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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2003, Seite 15

Die Volksbeteiligung entwickeln

Umrisse einer linken Politik nach Lulas Wahlsieg in Brasilien

Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen über den Wahlsieg von Lula, der Arbeiterpartei (PT) und die politischen Perspektiven in Brasilien hatte Antonio Andrioli für die SoZ Gelegenheit zu einem Interview mit dem Agrarsekretär und PT-Landtagsabgeordneten im Bundesland Rio Grande do Sul, ELVINO BOHN GASS. Bohn Gass gehört der PT-internen Strömung Democracia Socialista an. Wir veröffentlichen im Folgenden die wichtigsten Passagen.

Welche Aussichten ergeben sich für das brasilianische Volk nach dem überragenden Wahlsieg von Lula und der PT und welche Bedeutung hat die Entwicklung in Brasilien für Lateinamerika?
El Vino Bohn Gass: Die Erwartungen in der Bevölkerung sind enorm, sie will den Politikwechsel; dies umso mehr, als die seit acht Jahren praktizierte neoliberale Politik unter Cardoso und seine Unterwerfung unter das Diktat der internationalen Institutionen und des Neoliberalismus scharfe Krisen im Land hervorgerufen hat.
Es wurde umfangreich privatisiert, die Arbeitsbeziehungen wurden weiter flexibilisiert, Hunger, Elend und gesellschaftliche Gewalt haben zugenommen, die Reichstumskonzentration ist enorm angestiegen, die Massenkaufkraft aber gesunken. Das Wirtschaftswachstum ist rückläufig.
In den Stimmen für Lula — er wurde mit 61% der Stimmen gewählt — drückt sich für die einen die Hoffnung auf eine politische Wende aus, für die anderen der Beginn eines neuen politisch-gesellschaftlichen Projekts, und für wieder andere ist es der letzte Versuch, endlich einmal einen ehrlichen Politiker zu haben, der die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens voran bringt.
Die PT hat allerdings bei weitem nicht soviel Stimmen erhalten wie Lula, und dieser ist für seinen Wahlsieg problematische Bündnisse eingegangen. Sein Vize ist von der Liberalen Partei, und im Kongress hat die neue Regierung keine Mehrheiten. Von 27 Landesgouverneursposten haben wir nur drei erringen können, und auch von den über 5000 Kommunen führen wir nur eine Minderheit. Derzeit stehen wir vor drei großen Herausforderungen:
1. Wir müssen die Regierung in der Position der Zusammenarbeit mit befreundeten lateinamerikanischen Regierungen stärken, die alle unter der ungeheuren Schuldenlast zu leiden haben. Zusammen müssen wir uns der Übermacht der USA, der EU, Japans und den internationalen Finanzinstitutionen entgegenstellen.
2. Wir müssen den hohen Erwartungsdruck in der Bevölkerung aufgreifen und die notwendigen inneren Reformen anpacken. Lula hat immer wieder auf drei grundlegende Reformen hingewiesen: die Landreform, die Steuerreform und die Reform der Staatsfinanzen, die Verfassungsreform.
3. Wir müssen uns im Dialog mit dem Volk seiner Alltagssorgen annehmen. Lula hat dazu das wichtige Programm "Schluss mit dem Hunger" (Fome Zero) vorgestellt. In Brasilien leiden heutzutage 10 Millionen Familien — das sind 50 von 175 Millionen Brasilianer — unter Hunger. Solche Programme brauchen wir auch für den Wohnungsbau, Arbeitsbeschaffung und soziale Sicherung. Dazu müssen wir die heutige politische Logik umkehren.
Das große Problem für Lula wird allerdings darin bestehen, die Volksbeteiligung zu entwickeln, wenn er nicht zum Gefangenen seiner Bündnispartner werden will und mangels parlamentarischer Mehrheiten nicht weiter kommt. Wir sind davon überzeugt, dass unsere Erfahrung in Rio Grande do Sul und in Porto Alegre, unser Modell des Beteiligungshaushalts, der Regierung Lula sehr von Nutzen sein würde.
Lula hat der Gesellschaft einen Sozialvertrag vorgeschlagen, eine große nationale Übereinkunft über die Themen Produktion, Beschäftigung und Entwicklung. Aber seine Verwirklichung ist nur möglich, wenn er sich nachhaltig auf starke soziale Bewegungen und die Gewerkschaften stützen kann. Vor allem die Gewerkschaftsbewegung muss lernen, gegenüber der Regierung ihre volle Handlungsfähigkeit zu behalten und zugleich die Klasseneinheit mit der neuen Regierung zu sichern. Die Regierung muss sich als eine Regierung der unteren Klassen erweisen — das wird schwierig werden.

