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Die Guten befinden sich im Westen und Norden, die Bösen im Osten und Süden, letztere sind zudem schwarz oder
schwärzlich, sie sprechen eine Schwarze Sprache, die in manchem ans Türkische gemahnt, teils tragen sie asiatische Züge. Diese Welt ist
bevölkert von mehr oder weniger humanoiden Arten, von denen die Menschen nur eine sind (ihrerseits unterteilt in miese, normale und edelmenschliche
Exemplare) und die in verschiedenen Abstufungen von Geburt an gruselig dämonisch, koboldisch, feenhaft, abstoßend teuflisch, Heroen, ländliche
Kleinbürger, edle ritterliche Schwertkämpfer, Engel, Erzengel, erdnähere Halb- und Dreiviertelgötter unter dem weltfernen Eru, dem Einen,
sind.
Die Großen sind physisch groß, stark, waffengewaltig, dazu hell und schön, den
Sternen zugewandt und tragen die Züge ewiger Jugend. Die liebenswürdigen, aber vor allem auch die boshafteren Kleinen sind erdverbundener, hutzelig
und eher hässlich, ihr Blick ist nach unten gerichtet, und manche von ihnen kriechen gern unter die Erde, graben nach ihren verborgenen Geheimnissen, meiden
das Sonnenlicht. Die Beziehungen sind materialisiert in mehr oder weniger magischen Objekten, wie eben den Ringen.
Frauen gibt es auch ein paar , entweder als hohe Heilige oder halb entrücktes Idealbild der
Geliebten, oder als rotbackig handfeste, Kinder zur Welt bringende, den Gatten treu umsorgende Hausfrauen. Feministisch anprechend mag lediglich sein, dass den
Ents, baumähnlichen Baumhirten, vor undenklicher Zeit die Entfrauen weggelaufen sind, um liebliche Gärten anzulegen. Die Sexualität ist im
freudschen Sinne der Wiederkehr des Verdrängten in Bildern und Fantasmen allgegenwärtig und kommt im Klartext nicht vor. Das Erhabene liegt in der
Vergangenheit, die allgemeine Tendenz ist Verfall, die Zeitgenossen wiederholen das Edle, Heroische, großartig Gestaltende Gottes und der Altvorderen im
Westentaschenformat, gleich einem Abglanz, einem kurzzeitigen Wiederaufscheinen früherer goldener Zeitalter im Rahmen eines unaufhaltsamen Bergab.
Kurz, das Ganze ist rassistisch, kryptokatholisch, naiv, elitär melancholisch, sexistisch und
reaktionär. So kann man das (z.B. als definitionsgemäß sauertöpfischer, weil bloß deutsch-radikaler Linker) sehen und schreiben, wie
dies ja auch vielfach getan wird, aber man muss es nicht, und das ist gut so.
Unser Herangehen an den Herrn der Ringe und die ganze imaginäre Welt Tolkiens folgt einem
anderen Ansatz (vgl. dazu auch Jenny Turners höchst anregenden Essay "Reasons for Liking Tolkien", London Review of Books, November 2001).
Dieser Ansatz verkennt mitnichten die Fallstricke des großartigen Kunstmärchens, das der Herr der Ringe samt seinem zu einem kleinen Teil im
Silmarillion zusammengestellten mythologischen Hintergrund und seiner in Der kleine Hobbit erzählten einfacheren und eher für ältere Kinder
verdaulichen Vorgeschichte darstellt.
Natürlich ist Tolkiens Welt weitgehend manichäisch und spiegelt die Ängste und
Träume eines gelehrten weißen ländlich-gemütlichen englischen Kleinbürgers, sein Bedürfnis, den Schrecken der Moderne und
den Anfechtungen seines Aufwachsens zu entfliehen, Pfeife rauchend unter schönen alten Bäumen, oder mit der Feder schreibend, in alten Manuskripten
lesend, möglichst entlegenen und gar fiktiven Wissensgebieten mit philologischer Pedanterie nachforschend, an einem alten schweren Schreibtisch mit
geheimnisvollen holzgeschnitzten Ornamenten. Wir fragen aber anders, zumindest als Ausgangspunkt, warum Tolkiens Welt erst mit der Menschenwelt selbst sterben
wird, während der Millionenerfolg des Harry Potter, dieser literarischen Fehlgeburt, nur seichte Unterhaltung ist, Durst mit Salzwasser stillt ein
Wimpernschlag in der Geschichte der viel gelesenen Bücher.
