SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2003, Seite 17

Russland

Der westliche Blick

Es gibt Zeiten, in denen das Bild Russlands in der westlichen Presse an das Bewusstsein eines Schizophrenen erinnert. Einerseits erzählt man uns, dass alles wunderbar sei; andererseits ist alles eine Katastrophe. Perioden der Euphorie wechseln mit jenen der Depression ab. An einem Tag ist Russland ein Land, das fröhlich seine totalitäre Vergangenheit überwindet; am nächsten Tag ist es ein Beispiel für Scheitern, Korruption und Verelendung. Die Russen erscheinen einmal als unternehmendes Volk, dann wieder als Schwindler, denen man unmöglich trauen kann.

Seit den 90er Jahren ist das Bild Russlands als ein Land voller Bettler und Gangster zum Standard für Hollywoods Drehbuchautoren geworden. Das Hollywood-Russland der letzten Zeit ähnelt dabei mehr dem Los Angeles von Blade Runner als der komplexen und zweifellos kranken Gesellschaft, die es in Wirklichkeit ist. Das Bild Russlands als eines Landes der Desaster ist selbstverständlich ungenau, weil jedes vereinfachte Bild in die Irre führt. Doch dieses Bild kommt gelegen, und verschiedene Seiten der Politik sind in der Lage es auszunutzen.
Die politische Rechte im Westen hat eine traditionelle Abneigung gegen die Russen. In ihrer Sicht rühren alle Probleme aus der kommunistischen Hinterlassenschaft und aus der besonderen Natur der russischen Kultur, die angeblich Demokratisierung und Modernisierung behindert. Linke dagegen machen den Kapitalismus verantwortlich, und ihre Argumente sind logischer, wenn auch nur weil dieselben Probleme auch Afrika, Indien und Lateinamerika betreffen, die weder Kommunismus noch russische Kultur kennengelernt haben.
Die Situation ist paradox: je mehr Russland versucht, dem "westlichen Weg" zu folgen, desto mehr ähnelt es dem tropischen Afrika. In Moskau kursieren jetzt einige sarkastische Witze dazu. Der russische Durchschnittslohn ist offensichtlich für Leute in einem subtropischen Klima berechnet. Doch gibt es bislang keine Anzeichen dafür, dass vor den Toren der russischen Hauptstadt Bananen wachsen.
Jedenfalls lassen sich dieselben Übel auch im Westen feststellen, wenngleich in anderer Form. Der Zusammenbruch von Enron hat so etwas wie Schadenfreude in der russischen Gesellschaft hervorgerufen. Solche Dinge sind hier wiederholt vorgekommen, aber die US-Experten haben stets erklärt, dass diese Art der Konzernschwindelei das Resultat russischer Rückständigkeit und schlechter kommunistischer Manieren sei, und gleichzeitig auf ihre eigenen großartigen Konzerne als nachahmenswerte Beispiele verwiesen.

