SoZ Sozialistische Zeitung |
Der triumphale Wahlsieg des konservativen Kanzlers Wolfgang Schüssel verwundert in Deutschland. Obwohl der
Triumph eigentlich Schein war. Denn ÖVP und FPÖ zusammengerechnet verloren seit den letzten Nationalratswahlen 5 Mandate. Die Zahl ihrer
gemeinsamen Abgeordneten reduzierte sich von 104 auf 99. Schwarz-Blau hat also massiv verloren. Die Gewinne Schüssels sind ein Medienereignis,
basierend ausschließlich auf einer Wählerwanderung von der FPÖ zur ÖVP.
Trotzdem bleibt die Frage, warum außerhalb Wiens, wo Rot-Grün jetzt über
eine massive Mehrheit von 60% verfügt, SPÖ und Grüne nicht punkten konnten. Zur Beantwortung stellen wir uns eine idyllische
österreichische Kleinstadt vor mit Schloss (ohne Hotel), See, Schwänen und was sonst noch dazu gehört: Eine katholische und
evangelischen Pfarrgemeinde, einer Sektion des Alpenvereins, einer fröhlichen Saufrunde, deren männliche Mitglieder eine Runde schwedischen
Wodkas zahlen müssen, wenn sie "bis 21 Uhr am Stammtisch herumschmusen, egal mit welchem Geschlecht", einer soliden ÖVP-
FPÖ-Mehrheit im Gemeinderat sowie traditionell gutem Klima mit den Oppositionsparteien SPÖ und Grünen. Nennen wir dieses Nest einfach
Gmunden (bekannt aus der Fernsehserie Schloss Orth).
Denken wir uns zur besseren Illustration der örtlichen Verhältnisse einen
Schriftsteller aus Wien, ein Intransplantat im alpenländischen Volkskörper, von kleinstädtischen Umfeld mit Argusaugen überwacht:
"Der Chef des größten Unternehmens im Ort ist gleichzeitig Stadtrat der Konservativen. Seine Frau: die Apothekerin. Sein Neffe: der
größte Wirt im Ort. Sein Bruder: der Vorstand im Finanzamt. Sein Schwager: der örtliche Postenkommandant der Gendarmerie. Sie wissen
alles über dich, jedes Familientreffen eine Art staatspolizeilicher Akt: deine Essgewohnheiten verrät der Wirt, deine Obstipation die Apothekerin.
Deine Steuererklärung steuert der Bruder bei..."
Lassen wir unseren Schriftsteller unbeeindruckt von den Abstoßungsreaktionen
der Einheimischen ausgerechnet nach den Jahrgängen 19381945 der Regionalzeitung im örtlichen Archiv suchen. Vergeblich, wie
zu erwarten. Nehmen wir weiters quälenden Wissensdurst an, der zu Recherchen in der Wiener Nationalbibliothek und erschütternden
Entdeckungen führt: Die SA berichtet der unter NS-Leitung stehende Salzkammergut-Beobachter ungeniert, trieb sofort nach dem Nazi-
Einmarsch alle Juden auf dem Hauptplatz zusammen, gleich neben der von den Kurgästen geschätzten Uferpromenade. Stramm stehend mussten sie
sich antisemitische Hetzreden des braunen Lokalhäuptlings anhören, sich beschimpfen und anspucken lassen. Wer bei Juden kaufte, den stellte die
Zeitung in einer eigenen Kolumne an den "Pranger". Nicht lange allerdings. Denn Gmunden war schnell "judenfrei". Darum
kümmerten sich schon jene braunen Bonzen, die Villen und Grundstücke zu Billigstpreisen in die eigene Tasche "arisieren" wollten.
Was geschieht, wenn der Schriftsteller solches Wissen veröffentlicht? Welche Reaktion
zeigen jene, die alles wissen, ohne hören zu wollen?
Der Schrifsteller Michael Amon hat die Proben aufs Exempel gemacht. In seinem Roman
Yquem sind die Konsequenzen der daraus resultierenden Enthüllungen Schmieragen auf seinem Garagentor: "Juda verrecke!",
"Judenfreund!" und jede Menge Judensterne.
In der virtuellen Realität des "Gästebuchs" auf Amons Homepage
klingt das so: "Ein unglaublicher Skandal dieses Iquem-Buch! Anständige Bürger dieser Stadt werden beschmutzt. Immer diese alten
Geschichten aufwärmen, als ob hier alle Nazis wären. So viele Juden gab es gar nicht in der Stadt. Das wird bestimmt Klagen geben. Dieser feine
Herr darf sich nicht wundern, wenn er Schwierigkeiten bekommt. Solche Leute brauchen wir hier nicht. Pfui Teufel kann ich nur sagen" (eine
"empörte Gmundnerin"). "Wolf" wird noch deutlicher: "Judenschwein! Das deutsche Volk wird aufwachen. Dann kommen
so Schweine an die Front. Alle Villen kommen in die deutsche Hand. In unserem deutschen Vaterland!"
Solche Stimmen aus dem Untergrund des idyllischen Kleinstadtlebens sind der Schlüssel
zu Schüssels Erfolg.
Fritz Keller