SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2003, Seite 24

HipHop-Hysterie

Seriöse Sozialkritiker konnten einst die HipHop-Lieferanten als eine vulgäre, einen ghettozentrierten Lebenstil preisende Bande abqualifizieren. Nun nicht mehr. HipHop ist zu einem der einflussreichsten Kulturexporte der USA geworden. In faktisch jeder Stadt auf dem Planeten gibt es HipHop- Gemeinschaften, die nicht nur die Musik und den Sprechgesang übernommen haben, sondern auch die Kleidung und den Lebensstil der schwarzen und Latino- Jugendlichen, die das Genre geschaffen haben.

Der vielleicht am leichtesten zu übertragende Aspekt des HipHop ist seine existenzielle Sensibilität — seine Feier des Ortes, trotz aller Beschränkungen. Mit verbaler Gewandheit verwandelten sich die Schöpfer des HipHop von Ghettobewohnern in geschätzte Charaktere, die in komplexen Erzählungen verwickelt sind. Der HipHop verschaffte ihren Nachbarschaften kulturelle Geltung und mythische Resonanz.
Etwa ein Vierteljahrhundert nach seiner Entstehung ist das Genre eine 5-Milliarden-Dollar-Industrie geworden, verursacht jedoch weiterhin Ärger in seinem Herkunftsland. Von einem wachsenden Chor der Kritiker belagert, die es beschuldigen, dass seine Verherrlichung des "Gangsterlebens" Frauenverachtung, Gewalt und Verbrechen befördere, sind die Verfechter des HipHop in der Defensive. Dies ist keine neue Position; seit seinem Auftauchen aus den Ghettos von New York in den späten 70er Jahren haben viele Mainstreamkritiker den HipHop als ein dysfunktionales Element der Popkultur verurteilt, als einen Soundtrack für Soziopathen. Die Morde an einigen der populärsten HipHop-Künstlern sind ein machtvolles Argument seiner Verächter.
Eine Hingabe an die "Authentizität" ist ein bedeutender Wert, der verlangt, dass HipHop-Künstler eng mit den Ängsten und Bestrebungen jener Gemeinschaft verbunden bleiben, die sie hervorgebracht hat. Aber da Mord weiterhin die Haupttodesursache für junge männliche Schwarze ist, mag es sein, dass der HipHop etwas zu sehr an der Realität ist.

