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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2003, Seite 21

Kämpfe um Identität

Fighting Identities: Race, Religion and Ethno-Nationalism, Socialist Register 2003, Merlin Press, 384 Seiten, 27 Euro, ISBN 3-87975-997-9 (Bezug über VSA-Verlag) / www.yorku.ca/socreg

Das Socialist Register ist seit fast 40 Jahren eine Säule der internationalen sozialistischen Linken. Begründet von Ralph Miliband und John Saville wird es heute von Leo Panitch und Colin Leys herausgegeben. Soeben erschienen ist das Jahrbuch 2003, aus dem wir im Folgenden das leicht gekürzte Vorwort dokumentieren. Der Band enthält diesmal Beiträge u.a. von Peter Gowan (zur Geopolitik der USA, Aziz Al-Azmeh (zum postmodernen Obskurantismus) und Avishai Ehrlich (zu Palästina und dem israelischen Judaismus). In Deutschland wird der Band über den Hamburger VSA-Verlag (27 Euro) vertrieben.
Bereits Mitte 2000, ein Jahr vor dem 11.September 2001 haben wir beschlossen, den 39. Band des Socialist Register dem Thema "Fighting Identities" [doppeldeutig: kann sowohl heißen "kämpfende, kämpferische Identitäten" als auch "Identitäten bekämpfen"] zu widmen. Dieser Band behandelt deswegen nicht den Terrorismus oder den Kampf gegen den Terrorismus. Aber er behandelt jene Konflikte und Widersprüche, deren Erscheinungsform die Angriffe auf New York und Washington DC waren. Es ist sicherlich klar, dass die gefährlichen Möglichkeiten, die aus diesen schrecklichen Ereignissen erwachsen, nur abzuwenden sind, wenn die ihnen zugrunde liegenden und sie heraufbeschwörenden Beziehungen ergründet und verstanden werden.
Die "Fighting Identities", mit denen wir uns beschäftigen, spiegeln zwei eng verzahnte globale Realitäten wider. Die eine ist die doppelte Rolle des amerikanischen Staates, sowohl als Manager der kapitalistischen Weltordnung (eine Rolle, die nur er allein spielen kann) wie auch als Verkörperung der nationalen amerikanischen Interessen — einer allzu oft chauvinistischen Identität. Die andere Realität ist die Art und Weise, wie partikularistische und exklusive Identitäten oft auf etwas universelles antworten, bspw. auf den Schmerz, den Opfer von Unterdrückung und Ausbeutung überall verspüren. Selbst reaktionäre, fundamentalistische Identitäten können in jenem von der Niederlage der rationalen und progressiven Alternativen erzeugten Vakuum als verzerrte und perverse Antworten dieser Art angesehen werden.
Wir haben den Blickwinkel auf Rasse, Religion, Ethnizität und Nationalismus gelegt, weil sie auch weiterhin im Zentrum so vieler Großkonflikte des beginnenden 21.Jahrhunderts stehen. Anders als in der umfangreichen jüngsten Literatur, die die Artikulation solcher Identitäten abstrakt behandeln, versuchen die Essays dieses Bandes, Rasse, Religion, Ethnizität und Nationalismus ernst zu nehmen, indem sie sie in ihre weithin variierenden historischen und geografischen Kontexte stellen — vom indischen Subkontinent zum Nahen Osten, Afrika, den früheren "kommunistischen" Ländern und, schließlich, in jenen "Westen", wo im Kontext forcierter Immigration von ökonomischen und politischen Flüchtlingen aus jenen Regionen die Xenophobie die rechte Identitätspolitik beflügelt und wo sich dies in den USA mit den komplizierten, ungelösten Themen von Rasse und Rassismus innerhalb der Politik der Arbeiterbewegung überschneidet.
In jedem dieser Fälle zeigen sich drei Schlüsselthemen: a) rassisch-ethnische, religiöse und nationale Identitäten sind alles andere als nebensächlich; b) es gibt historische Gründe, warum diese Identitäten solchen Einfluss auf das Leben so vieler Menschen haben — und seit mehreren Jahrhunderten sind diese Gründe eng verwoben mit der Entwicklung des Kapitalismus; und c) es ist deswegen notwendig, den Kampf gegen den Kapitalismus mit diesen "real existierenden" Identitäten zusammen zu denken.