Das scheint nicht Konsens in der PT zu sein. Wie stellt sich Democracia Socialista die Durchsetzung dieser Vorstellungen vor, auch im Hinblick auf die aktuellen Kräfteverhältnisse innerhalb der Partei?
Eine Regierung mit einem derart starken Wahlergebnis, deren Vorgängerin sich so vollständig diskreditiert hat und die vor einer solchen Krise der öffentlichen Finanzen steht, hat keine andere Wahl, als radikal die fundamentalen Fragen anzupacken. Für das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Regierung ist die Rolle unserer Partei entscheidend.
Wir kämpfen dafür, dass unsere Partei sich nicht in die institutionelle Logik einbinden lässt, dass sie auf ihre Unabhängigkeit gegenüber der Regierung achtet. Die PT muss Entscheidungen infrage stellen, herausfordern. Sie muss die Bedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit zum Ausdruck bringen und vom Standpunkt unseres sozialistischen Projekts darauf hinweisen, dass Lula auch ohne fragwürdige Bündnisse mit Gouverneuren und Parteien außerhalb des Lagers unserer eigentlichen Bundesgenossen regieren kann.
Wir werden die Regierung immer in ihren Aktivitäten unterstützen, solange sie nicht gegen die Interessen unserer eigentlichen Basis verstößt. Die Dialektik zwischen der Auseinandersetzung auf der institutionellen Ebene und der Stärkung unserer gesellschaftlichen Basis ist entscheidend, nicht zuletzt auch, um der Gefahr der Isolierung der Partei vorzubeugen, die immer besteht, wenn sie an der Regierung ist.

