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Welche Aussichten ergeben sich für das brasilianische Volk nach dem überragenden Wahlsieg von Lula und der PT und welche Bedeutung
hat die Entwicklung in Brasilien für Lateinamerika?
El Vino Bohn Gass: Die Erwartungen in der Bevölkerung sind enorm, sie will den Politikwechsel; dies umso mehr, als die seit acht Jahren
praktizierte neoliberale Politik unter Cardoso und seine Unterwerfung unter das Diktat der internationalen Institutionen und des Neoliberalismus scharfe Krisen
im Land hervorgerufen hat.
Es wurde umfangreich privatisiert, die Arbeitsbeziehungen wurden weiter flexibilisiert,
Hunger, Elend und gesellschaftliche Gewalt haben zugenommen, die Reichstumskonzentration ist enorm angestiegen, die Massenkaufkraft aber gesunken. Das
Wirtschaftswachstum ist rückläufig.
In den Stimmen für Lula er wurde mit 61% der Stimmen gewählt
drückt sich für die einen die Hoffnung auf eine politische Wende aus, für die anderen der Beginn eines neuen politisch-gesellschaftlichen
Projekts, und für wieder andere ist es der letzte Versuch, endlich einmal einen ehrlichen Politiker zu haben, der die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens
voran bringt.
Die PT hat allerdings bei weitem nicht soviel Stimmen erhalten wie Lula, und dieser ist
für seinen Wahlsieg problematische Bündnisse eingegangen. Sein Vize ist von der Liberalen Partei, und im Kongress hat die neue Regierung keine
Mehrheiten. Von 27 Landesgouverneursposten haben wir nur drei erringen können, und auch von den über 5000 Kommunen führen wir nur
eine Minderheit. Derzeit stehen wir vor drei großen Herausforderungen:
1. Wir müssen die Regierung in der Position der Zusammenarbeit mit befreundeten lateinamerikanischen Regierungen stärken, die alle unter
der ungeheuren Schuldenlast zu leiden haben. Zusammen müssen wir uns der Übermacht der USA, der EU, Japans und den internationalen
Finanzinstitutionen entgegenstellen.
2. Wir müssen den hohen Erwartungsdruck in der Bevölkerung aufgreifen und die notwendigen inneren Reformen anpacken. Lula hat immer
wieder auf drei grundlegende Reformen hingewiesen: die Landreform, die Steuerreform und die Reform der Staatsfinanzen, die Verfassungsreform.
3. Wir müssen uns im Dialog mit dem Volk seiner Alltagssorgen annehmen. Lula hat dazu das wichtige Programm "Schluss mit dem
Hunger" (Fome Zero) vorgestellt. In Brasilien leiden heutzutage 10 Millionen Familien das sind 50 von 175 Millionen Brasilianer unter
Hunger. Solche Programme brauchen wir auch für den Wohnungsbau, Arbeitsbeschaffung und soziale Sicherung. Dazu müssen wir die heutige
politische Logik umkehren.
Das große Problem für Lula wird allerdings darin bestehen, die Volksbeteiligung
zu entwickeln, wenn er nicht zum Gefangenen seiner Bündnispartner werden will und mangels parlamentarischer Mehrheiten nicht weiter kommt. Wir
sind davon überzeugt, dass unsere Erfahrung in Rio Grande do Sul und in Porto Alegre, unser Modell des Beteiligungshaushalts, der Regierung Lula sehr
von Nutzen sein würde.
Lula hat der Gesellschaft einen Sozialvertrag vorgeschlagen, eine große nationale
Übereinkunft über die Themen Produktion, Beschäftigung und Entwicklung. Aber seine Verwirklichung ist nur möglich, wenn er sich
nachhaltig auf starke soziale Bewegungen und die Gewerkschaften stützen kann. Vor allem die Gewerkschaftsbewegung muss lernen, gegenüber der
Regierung ihre volle Handlungsfähigkeit zu behalten und zugleich die Klasseneinheit mit der neuen Regierung zu sichern. Die Regierung muss sich als
eine Regierung der unteren Klassen erweisen das wird schwierig werden.
Das scheint nicht Konsens in der PT zu sein. Wie stellt sich Democracia Socialista die Durchsetzung dieser Vorstellungen vor, auch im Hinblick auf
die aktuellen Kräfteverhältnisse innerhalb der Partei?
Eine Regierung mit einem derart starken Wahlergebnis, deren Vorgängerin sich so vollständig diskreditiert hat und die vor einer solchen Krise
der öffentlichen Finanzen steht, hat keine andere Wahl, als radikal die fundamentalen Fragen anzupacken. Für das Verhältnis zwischen
Bevölkerung und Regierung ist die Rolle unserer Partei entscheidend.
Wir kämpfen dafür, dass unsere Partei sich nicht in die institutionelle Logik
einbinden lässt, dass sie auf ihre Unabhängigkeit gegenüber der Regierung achtet. Die PT muss Entscheidungen infrage stellen,
herausfordern. Sie muss die Bedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit zum Ausdruck bringen und vom Standpunkt unseres sozialistischen Projekts
darauf hinweisen, dass Lula auch ohne fragwürdige Bündnisse mit Gouverneuren und Parteien außerhalb des Lagers unserer eigentlichen
Bundesgenossen regieren kann.
Wir werden die Regierung immer in ihren Aktivitäten unterstützen, solange sie
nicht gegen die Interessen unserer eigentlichen Basis verstößt. Die Dialektik zwischen der Auseinandersetzung auf der institutionellen Ebene und
der Stärkung unserer gesellschaftlichen Basis ist entscheidend, nicht zuletzt auch, um der Gefahr der Isolierung der Partei vorzubeugen, die immer besteht,
wenn sie an der Regierung ist.