Mythos und Realität

Jedenfalls werden die düsteren Bilder Russlands im Westen zunehmend von Artikeln konterkariert, die das Land in einem rosigen Licht zeigen. Meistenteils sind die Autoren dieser Artikel wohlmeinende Liberale, die versuchen, das Bild zurechtzurücken. Ihre Argumente lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
1. Das Bild Russlands als einer armen und elenden, dem Abgrund entgegengehenden Gesellschaft voller Zuhälter ist ein Cliché, das Vorurteile gegenüber Russen verbreitet. Neomarxisten und Feministinnen beuten dieses Fehlurteil aus.
2. Man muss auch die neu gewonnenen politischen und ökonomischen Freiheiten berücksichtigen und die Entscheidung der Russen respektieren, die vorher unter einer Diktatur gelebt haben und jetzt die Chance haben, "ihre eigenen Wahrheiten zu finden".
3. Das russische Volk benötigt mehr und nicht weniger Kapitalismus.
4. Die EU sollte sich auch auf Russland ausdehnen; dies ist ein wichtiger Teil der Lösung der Probleme Russlands.
Leider sind diese Argumente ebenso abstrakt und schematisch wie die Horrorgeschichten über Russland, die wir immer noch anderswo zu hören bekommen. Im Wesentlichen handelt es sich um eine Liste aufbereiteter Clichés von Leuten, die kein Interesse an dem haben, was wirklich geschieht.
Das gegenwärtige Russland ist vor allem eine extrem heterogene Gesellschaft. Deshalb fällt es Anhängern jedes Standpunkts so leicht, einige zufällige Beispiele aufzugreifen, um ihre jeweilige Version zu stützen. Die wirkliche Frage ist jedoch das Verhältnis zwischen diesen Phänomenen.
Ja, Russland hat eine dynamische Mittelklasse, die auf durch und durch westliche Weise lebt. In dieser Hinsicht sind wir wirklich nicht schlechter dran als Bolivien, die Türkei oder der Senegal. Diese Mittelklasse konzentriert sich auf Moskau und St.Petersburg, die nun zu den interessantesten Städten Europas gezählt werden können (wenngleich viele Leute auch Istanbul oder Dakar faszinierend finden).
Das Problem ist, dass diese neue Mittelklasse kaum 12—15% der Bevölkerung ausmacht und nicht wächst. Man entferne sich um etwa 40 Kilometer von der Moskauer Ringstraße und man betritt eine vollkommen andere Welt, in der Menschen hauptsächlich von den Kartoffeln aus ihrer eigenen Gartenparzelle leben und manchmal monatelang kein Geld in der Hand haben. Hier geht die Armut einher mit dem völligen Verlust an Rechten.
Man versuche mit diesen Menschen über die Errungenschaften der russischen Demokratie zu sprechen und man erhält die Antwort, dass sie unter den Kommunisten wenigstens einige Rechte hatten, während die neuen Behörden sie schlichtweg als Abfall betrachten.
Die anständige, respektable Welt einiger großer Städte wird zu einem Gutteil durch Polizeigewalt aufrecht erhalten, die die Demokratie zur Farce macht. Moskau und St.Petersburg sind keine "gefährlichen" Orte, wie die westliche Öffentlichkeit diesen Begriff versteht. New York ist weitaus gefährlicher.
Das Problem liegt woanders — die Wohlhabenden in Russland werden durch den Gebrauch von Polizeiknüppeln versorgt. Daran beteiligt sind nicht nur kommunale und staatliche Sicherheitskräfte, sondern auch eine riesige Anzahl von privaten Sicherheitsleuten, die die Sicherheit der Reichen schützen. Gebäude werden wie Festungen gegeneinander abgeschirmt. Um ihr Gebiet zu betreten, muss man Checkpoints passieren, die mit angenehmen Personen mit außergewöhnlichen Uniformen besetzt sind, und dann durch verschiedene, durch Codes gesicherte Türen gehen — all dies unter den Blicken von Videokameras.
Als ich solches vor Jahren in Südafrika sah, war ich erschrocken. Wie konnten Menschen an solchen Orten leben? Nun lebt Moskau auf genau dieselbe Weise. Man gewöhnt sich schnell daran und nimmt es nicht mehr wahr.
Nun betrachte man dasselbe Moskau mit den Augen eines Provinzbewohners oder eines Gastarbeiters aus der Ukraine oder aus Moldawien (von deren billiger Arbeitskraft hier alles abhängt). Vor einigen Tagen wurde eine Bekannte von mir aus Nowosibirsk im Zentrum von Moskau von der Polizei angehalten. Dass ihre Papiere sie als Assistentin des Gouverneurs der Provinz Nowosibirsk auswiesen, half ihr in keiner Weise!
Die Polizei hatte vor, sie für einige Tage in eine Zelle zu stecken, bloß um die Gründe für ihre Reise in die Hauptstadt herauszufinden. Hat sie etwa vor, hier illegal zu arbeiten? Oder, Gott bewahre, der Prostitution nachzugehen? Sie wurde durch das Eingreifen von Leuten in der Staatsduma, die sie kannte, gerettet. Aber nicht jeder, der auf der Straße spazieren geht, hat Freunde in der Staatsduma.
Wie man sich denken kann, leisten solche Maßnahmen keinen Beitrag zur Verhinderung der Prostitution — um sich davon zu überzeugen, reicht es, sich in das Zentrum der russischen Hauptstadt, die Twerskaja-Straße, zu begeben, wo die Frauen wie Grenadiere bei einer Parade aufgereiht stehen. Die meisten von ihnen sind nicht als Moskauer Einwohnerinnen registriert, und manche sind auch keine Bürgerinnen Russlands. Aber die Polizei lässt sie zufrieden, denn wie groß auch die Willkür der Polizei sein mag, die Korruption ist größer. Dies ist das Gesetz des Marktes.
Vor einem solchen Hintergrund ruft jedes Gerede von einem demokratischen Fortschritt ein bitteres Gelächter hervor. Nein, wir leben wirklich nicht in einer totalitären Gesellschaft. Die Panik, die der Machtantritt des Ex-KGB-Agenten Wladimir Putin unter der liberalen Intelligenz hervorgerufen hat, hat sich als grundlos erwiesen.
In Russland gibt es wenigstens eine Publikation, die eine nationale Verbreitung hat und den von den politischen Eliten verfolgten Kurs bekämpft. Eine solche Nachrichtenquelle zu haben ist eine Menge; viele westliche Länder haben nicht einmal dies. (Ich spreche nicht von wertlosen kleinen Publikationen, die von dem einen oder anderen Minister oder einer Partei herausgegeben werden, sondern von der Opposition gegen einen Kurs, auf den alle Politiker, ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit, die Gesellschaft führen.)
Russland hat auch Wahlen, an denen die Masse der Bevölkerung seit langem nicht mehr teilnimmt, denn sie weiß ganz genau, dass die Resultate offen und schamlos gefälscht werden. Es gibt auch westliche Korrespondenten, die ungehindert reisen können, wohin sie wollen, und sich alles anschauen dürfen, die aber — mit seltenen Ausnahmen — Themen wie manipulierte Wahlen, Behördenwillkür und Polizeirassismus meiden.
Im Ganzen kann man Russland als ein vollkommen normales modernes kapitalistisches Land bezeichnen — eines der ärmeren Variante. Es gibt keinen Grund, über unser Schicksal zu klagen. Wir sind nicht schlechter als die meisten Länder, und in vieler Hinsicht sogar besser. Wir stellen immer noch wunderbare Raketen her, und auf dem Gebiet des Balletts sind wir führend in der Welt. Sowohl die Raketen als auch das Ballett, das ist wahr, sind ein Erbe der totalitären sowjetischen Vergangenheit.