Intellektuelle haben eine besondere Verantwortung, dieses korrekt zu tun. Rasse im Besonderen, war schon immer implizit im Diskurs der Naturwissenschaften. Es gibt eine lange Geschichte der Behauptungen, dass die Rasse genetisch geprägt sei, und in jüngsten Untersuchungen über das menschliche Genom tauchen diese Behauptungen wieder auf. Wir haben deswegen auch einen Beitrag von Nancy Stephan über "Wissenschaft und Rasse" aufgenommen.
Im letzten Jahrzehnt beschäftigte sich die akademische Welt intensiv mit der vermeintlichen Priorität der "Identitätspolitik", mit der "postmodernen" Ablehnung "großer Erzählungen" von Geschichte und Klassenkampf, die angeblich zulasten der Interessen von Frauen, farbigen Menschen, unterdrückten Nationalitäten und anderer die männliche, westliche Arbeiterklasse zum treibenden Subjekt der Geschichte erklären. Heute geht es im Gegenteil darum, politische Identitäten ernst zu nehmen: sie weder als "natürlich" zu betrachten noch ihre Bedeutung auf bloße "Differenz" zu reduzieren, unabhängig von jeder historischen oder materialistischen Analyse. In dem diesen Band beschließenden Essay argumentiert John Saul, dass wir die legitimen Erwartungen und Forderungen, die mit diesen Identitäten verbunden sind, unterstützen müssen, und dass Klasse mit ihnen so zusammen gedacht werden muss, dass die Klassenkämpfe verändert werden — aufbauend auf der Erkenntnis der sich entwickelnden Form globaler kapitalistischer Ordnung.
Ist die zeitgenössische linke Politik dieser Aufgabe gewachsen? Unsere Wahl des Cover- Fotos zapatistischer Frauen spiegelt vielleicht das schönste zeitgenössische Beispiel einer progressiven "kämpfenden Identität": eine indigene Gruppe, die ihren Kampf im Namen aller unterdrückten Indentitäten ausgedrückt hat und die die weltweite Antiglobalisierungsbewegung inspiriert hat. Zwei der in diesen Band aufgenommenen Aufsätze fragen nichtsdestotrotz, ob diese Bewegung das Problem der Vereinigung multipler Identitäten in einem einzigen Kampf gelöst hat. Amory Starr hinterfragt den Vorwurf, dass die nordamerikanische Antiglobalisierungsbewegung selbst rassistisch ist, während Stephanie Ross den undemokratischen Charakter einer Politik kritisiert, die eine Vielzahl diverser oppositioneller Identitäten aneinander reiht, ohne sie verantwortlich zu vereinigen.
Ein dritter Aufsatz blickt schließlich auf eine politische Praxis, die Antiglobalisierer besonders anpreisen und die in der Tat Partizipationsmöglichkeiten für eine breite Palette von Interessen und Identitäten aus dem Volk eröffnet hat: den Beteiligungshaushalt in Porto Alegre, einen jener charakteristischen Aspekte jener neuen Klassenpolitik, für die die brasilianische Arbeiterpartei (PT) steht. Sergio Baierles aktuelle Analyse argumentiert, dass der Beteiligungshaushalt vor seinem "Thermidor" steht, beleuchtet eine Reihe kritischer Probleme, die zu lösen sind, wenn die Prinzipien des Beteiligungshaushalts überleben und auf andere Bereiche der Regierungspolitik ausgeweitet werden sollen. Die Aussichten dafür hängen von einer nüchternen Untersuchung linker Strategie und Praxis im Sinne Baierles ab. Wir sind immer in größter Gefahr, wenn linke Theorie und Praxis von vorsichtigem und selbstkritischem strategischen Denken getrennt wird.

Zum Thema "Identitätspolitik und Linke" siehe auch die Beiträge von David Harvey und Christoph Jünke im Sozialistischen Heft 2.


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