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Es hat sich etwas geändert in Polen: Die Arbeiter der Stettiner Werft haben verlangt, dass ihr Betrieb wieder verstaatlicht
wird, die Arbeiter von Ozarow (Kabelwerk bei Warschau) stellen sich der Polizei entgegen, selbst die Erwerbslosen fangen an sich zu organisieren. Nach Jahren
der "Transformation" fallen die Trugbilder des "sozialen Kapitalismus" in sich zusammen. "Die Polen wollten es bei sich haben
wie in Amerika, aber sie dachten nicht, dass es Lateinamerika würde", sagt ein altes Scherzwort.
"Wir protestieren gegen den Einsatz der Polizei gegen Arbeiter, die in Ozwarow legal demonstrieren!" Jacek Kuron und Karol Modzelewski, die
beiden Hauptprotagonisten der Opposition gegen das stalinistische Regime, die 1964 zusammen einen Offenen Brief an den damaligen Regierungschef Gomulka
adressiert hatten, haben sich nun erneut und wieder gemeinsam mit einem Offenen Brief an Premierminister Leszek Miller gewandt, der auch von
Gewerkschaftern der Solidarnosc wie auch der OPZZ (früher die regimetreue Gewerkschaft) unterzeichnet worden ist. Damit reagierten sie auf einen
brutalen Polizeiangriff gegen die Arbeiter, die ihren Betrieb in Ozarow Mazowiecki bei Warschau besetzt hielten.
Anfang 2001 wurde das Kabelwerk Ozarow (FKO) von Tele-Fonika Krakau gekauft. Für
die Branche war das eien schwierige Zeit. Die polnische Telekom, die von France Télécom kontrolliert wird, erteilte ihre Aufträge an die
französische Alcatel und nicht an Tele-Fonika. Am 19.April 2002 informierte der Leiter von Tele-Fonika, Boguslaw Cupial, dass FKO geschlossen werde.
"Er will für seine anderen Werke die Konkurrenz aus dem Weg räumen", sagen die Gewerkschafter von Ozarow. Die Bitterkeit unter
der Belegschaft war groß, die Mehrzahl unter ihnen arbeitet hier seit 20 Jahren. Das Leben in Ozarow dreht sich um FKO.
Die Arbeiter beschlossen also, das Werk zu besetzen und die Maschinen nicht
herauszurücken, die Cupial in seine neuen Werke abtransportieren wollte. Die Aktion wurde von der Stadtverwaltung abgesegnet.
Am 27.November trat die Aktion in ihren 220.Tag. Gewerkschaftsdelegationen aus ganz Polen
hatten sich an ihr beteiligt. An diesem Morgen aber griffen private Sicherheitskräfte, die von Cupial angeheuert waren, die Blockierer an. Es war ein harter
Kampf. Die örtliche Feuerwehr unterstützte die Arbeiter und setzte Wasserwerfer gegen die Angreifer ein. Als die Arbeiter die
Sicherheitskräfte umzingelt hatten, trat die Polizei in Aktion zur "Verteidigung des geheiligten Rechts auf Eigentum", wie der
Polizeikommandant danach erklärte. Es gab Verwundete und Verhaftete.
Die ersten Lkw mit den demontierten Maschinen verließen das Werk. Aber der Protest
wurde fortgesetzt. In den nachfolgenden Tagen gab es neue Versuche von Blockaden. Die Polizei suchte in der ganzen Stadt nach
"Rädelsführern". Steine flogen gegen Polizeiautos. "Zomo! Gestapo!" konnte man auf den
Häuserwänden von Ozarow lesen. (Zomo waren die Einheiten zur Aufstandsbekämpfung unter Jaruzelski.) Gewerkschaftsdelegationen aus
anderen Betrieben kamen den Streikenden zu Hilfe, aber auch junge Globalisierungskritiker von Attac Polen (ein Attac-Mitglied wurde verwundet).
Die katholische Kirche versuchte, den Protest auf ihre Mühlen zu leiten. Ein
Abgeordneter des Polnischen Familienverbands trafft in Ozarow ein; aber Cupial ist ein polnischer Unternehmer, vor wenigen Monaten noch galt er als ein
Musterbeispiel für polnische Kapitalisten.
Am 1.Dezember zog sich die Polizei zurück; die Lkw konnten nicht mehr bis zum Werk
vordringen, um die restlichen Maschinen abzuholen. Die Regierung versprach, ein Hilfswerk für Unternehmer in Ozarow einzurichten, aber die Leute sind
nicht auf den Kopf gefallen: das bedeutet Steuerbefreiung für die Unternehmer, und für die Arbeiter keine neuen Arbeitsplätze, das verstehen
sie.
Nach der Schlacht gab es über ein Dutzend Verwundete, mehrere Dutzend Menschen
wurden verhaftet und angeklagt.