Bei Tolkien gibt es, anders als bei Harry Potter und anders als in der jüngsten Verfilmung (wo sich der gute Zauberer Gandalf und der böse gewordene
Zauberer Saruman minutenlang entsprechend gegenseitig beharken), keine grotesken Duelle mit dem Zauberstab und überhaupt keine banalen Zitate
abgelutschter Klischees des Genres. Tolkiens Welt hat eine überwältigende Tiefenschärfe, eine nahezu unglaubliche Kohärenz und
Glaubwürdigkeit. Ausgehend von bestimmten, der realen Welt, der philologischen Arbeit, aus überlieferten Mythen, Märchen und
Geschichtsvorstellungen entnommenen sowie eigens im Zuge der Entfaltung der Erzählung erfundenen, ihrer Ursprünge in der realen Erfahrung nicht
immer völlig bewussten Elementen schafft Tolkien eine Welt, in der "eine Meile eine Meile ist". "Solche Dinge sind mir wichtig",
erklärte er selbst.
Gandalf, Träger des Rings mit dem roten Stein, gebietet über das Feuer, aber in
Grenzen. Im Schneesturm auf einem hohen Berg geraten die Reisegefährten in Not und bitten ihn, sein Feuer zu entzünden. Er verweist darauf, dass er
dafür immerhin brennbares Material braucht.
In der Hoffnung, diesen Fachbegriff der Literaturwissenschaft hier nicht missbräuchlich
anzuwenden, würden wir die für Tolkiens Werk typische Atmosphäre "magischen Realismus" nennen. Die Verzauberung, die Magie
dieser Welt ändert nichts an ihrer Materialität, und die sich in ihr bewegen, unterliegen beschränkenden Vorgaben, die jenen unserer realen Welt
ähneln. Das Feeische der überhöhten Humanoiden erhellt sehr viel mehr daraus, wie sie sprechen und singen, wie sie sich bewegen, wie sie sich
freuen und trauern, wie sie auf andere wirken als aus ihren Kunstückchen und Kniffen.
Bevor Tolkien den Herrn der Ringe schreiben konnte, musste er zunächst eine Reihe von in
sich enorm schlüssigen Kunstsprachen erfinden (angelehnt etwa ans Keltische, aber auch an das von ihm so geliebte Finnische usw.), die untereinander
verschiedene Verwandtschaftsgrade aufweisen, das heißt, fiktiv sprachgeschichtlich miteinander zusammenhängen. Bevor der Herr der Ringe das Licht
der Welt erblickte, hatte er bereits den soliden Boden der Legende unter den Füßen, eine hoch komplexe, teils mythologisch, teils realgeschichtlich
gedachte Vorgeschichte, samt einer eigens entwickelten Version der Genesis, die wirkt wie in Stein gemeißelt, ganz wie das biblische Original. Die
pseudowissenschaftlichen, aber wissenschaftlicher Akribie entsprungenen Anhänge des Herrn der Ringe mit ihren Karten, mit ihren Hinweisen zur Aussprache
des Elbischen und des Orkischen, ihrer Darstellung der Buchstaben verschiedener Sprachen, ihren Legendenfragmenten, Kalendern, philologischen Querverweisen,
Ahnentafeln von Königshäusern, mit ihren auf verschiedenen Zählungen beruhenden Jahresangaben und mit ihrer Präsentation vorgeblicher
historisch-dokumentarischer Fundstücke, diese Anhänge entsprangen vieljähriger Arbeit, waren schon da, als Tolkien begann, die Geschichte selbst
zu erzählen. Wie einer seiner Söhne erzählte, verhielt er sich in späteren Jahren zu seinem eigenen erzählerischen Werk wie ein
Forscher, der sich mühte, die mindeste Inkohärenz, sei es durch das Hervorkramen neuer Fundstücke, sei es durch wohl fundierte
pseudohypothetische Spekulationen, aus der Welt zu schaffen.
