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Der New York Times zufolge sind Iraks Stämme Objekt wachsender Aufmerksamkeit zu einem Zeitpunkt, da die US-
Regierung nach einer Alternative zum Saddam-Regime in Baghdad sucht, die größere Glaubwürdigkeit besitzt als die bislang von ihr
alimentierte Exilopposition. Die Zeitung weist darauf hin, dass in Afghanistan Barzahlungen an verschiedene Stämme einiges bewirkt habe, um die
Taliban los zu werden. Über ähnliche Vorhaben werde betreffs des Iraks berichtet, aber kaum jemand glaube, dass es hier so leicht sein werde.
Die New York Times spricht im Irak von 150 Stämmen mit insgesamt 2000 Clans. Die
Größe variiere zwischen über 1 Million Menschen und ein paar tausend. 30-35 der größeren Stämme spielten eine zentrale
Rolle für die Kontrolle des Iraks, es sind überwiegend nomadisch geprägte Viehzüchterstämme.
Nachdem ihre Bedeutung im Verlauf der kapitalistischen Durchdringung des Landes während des 20.Jahrhunderts deutlich zurückgegangen
war, nahm sie jedoch unter dem Regime Saddam Husseins seit Mitte der 80er und verstärkt in den 90er Jahren wieder zu.
Der Anteil der Beduinen, die sesshaft zu machen sich der irakische Nationalstaat des 20.
Jahrhunderts eifrig bemüht hat, ist zwar unter 2% der Bevölkerung gefallen. Aber bis auf einige Gebiete im Osten und den Großteil des
gebirgigen Kurdistans ist auch die bäuerliche Bevölkerung des Landes im Irak kulturell stark beduinisch geprägt.
Ungeachtet ihrer Sesshaftmachung und Verwandlung in Bauern waren die Stämme im
Irak des 20.Jahrhunderts alleine deshalb von besonderer Bedeutung geblieben, weil der 1920 gegründete irakische Staat etwa im Vergleich zum Iran oder
der Türkei mit ihrer alten Staatsgeschichte ein durch seine ethnische und religiöse Vielfalt strukturell besonders schwaches Produkt des britischen
Imperialismus war. Ein solcher Staat konnte die soziale Funktion von Stamm und Familie nicht wirklich ausfüllen.
Das Königshaus war ein von den Briten geschützter Import aus dem arabischen
Hejaz, und die republikanischen Regime seit 1958 waren zumindest bis zum Machtantritt Saddams Militärdiktaturen. Nachdem sich
sowohl die Kurden als auch die Schiiten geweigert hatten, mit der Kolonialmacht zu kollaborieren, stützte diese sich wie ihre osmanische
Vorgängerin zur Verwaltung des Landes weitestgehend auf die sunnitische arabische Minderheit, die bis heute das Rückgrat des Regimes in
Verwaltung und Militär darstellt und die vor allem im Zentrum des Landes lebt.
Die panarabisch-nationalistische Baath-Partei konnte mangels Unterstützung durch die
Bevölkerung sowohl Anfang der 60er Jahre als auch 1968 nur auf dem Rücken eines Militärputsches die Macht erringen. Durch den
Erdölboom nach 1973 konnte sich das bis heute herrschende Regime, welches sich formal auf diese Partei stützt, eine bis dahin nicht gekannte breite
Unterstützung in der Bevölkerung erkaufen. Sowohl der zehnjährige Krieg gegen den Iran als vor allem auch die Folgen des Kuwait-
Abenteuers und des Embargos gegen das Land hat die damals entstandene breite Mittelklasse und Basis des Regimes jedoch weitgehend zersetzt.
In dieser Situation haben vorkapitalistische Bindungen erneut an Bedeutung gewonnen und durch den totalitären Charakter der Baath-Herrschaft die
Schwäche moderner zivilgesellschaftlicher Strukturen verstärkt. Das Regime hat bereits im Krieg gegen die Islamische Republik Iran ungeachtet
des ursprünglich stark säkular ausgerichten arabischen Nationalismus der Baath-Partei den Islam als Herrschaftsideologie reaktiviert und
andererseits sowohl im Gegensatz zum Panarabismus als auch zur islamischen "Umma" den irakischen Nationalismus angefacht.
