19.November 1957 bekennt André Breton öffentlich und unzweideutig: "Gegen Wind und Wetter gehöre ich zu denen, die auch heute noch aus der Erinnerung an die Oktoberrevolution einen guten Teil jenes bedingungslosen Elans beziehen, der mich zu ihr führte, als ich jung war, und den völligen Einsatz der ganzen Person beinhaltete."
Den Blick Trotzkis in Rotgardistenuniform grüßend, wie er ihm auf einem alten Foto von 1917 erscheint, erklärt er: "Einen solchen Blick und das Licht, das in ihm aufscheint, wird nichts zum Erlöschen bringen, so wenig wie der Thermidor die Züge von Saint-Just zu entstellen vermochte."
Schließlich 1962 in seiner Würdigung der gerade verstorbenen Natalja Sedowa beschwört er den von ihm ersehnten Tag herauf, an dem endlich "nicht nur Trotzki völlig rehabilitiert wird, sondern an dem auch die Ideen, für die er sein Leben hingegeben hat, ihre volle Wirksamkeit und Verbreitung entfalten".

Schlussfolgerung: Der Surrealismus und das Denken André Bretons sind vielleicht dieser ideale Fluchtpunkt, dieser privilegierte Ort, in denen sich die Flugbahnen des libertären Anarchismus und des revolutionären Marxismus treffen.
Doch darf man nicht vergessen, dass der Surrealismus etwas enthält, was Ernst Bloch "utopischen Überschuss" nannte, einen Überschuss schwarzen Lichts, das die Grenzen aller sozialen und politischen Bewegungen durchbricht, wie revolutionär sie auch immer seien. Dieses Licht kommt aus dem unzerstörbaren nächtlichen Kern des surrealistischen Geistes, seiner hartnäckigen Suche nach dem goldenen Zeitalter, seiner selbstvergessenen Versenkung in die Abgründe des Traums und des Wunderbaren.

Michael Löwy


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