Die Ringe der Macht sind, ähnlich dem Geld der wirklichen Welt, dinglich gewordene Beziehungen zwischen Menschen, die man mit sich herumtragen,
finden, verdienen, verschenken, verlieren und benutzen kann. Bis zu einem gewissen Grad führen sie ein Eigenleben und verändern ihren Besitzer, und
ihr Einsatz, soll er nicht in Grauen und Tragik umschlagen, verlangt ihren Trägern einiges ab.
Es handelt sich bei den Ringen um Allegorien der Macht über die Natur und vor allem der
Macht über andere. Besonders gilt dies vom Einen Ring, der alle anderen beherrscht, jenen, den der Hobbit Frodo schließlich in das Feuer des
Schicksalsbergs werfen muss, um die Macht des Oberbösen des Dritten Zeitalters, die Macht Saurons, zu brechen. Tolkien selbst hat den Sinn der Allegorie
erzählt. Macht über andere Menschen zu gewinnen, sagt er, bedeutet immer, etwas von sich selbst verlieren. Elbenfürstin Galadriel (darin anderen
wirklich Großen der Seite des Guten gleich) lehnt daher das Angebot ab, den Ring zu tragen. Aber würde sie den Bösen damit nicht sehr viel
wirksamer bekämpfen? Anfangs schon, entgegnet sie, doch dann würde sie peu à peu selbst zur Dunklen Herrscherin. Sie will lieber Galadriel
bleiben (diese Szene wird sogar im Film ansprechend dargestellt). Macht korrumpiert und deformiert nicht nur welcher Gedanke passabel banal zu sein scheint
, sie bedeutet auch immer eine spezifische Form der Abhängigkeit des Mächtigen von anderen, ohne die er nicht ist. Sein Stress, seine Paranoia,
sein besonderes Leiden besteht darin, die anderen immer in Angst und Schrecken halten und gegeneinander ausspielen zu müssen, um nicht selbst unterzugehen.
Doch die Guten, wie kämpfen sie und warum können sie gewinnen? Der Zauberer
Gandalf alias Mithrandir ist eigentlich Olórin von den Maiar, einer Art Halbgötter. In Valinor, dem olympischen Paradies der weltnahen Götter,
lernte er von der Vala (Göttin) Nienna die Kunst der Geduld und des Mitleidens. Das ist seine Hauptwaffe, "denn immer bleiben dem Mitleidlosen die
Werke des Mitleidens fremd und unabsehbar", wie man der Eärendil-Geschichte im Silmarillion entnehmen kann.
In diesem Zusammenhang stellt sich der Manichäismus der Erzählung als
Oberfläche dar, die hier und da immer wieder durchbrochen wird. Die Kleinen sind nicht wirklich klein, sie tragen in sich die Möglichkeit der
Größe, und die Hobbits, die eigentlich dazu dienen, die Großen und Edlen zu bewundern, entscheiden schließlich den Ausgang des ganzen
Dramas. Den böse gewordenen hobbit- und koboldartigen Sméagol alias Gollum lässt Gandalf aus Mitleid laufen, und weil er "vielleicht
noch eine Rolle" zu spielen habe im Kampf gegen das Böse (was dann natürlich auch eintritt, man ist ja nicht umsonst Autor). Selbst die
Bösen sind gewiss, gewiss gefallene Engel oder von diesen verdorbene Kreaturen, und fast scheint es manchmal, als seien auch sie heilbar.