Bemerkenswert ist, dass ein moderner Betrieb geschlossen wurde, nicht das Werk einer
"archaischen" Industrie wie bspw. die Stahlindustrie. Statistiken bestätigen, dass Polen einen Prozess der Deindustrialisierung durchgemacht
hat. In den größten Branchen der Industrie wurden nach einem Bericht des Regierungsinstituts für Strategische Studien (Juli 2002) in den
letzten zehn Jahren die Hälfte der Arbeitsplätze zerstört nicht weil die Produktivität so stark gestiegen wäre, sondern
weil die Betriebe einfach geschlossen wurden. Selbst hochmoderne Industriezweige wie die Mikroelektronik, Informatik, Ausrüstung für
Telekommunikation wurden davon betroffen.
Schlesien könnte zum Symbol für den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang werden. Die Region mit der großen Industrietradition, in
der sich einst Stahl und Bergbau konzentrierten, ist heute trostlos. Erwerbslose greifen sogar Kohlezüge an, um sie zu plündern und das
"schwarze Gold" zu verkaufen. Die örtlichen Behörden haben sich in einen Wahn geredet, in Schlesien könne ein neues Silicon
Valley entstehen; die Realistischeren unter ihnen behaupteten immer noch, die "Transformation" werde helfen, die schlesische Industrie zu
modernisieren. Aber auf dem Weltmarkt wird die polnische Industrie den Konkurrenzkampf verlieren, weil sie keine Investitionen bekommt.
Schlesien ist aber auch die Region mit der kämpferischsten Arbeiterklasse; sie
konzentriert sich vor allem in der Bergarbeitergewerkschaft. Als im Dezember 2002 die Entlassung von 35000 Bergleuten angekündigt wurde, stand die
gesamte Region auf: Fast täglich gab es Demonstrationen, Streikposten, eine Abstimmung über einen Generalstreik in den Zechen bei der
aktuellen wirtschaftlichen Lage eine schwierige Sache, die dennoch von der Mehrheit der Kumpels unterstützt wurde. Die Regierung musste einen
taktischen Rückzug antreten, will aber an ihren Plänen, die Kohle zugunsten der Versorgung mit Erdgas aufzugeben, festhalten.
Die große Wende in der sozialen Situation kam mit der Gründung des Nationalen Protestkomitees (OKP) im Juli 2002. Ihr lag eine breite
Protestwelle für die Verteidigung der Werft in Stettin zugrunde. Die Arbeiter forderten die Neuverstaatlichung der Werft, die vor einigen Jahren
privatisiert wurde. OKP ist ein Netzwerk unterschiedlicher Gewerkschaften aus über zehn Betrieben, die wie Ozarow in Konkurs
gegangen sind. OKP hat gefordert, dass die Privatisierungen gestoppt werden und die Möglichkeit geschaffen wird, notleidende Betriebe wieder zu
verstaatlichen. Das ist eine Premiere in Polen! Aktivisten von OKP nahmen in Florenz am Sozialforum teil, und im Januar 2003 hat OKP offiziell beschlossen,
auch am kommenden Europäischen Sozialforum in Paris teilzunehmen.
Die Verankerung von OKP ist sehr ungleich und seine Mobilisierungsfähigkeit begrenzt,
aber es ist dennoch die erste radikale Struktur, an der mehrere Gewerkschaften beteiligt sind, die sich im Kampf für "ein besseres Europa"
engagiert. Das stellt für die beiden großen, bürokratisierten Gewerkschaftszentralen Solidarnosc und OPZZ , die jeweils mit
einem der beiden großen politischen Lagern, die liberale Rechte und die postkommunistische "Linke" verbunden sind, eine große
Herausforderung dar.
Die reale Erwerbslosigkeit liegt in Polen bei 44,5 Millionen Menschen. In vielen Städten sind etwa 30% der Menschen arbeitslos so in
den Städten an der Grenze zu Deutschland.
Das hat dazu geführt, dass sich seit drei, vier Jahren die Arbeitslosen in Polen
organisieren. Solche Erwerbslosenorganisationen gibt es fast in jeder Region, einige stehen unter dem Einfluss der Kirche, andere von randständigen
politischen Parteien; das politische Bewusstsein ist niedrig, aber sie führen radikale Aktionen durch: besetzen Arbeitsämter, demonstrieren, machen
Erwerbslosenmärsche von Kattowitz nach Warschau, dringen in das Nationalparlament ein usw.
Sie unterstützen sehr fortschrittliche Forderungen wie die nach kostenlosem
öffentlichen Nahverkehr für Erwerbslose, ein garantiertes Mindesteinkommen, ein Programm öffentlicher Arbeiten usw. Sie stehen jetzt vor
der Aufgabe, eine nationale Koordination ihrer Organisationen bilden zu müssen und sich in den Kampf der Erwerbslosen auf europäischer Ebene
zu integrieren. Dank dem Europäischen Sozialforum konnten einige polnische Erwerbslosenorganisationen mit ihren westlichen Kollegen Kontakte
knüpfen.
Die Linke in Polen ist in ihrer großen Mehrheit sozialdemokratisch, sie regiert nach der Art von Blair, flexibilisiert die Arbeitsmärkte, nimmt
den Erwerbslosen ihre Rechte, macht den Unternehmern Geschenke. Aber jetzt gibt es zum ersten Mal die Möglichkeit, dass aus den sozialen
Kämpfen eine neue polnische Linke entsteht, eine die konsequent links ist.
Konrad Markowski
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