Bei allen Versuchen, diese oder jene bis dahin eher abgelehnte Ideologie zu
instrumentalisieren, ist es jedoch die Ideologie der Blutsbande, hier der Tribalismus, auf die als offensichtlich sicherste Basis zurückgegriffen wird. Das
gilt sowohl für die Bevölkerung als auch insbesondere für das Regime. Während das Regime zuvor offiziell die
Rückschrittlichkeit des Stammessystems angeprangert hatte unter Vertuschung der eigenen Stammesbasis, begann es während des Krieges mit dem
Iran, die Stämme zu bewaffnen und ihnen, das heißt ihren Scheichs, zunehmende Autonomie in stammesinternen Angelegenheiten zu geben. 1992
versammelte Saddam dann in seinem Palast wichtige Stammesführer und entschuldigte sich für die früheren Maßnahmen des Regimes
einschließlich der Agrarreform der frühen 70er Jahre.
In der Tat verdankte das gegenwärtige Regime seine für irakische
Verhältnisse außergewöhnliche Stabilität lange der Kombination von Armeedisziplin, Stammesbeziehungen und Parteistrukturen auf
dem Hintergrund des Ölbooms, während seinen republikanischen Vorgängerregimen sowohl die Partei als auch der Ölboom fehlten.
Nun hat die Baath-Partei, die 1991 1,8 Millionen Mitglieder zählte, inzwischen über die Hälfte davon verloren, vor allem im Süden,
aber auch in Baghdad und den mittelirakischen schiitischen Städten Najaf und Kerbelah. Der Rückgriff auf die Stammesstrukturen wird damit umso
wichtiger.
Nach zahlreichen oft blutig ausgetragenen Konflikten hat sich heute Saddams Stamm der Abul
Nasir mit seinem Zentrum, dem Beijat-Clan und dem Albu-Ghaffour-Unterclan im innersten Machtbereich des Regimes durchgesetzt. Angesichts des drohenden
Überfalls durch die USA und der guten Erfahrungen, die das Regime bereits 1974 gemacht hatte, als es verschiedene kurdische Stämme gegen den
damaligen Aufstand der kurdischen Nationalisten unter Mustafa Barzani gekauft und bewaffnet hatte, hofiert das Regime jetzt in Konkurrenz zu den USA
abermals die Stämme.
Die New York Times berichtet über den Stamm der Bani Khalid bei Mossul. Dessen Führer, Scheich Talal, erzählt, er habe vom
Verantwortlichen der Baath-Partei in Mossul zusätzlich zu den ohnehin vorhandenen leichten Waffen schwere wie Flak und panzerbrechende Waffen
angefordert, um mit seinen 100000 Bewaffneten den Amerikanern Widerstand zu leisten. Allerdings wartet er noch auf eine Antwort. In der Tat mag sich das
Regime nicht so sicher sein, dass diese Waffen wirklich gegen die Amerikaner eingesetzt werden. Zur Stammeskultur gehört schließlich auch eine
nur bedingte nationale Loyalität und der Konflikt mit anderen Stämmen.
Wie Oppositionskräfte in London berichten, versuchen die USA überdies, sich mit
Sheikhs verschiedener Stämme in den Nachbarländern zu verständigen, die alle auf die eine oder andere Weise mit großen
Stämmen innerhalb des Iraks verwandt sind. Bei allen oft generationenalten blutigen Fehden zwischen und innerhalb der Stämme bleibt die
Tatsache, dass der Angreifer diesmal weder arabisch noch muslimisch ist. Das könnte ihm ebenso zum Verhängnis werden wie den Briten im Ersten
Weltkrieg. Statt wie erwartet von den irakischen Stämmen als Befreier vom osmanischen Joch begrüßt zu werden, wurden Zehntausende
britischer Soldaten massakriert.
Anton Holberg
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