Mord und Totschlag

Kommerzielle Motive haben das Genre entstellt und korrumpiert. Die Plattenindustrie benutzt persönliche Rivalitäten zwischen Rappern als Vermarktungsstrategie. Der Streit unter Rappern kann die Profite hochschnellen lassen, aber auch Schaden anrichten. Carlton "Chuck D" Ridenhour, Frontman der einflussreichen Gruppe Public Enemy, macht den Streit zwischen Ost- und Westküste dafür verantwortlich, dass die Rap-Welt Mitte der 90er Jahre durch ein von der Plattenindustrie geschürtes "Klima der Gewalt" faktisch gelähmt worden sei. "Ich glaube, die Kultur ist durch die Gewalt missbraucht worden", äußerte er gegenüber Newsday nach dem Mord an Jason "Jam Master Jay" Mizell von Run-DMC in dessen Studio in Queens.
Viele führen die unaufgeklärten Morde an zwei der größten Rap-Ikonen, Tupac Shakur und Christopher "the Notorious B.I.G." Wallace, im Jahre 1996 auf eine Fehde zwischen rivalierenden Plattenlabels zurück. In einer zweiteiligen Serie in der Los Angeles Times im September lieferte der Pulitzerpreisträger Chuck Philips Munition für jene, die das mörderische Szenario vieler Rap-Texte mit dem Lebensstil seiner wichtigsten Vertreter in Zusammenhang bringen. Er berichtete, dass Shakurs Mörder ein Bandenmitglied sei, den der Rapper zuvor am Abend in Las Vegas angegriffen habe. Brisanter ist Philips‘ Behauptung, dass Wallace eine Prämie für den Mord gezahlt und die Waffe besorgt habe.
Aber Philips‘ Schlussfolgerungen werden in Biggie and Tupac, einem neuen Dokumentarfilm von Nick Broomfield, bestritten. Der Film, der sich stark auf ein Buch von Randall Sullivan stützt (LAbyrinth), verweist auf Marion "Suge" Knight, CEO von Death Row Records (jüngst umbenannt in Tha Row Records), als die lenkende Hand hinter beiden Morden. Broomfield und Sullivan spekulieren, dass Knight den Befehl für die Morde gab, weil Shakur vorhatte, Death Row Records wegen ausstehender Honorare zu verklagen, und dass der Mord an Wallace den ersten Mord wie einen Bestandteil der Fehde zwischen Ost- und Westküste aussehen ließ.
Wie Sullivans Buch basiert der Film zum großen Teil auf den Behauptungen des früheren Polizeiermittlers Russell Poole aus Los Angeles, der sagt, dass er von der Verfolgung solider Spuren in dem Fall abgebracht worden sei, weil sie auf eine Verstrickung der Polizei hindeuteten. Einer der provokantesten Aspekte von Broomfields Film ist die Behauptung von Wallace‘ Mutter, dass das FBI beide Rapper zur Zeit ihrer Ermordung überwacht hätte. "Es überraschte mich, dass Biggie und Tupac so lange überwacht wurden — über Monate hinweg, besonders im Falle von Biggie", äußerte Broomfield gegenüber Village Voice im September. "Er wurde nicht als politische Gestalt betrachtet, aber er und Tupac und Rapper im Allgemeinen werden vom FBI als Herde potenzieller politischer Unruhe betrachtet."
Manche behaupten, dass HipHop-Fehden von Bundesbehörden in derselben Weise angestachelt werden, wie die Geheimdienste die militanten Organisationen der Schwarzen in den 60er Jahren gegeneinander aufgehetzt hatten. "Der einzige Weg, beiden Morden auf den Grund zu gehen, ist ein für allemal herauszufinden, was die US-Regierung über sie weiß", schreibt Cedric Muhammad von Blackelectorate.com, einer Website, die verschiedene Beiträge darüber gebracht hat und in denen behauptet wird, dass eine Geheimdienstkampagne gegen Rapper im Spiel sei.
Die New York Times enthüllte die Existenz einer speziellen New Yorker Polizeieinheit, die geschaffen wurde, sich speziell auf die HipHop-Industrie zu konzentrieren, Gewaltakte und andere Verbrechen zu untersuchen und sich mit "Ermittlern auszutauschen, die in Kalifornien und Florida eine ähnliche Arbeit verrichten".
Das FBI untersucht, ob der Mord an Jam Master Jay mit dem organisierten Verbrechen verbunden ist, berichtet der Nachrichtendienst Ananova.com, und "Bundesbehörden sagen, dass einige ungenannte Stars der Rap-Industrie wegen möglicher krimineller Verschwörungen genauestens überwacht werden".
Wenn tatsächlich das FBI die Saat der Spaltung sät, so ist die HipHop-Szene ein fruchtbarer Boden. Wenngleich diese Morde vorübergehend Anfälle von Reue und öffentliche Gesten der Selbstreflexion hervorriefen, scheint sich am brutalen, materialistischen Kern der Rap-Kultur wenig geändert zu haben.