Peripherer Kapitalismus

In dieser Hinsicht ist es ganz und gar amüsant, Diskussionen darüber zu verfolgen, ob Russland "mehr" oder "weniger" Kapitalismus benötigt. Wir haben Kapitalismus, in der Vollversion. Die Tatsache, dass sich der russische Kapitalismus von der schwedischen Variante unterscheidet, ist vollkommen natürlich. Wenn er nicht anders wäre, wäre unser Land nicht von Russen, sondern von Schweden bewohnt, würde irgendwie anders heißen und einen anderen Platz auf der Landkarte einnehmen.
Der normale Kapitalismus der Peripherie, ob nun in Russland, der Türkei, Albanien oder Mali, zeichnet sich durch die Tatsache aus, dass er den meisten Menschen, die unter ihm leben, keinen anständigen Lebensstandard bieten kann.
Ein solches Land muss Rohstoffe exportieren, um den hohen Lebensstandard im "zivilisierten Europa" zu sichern. Das ist offensichtlich unsere Mission, und wir erfüllen sie sehr ernst und gewissenhaft.
Was die EU betrifft, so wäre es für unsere wohlwollenden westlichen Liberalen durchaus vorstellbar, wenn wir dort beitreten wollten. Wir brauchen den Zugang zur Euro-Zone; andernfalls werden wir in einigen Jahren nicht mehr von Moskau in die noch-russische Enklave Ostpreußen reisen können.
Dennoch finden russische Reisende noch einen gewissen Trost, wenn sie in der langen, demütigenden Schlange auf dem Londoner Flughafen Heathrow auf Australier, Neuseeländer und weiße Südafrikaner treffen. Mit letzteren finden die Angehörigen der russischen Mittelklasse sofort eine gemeinsame Sprache.
Effektive staatliche Strukturen formen sich in einer komfortablen, gut funktionierenden Gesellschaft. Ein Land, das sozial heterogen ist, wird von Widersprüchen durchzogen. Wenn die Wirtschaft völlig disproportional ist, können keine arbeitsfähigen demokratischen Institutionen entstehen. Der Versuch, die westlichen Fassaden zu kopieren, verschärft nur das Problem. Hinter diesen Fassaden liegen die Dinge verborgen, die niemand sehen oder ändern will.
Die Ausdehnung der EU auf die Länder Osteuropas ist an und für sich ein abenteuerlicher Akt. Dieses System wird nicht funktionieren, denn es gibt nicht einmal eine elementare ökonomische Gleichheit zwischen den betroffenen Ländern. Die politische Gleichheit, die erklärt werden wird, wird entweder Fiktion bleiben oder die Institutionen der EU in ein endloses Schlachtfeld verwandeln.
Wenn die EU dies überlebt, wird die Zeit gekommen sein, über den Beitritt Russlands zu sprechen. Dies wird eine Union vollständig anderer Art sein, die kaum etwas mit der gegenwärtigen gemein hat.
Über ein besonderes Schicksal Russlands zu sprechen macht nicht mehr Sinn, als über Schweden als eine historische Ausnahme zu sprechen. Wenngleich im gegenwärtigen weltweiten Kontext gerade Schweden und Finnland mit ihren noch vorhandenen Resten sozialer Demokratie einzigartig sind.
Russen reisen jetzt nach Finnland, um ihre Augen am "realen Sozialismus" zu weiden. Man muss sagen, dass dieses Produkt attraktiver aussieht als der amerikanisierte Kapitalismus made in Russia als Lizenz des IWF.
Ein Teil der Welt zu sein ist weder eine besondere Errungenschaft noch eine besondere Schande. Es ist einfach normal. Das Problem ist, dass die ganze Welt nicht richtig funktioniert. Vielleicht ist das Scheitern von Moskau oder Istanbul aus betrachtet offensichtlicher als von Paris oder Stockholm aus gesehen, aber auch darüber lässt sich streiten. Die Protestbewegung entfaltet sich im Westen, und von dort ist sie dabei, Russland zu erreichen.
In den Buchläden Moskaus und St. Petersburgs gibt es jetzt eine wachsende Nachfrage nach den Werken radikaler Autoren wie Noam Chomsky und Subcomandante Marcos. In Russland infizieren antikapitalistische Ideen, wie jeder andere progressive westliche Trend, zuerst die Intelligenz und die Mittelklasse, d.h. die Schichten, die der Neoliberalismus als seine Kernanhängerschaft betrachtet. Es ist diese jüngste Entwicklung, die mich persönlich veranlasst, optimistisch in die Zukunft unseres Landes zu blicken.

Boris Kagarlitzki


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