Du bist in Rio Grande do Sul aktiv, wo das Konzept des inzwischen weltweit bekannten Beteiligungshaushalts von der PT entwickelt wurde.
Warum hat die PT ausgerechnet in Rio Grande do Sul bei der gleichzeitig stattfindenden Landtagswahl die Wiederwahl der von ihr geführten
Landesregierung nicht erreicht?
Wir haben in der Tat eine herbe politische Niederlage erlitten dieses Bundesland ist zum Symbol der Volksbeteiligung geworden, hier wird in
Kürze zum dritten Mal hintereinander das Weltsozialforum stattfinden.
Als ökonomisch und politisch wichtigstes, von der PT regiertes Bundesland wären
wir eine bedeutende Unterstützungsbasis für die Regierung Lula gewesen. Leider wird diese Möglichkeit jetzt von der bürgerlichen
Opposition gegen die Regierung Lula genutzt.
Doch wir werten unsere Niederlage nicht als Niederlage für unser Projekt. Zu keiner Zeit
in der Geschichte von Rio Grande do Sul hat eine politische Partei an der Regierung ihre Wiederwahl durchsetzen können. Der Machtwechsel ist bei uns
eine Konstante in der Landeshauptstadt Porto Alegre war das fast 220 Jahre lang so, bevor die PT die Stadtverwaltung übernehmen konnte und
nun bereits das vierte Mal in Folge wiedergewählt wurde.
Wir hatten mit großen Widrigkeiten seitens der konservativen Reaktion, der
Unternehmer und Großagrarier inkl. juristischer Schritte gegen die Volksbeteiligung zu kämpfen, die unsere Regierung in
Misskredit bringen, aber auch mit ständigen Attacken seitens der Medien einschließlich der Verbreitung von gefälschten Wahlprognosen bis
zum Tag vor den Wahlen.
Aber es gab auch parteiinterne Probleme. Wir hatten mit geänderten Statuten
umzugehen, die u.a. darauf hinaus laufen, dass die Kandidaten nicht mehr nach einem internen Diskussionsprozess und auf repräsentativen
Delegiertenversammlungen aufgestellt, sondern in ganztägigen Wahlen in den Parteilokalen bestimmt werden.
Die PT ist inzwischen zu einer Partei geworden, in der die Kandidaten für
Wahlämter in Vorwahlen aufgestellt werden, die häufig von den Diskussionen in den bürgerlichen Medien stark beeinflusst sind.
Dies hat aus unserer Sicht entscheidend dazu beigetragen, dass unser früherer
Gouverneur Olívio Dutra in den parteiinternen Vorwahlen knapp unterlag, was in der Öffentlichkeit als Signal dafür aufgefasst wurde, dass
sich die PT von ihrer eigenen Regierung distanziere.
Wir haben darüber hinaus in Porto Alegre von den Wählern die Quittung
dafür bekommen, dass der für vier Jahre gewählte Oberbürgermeister Tarso Genro zurücktrat und sich als Gouverneurskandidat
aufstellen ließ. Dies hatte zum Ergebnis, dass wir in der Landeshauptstadt im Vergleich zu den Kommunalwahlen nicht mehr mit 223000, sondern nur
noch mit 3000 Stimmen vor dem bürgerlichen Kandidaten lagen.
Auch war die Wahlkampagne so angelegt, dass sie unsere Regierungstätigkeit kaum in
den Mittelpunkt stellte was wir getan haben, wie wir es gemacht haben, und was noch zu tun ist. Politisch hat uns das schwer geschadet, insbesondere in
der wichtigsten Auseinandersetzung mit unseren Gegnern, der Volksbeteiligung.
Nach dem schlechten Ergebnis in der ersten Runde der Wahlen haben wir schließlich ein
"Wunder an Militanz" erlebt. Unsere Mitglieder gingen auf die Straßen und Plätze und engagierten sich für den Erhalt des
politischen Projekts Rio Grande do Sul wie kaum zuvor.
Immerhin erreichten wir, dass Lula auch in unserem Bundesstaat gewählt wurde, dass
wir zum ersten Mal einen Senator [für die zweite Kammer des Kongresses] stellen, den bisher stärksten Anteil an Bundestagsabgeordneten und die
bisher größte Landtagsfraktion der PT in Rio Grande do Sul haben. Trotz all dieser Umstände erhielt unser Gouverneurskandidat noch 47%
der Stimmen. Aus alldem ergibt sich, dass wir nach wie vor über eine starke gesellschaftliche Basis verfügen und unser Projekt stark polarisiert.
Was wird jetzt aus dem Beteiligungshaushalt?
Um uns zu schlagen, hat die bürgerliche Opposition Teile unseres Programms übernommen, was indessen zeigt, wie stark die PT die Idee des
Beteiligungshaushalts in der Bevölkerung von Rio Grande do Sul verankern konnte. Aus der Sicht der öffentlichen Verwaltung ist dieses Land heute
ein anderes.
Keine Regierung kann sich jetzt einfach gegen die Volksbeteiligung stellen und den Dialog mit
der Gesellschaft darüber abbrechen. Darum werden wir jetzt unsere Oppositionsrolle im Rahmen eines Bezugs auf die Bundesregierung Lula entwickeln
müssen. Dies würde uns allerdings erschwert, wenn es auf Bundesebene zu einem erweiterten Zusammengehen mit der PMDB kommen
würde, denn diese ist hier auf Landesebene unsere Hauptgegnerin.