Eine Welt mit verschiedenen Menschenarten und menschenähnlichen Arten hätte
übrigens sehr gut entstehen können, und in Wirklichkeit gab es sie in der realen Naturgeschichte. Sie hätte andere Anforderungen an die Menschen
gestellt, ihre "Vorgeschichte" (in der wir uns im marxschen Sinne noch immer befinden) zu überwinden, wenn sie anders gesagt (im emphatischen
Sinne) zu sich selbst, zur Entfaltung wirklicher Menschheit und Menschlichkeit hätten kommen wollen. In Wirklichkeit haben wir unsere biologisch
nächsten Verwandten, die Schimpansen und Bonobos, neben unzähligen anderen Arten nahezu ausgerottet. Wie hätten wir uns gegenüber
Australopithecus oder Horden von Homo habilis oder Homo erectus verhalten? Wie hätten diese uns wahrgenommen? Uns schwant nichts Gutes. Und wirklich,
was für eine Herausforderung, denn wir hätten nicht zu uns selbst finden können, wenn wir jene unmenschlich behandelt hätten. Auch diese
Fantasie regt die Lektüre Tolkiens heute an.
Wie stellt Tolkien Unsterblichkeit und Vergänglichkeit dar? Menschen sind bedrückend kurzlebig und gehen gut katholisch davon aus, dass sie eines
Tages auferstehen und dann vielleicht ewig leben, aber sie wissen nichts Genaues und Gewisses darüber. Elben sterben normalerweise nicht, können aber
getötet werden (man stelle sich die Anforderungen an kriegerischen Mut unter solchen Bedingungen vor!), aus Fernweh diese Welt Richtung Valinor verlassen
oder aus Überdruss am Dasein dahinsiechen. Ihre Form der Unsterblichkeit, eine pragmatische (wenn man so will), entspricht aber im Allgemeinen haargenau
dem wirklichen Lebendigen: Sie sind an ihre reale Welt gebunden, und mit ihr sterben sie gewiss (mit unserer Erde sterben sogar die Bazillen).
Außerhalb des Herrn der Ringe schildert Tolkien das Leiden der Elbin Arwen, die
Menschenschicksal gewählt hat, dem König Aragorn alias Elessar (Elbenstein) zuliebe, dem menschlichen Übermenschen par excellence. Der ist
ziemlich langlebig, doch stirbt er schließlich, wobei es ihm gegeben ist, sich hinzulegen und friedlich zu entschlafen, wann es ihm passt, um dem Altern und der
Vergreisung zu entgehen. Die knappe Schilderung der Bitternis Arwens am puren Verlust des Geliebten und am puren, in unbekannter naher Zukunft liegenden
eigenen Ableben ist gerade deshalb gelungen, weil jede Zutat fehlt: Immerhin war das Leben beider sehr lange, ohne Fehl und Tadel, strahlend.
Solche Miniaturen ließen sich viele vortragen. Gegen Ende dieser kurzen Würdigung
von Tolkiens Werk ist es vielleicht angebracht, auf ein paar denkbare Gemeinsamkeiten mit diesem konservativen Kerl hinzuweisen. Auf den Vorwurf, er sei
reaktionär und fortschrittsfeindlich, entgegnete er zu Recht, er sehe nicht ein, wieso ein Auto wirklicher sein soll als ein Baum, ein Pferd oder ein Elb. Und:
auch unser Schwert, das des revolutionären Sozialismus, ist gleich Elendils verrostet und geborsten und muss neu geschmiedet werden. Auch wir
kämpfen ohne jede Gewissheit um den Ausgang für eine bessere Welt und ein besseres Leben (in der einzigen Gewissheit um die Vergänglichkeit
dieser Welt und wie sehr der Kapitalismus dieses Ende zu beschleunigen droht). Und jene Verzauberung oder Beseelung, von denen zu träumen die guten
Märchenerzähler anregen, entsprechen sie nicht der Atmosphäre revolutionärer Prozesse, die wir herbeisehnen wie jenen "Boten
jenseits aller Hoffnung", der Eärendil für Menschen und Elben war?
Manuel Kellner