Du bist in Rio Grande do Sul aktiv, wo das Konzept des inzwischen weltweit bekannten Beteiligungshaushalts von der PT entwickelt wurde. Warum hat die PT ausgerechnet in Rio Grande do Sul bei der gleichzeitig stattfindenden Landtagswahl die Wiederwahl der von ihr geführten Landesregierung nicht erreicht?
Wir haben in der Tat eine herbe politische Niederlage erlitten — dieses Bundesland ist zum Symbol der Volksbeteiligung geworden, hier wird in Kürze zum dritten Mal hintereinander das Weltsozialforum stattfinden.
Als ökonomisch und politisch wichtigstes, von der PT regiertes Bundesland wären wir eine bedeutende Unterstützungsbasis für die Regierung Lula gewesen. Leider wird diese Möglichkeit jetzt von der bürgerlichen Opposition gegen die Regierung Lula genutzt.
Doch wir werten unsere Niederlage nicht als Niederlage für unser Projekt. Zu keiner Zeit in der Geschichte von Rio Grande do Sul hat eine politische Partei an der Regierung ihre Wiederwahl durchsetzen können. Der Machtwechsel ist bei uns eine Konstante — in der Landeshauptstadt Porto Alegre war das fast 220 Jahre lang so, bevor die PT die Stadtverwaltung übernehmen konnte und nun bereits das vierte Mal in Folge wiedergewählt wurde.
Wir hatten mit großen Widrigkeiten seitens der konservativen Reaktion, der Unternehmer und Großagrarier — inkl. juristischer Schritte — gegen die Volksbeteiligung zu kämpfen, die unsere Regierung in Misskredit bringen, aber auch mit ständigen Attacken seitens der Medien einschließlich der Verbreitung von gefälschten Wahlprognosen bis zum Tag vor den Wahlen.
Aber es gab auch parteiinterne Probleme. Wir hatten mit geänderten Statuten umzugehen, die u.a. darauf hinaus laufen, dass die Kandidaten nicht mehr nach einem internen Diskussionsprozess und auf repräsentativen Delegiertenversammlungen aufgestellt, sondern in ganztägigen Wahlen in den Parteilokalen bestimmt werden.
Die PT ist inzwischen zu einer Partei geworden, in der die Kandidaten für Wahlämter in Vorwahlen aufgestellt werden, die häufig von den Diskussionen in den bürgerlichen Medien stark beeinflusst sind.
Dies hat aus unserer Sicht entscheidend dazu beigetragen, dass unser früherer Gouverneur Olívio Dutra in den parteiinternen Vorwahlen knapp unterlag, was in der Öffentlichkeit als Signal dafür aufgefasst wurde, dass sich die PT von ihrer eigenen Regierung distanziere.
Wir haben darüber hinaus in Porto Alegre von den Wählern die Quittung dafür bekommen, dass der für vier Jahre gewählte Oberbürgermeister Tarso Genro zurücktrat und sich als Gouverneurskandidat aufstellen ließ. Dies hatte zum Ergebnis, dass wir in der Landeshauptstadt im Vergleich zu den Kommunalwahlen nicht mehr mit 223000, sondern nur noch mit 3000 Stimmen vor dem bürgerlichen Kandidaten lagen.
Auch war die Wahlkampagne so angelegt, dass sie unsere Regierungstätigkeit kaum in den Mittelpunkt stellte — was wir getan haben, wie wir es gemacht haben, und was noch zu tun ist. Politisch hat uns das schwer geschadet, insbesondere in der wichtigsten Auseinandersetzung mit unseren Gegnern, der Volksbeteiligung.
Nach dem schlechten Ergebnis in der ersten Runde der Wahlen haben wir schließlich ein "Wunder an Militanz" erlebt. Unsere Mitglieder gingen auf die Straßen und Plätze und engagierten sich für den Erhalt des politischen Projekts Rio Grande do Sul wie kaum zuvor.
Immerhin erreichten wir, dass Lula auch in unserem Bundesstaat gewählt wurde, dass wir zum ersten Mal einen Senator [für die zweite Kammer des Kongresses] stellen, den bisher stärksten Anteil an Bundestagsabgeordneten und die bisher größte Landtagsfraktion der PT in Rio Grande do Sul haben. Trotz all dieser Umstände erhielt unser Gouverneurskandidat noch 47% der Stimmen. Aus alldem ergibt sich, dass wir nach wie vor über eine starke gesellschaftliche Basis verfügen und unser Projekt stark polarisiert.

Was wird jetzt aus dem Beteiligungshaushalt?
Um uns zu schlagen, hat die bürgerliche Opposition Teile unseres Programms übernommen, was indessen zeigt, wie stark die PT die Idee des Beteiligungshaushalts in der Bevölkerung von Rio Grande do Sul verankern konnte. Aus der Sicht der öffentlichen Verwaltung ist dieses Land heute ein anderes.
Keine Regierung kann sich jetzt einfach gegen die Volksbeteiligung stellen und den Dialog mit der Gesellschaft darüber abbrechen. Darum werden wir jetzt unsere Oppositionsrolle im Rahmen eines Bezugs auf die Bundesregierung Lula entwickeln müssen. Dies würde uns allerdings erschwert, wenn es auf Bundesebene zu einem erweiterten Zusammengehen mit der PMDB kommen würde, denn diese ist hier auf Landesebene unsere Hauptgegnerin.


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