Islam

Ironischerweise gerät nun einer der sozial bewusstesten Bereiche des HipHop verstärkt unter den prüfenden Blick der Bundesbehörden, und zwar aufgrund angeblicher Verbindungen zwischen den "Beltway-Killern" und einer islamischen Gruppe, die als Five Percenters bekannt ist. Gewisse Ausdrücke und Symbole, die von den Beschuldigten John Muhammad und Lee Boyd benutzt wurden, gehören zum gemeinsamen Jargon der Gruppe.
Insidern als Nation of Gods and Earths bekannt, wurden die Five Percenters 1964 in New York von Clarence "13X" Smith gegründet. Smith war während der Hoch-Zeit von Malcolm X der Nation of Islam (NOI) beigetreten und stieg bis zum Funktionär des Harlem Temple der NOI auf. 1964 wurde er exkommuniziert und bildete rasch seine eigene Organisation, die sich auf Aspekte der NOI- Philosophie gründete. Smith nahm später den Namen "Father Allah" an und gründete einen Laden in Harlem, wo er bis zu seiner Ermordung lehrte (es gibt Theorien, die den Mord mit der New Yorker Polizei oder der NOI in Verbindung bringen).
Smiths esoterische Straßenphilosophie dreht sich um die Auffassung, dass das Universum nach mathematischen Prinzipien funktioniert und der Schlüssel zum Erfolg (sowohl persönlich als auch kollektiv) im Verständnis dieser Prinzipien liegt. Wird ein Mann erst einmal Herr seiner selbst, wird er ein Gott, der "einzige Kontrolleur" seines Schicksals. (Five Percenters bezeichnen Männer als "Götter" und Frauen als "Erden".)
Der Name der Gruppe rührt von dem Glauben her, dass 85% der Menschheit infolge des Nichterkennens ihrer eigenen Göttlichkeit der Selbstzerstörung anheimfallen werden. Die nächsten 10% haben Selbsterkenntnis, aber sie benützen sie, um die 85% auszubeuten und zu manipulieren; sie werden als "Blutsauger der Armen" bezeichnet. Die restlichen 5% sind jene "armen rechtschaffenen Lehrer", die Selbsterkenntnis haben (d.h. die sich ihrer Göttlichkeit im Kern ihrer Identität bewusst sind) und "Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit für die gesamte menschliche Familie" lehren. Sehr ähnlich der NOI betonen die Five Percenters stark Familie, Erziehung und Selbstvertrauen. Obwohl die NOI-Doktrin des Drogenverbots fehlt, preisen sie Selbstkontrolle und verbieten "unzivilisiertes" Verhalten.
Einige der wichtigsten Neuerer des HipHop sind Five Percenters: Rakim (den manche als besten Texter des HipHop bezeichnen) ist Mitglied, ebenso wie die Rapper Nas und Busta Rhymes und der Sänger Erykah Badu. Zahlreiche Rap-Gruppen, darunter Brand Nubian, Gang Starr, Mobb Deep und der Wu-Tang Clan gehören dazu. Ein großer Teil des HipHop-Vokabulars hat seine Wurzeln in der Ideologie der Five Percenters.
Ted Swedenburg, ein Anthropologe der University of Arkansas, der die NOI und ihre Ableger seit Jahren untersucht, verglich den heutigen "Islamic Rap" mit der Verbreitung afrozentrischer Ideen in den Zeiten eines Marcus Garvey und Noble Drew Ali. Aber durch die Musik ist der Einfluss der Five Percenters weit größer geworden. "Interessant ist hier die Tatsache, dass diese häretischen, esoterischen Lehren aus ihren bislang obskuren Herkunftsorten in das Zentrum der globalen Kultur gelangt sind", schrieb Swedenburg 1997.
Aber mit der größeren Sichtbarkeit nimmt auch der prüfende Blick zu. Die Justizbehörden von New Jersey und South Carolina bezeichnen die Gruppe als "Bedrohung für die Sicherheit" und behandeln sie als Bande. Es gibt einige Gerichtsurteile gegen diese Einstufung. Aber solange die Gruppe an ihrer Doktrin des schwarzen Nationalismus festhält, gibt es kaum eine Chance, dass sich ihr öffentliches Image ändert. Und da es keine stringenten Mitgliedschaftskriterien gibt, kann die Ideologie der Gruppe benutzt werden, kriminelle Handlungen zu begehen oder zu rechtfertigen. Der rassenbezogene Gnostizismus der Five Percenters wird auch von manchen Anhängern als schwarze Vorherrschaft interpretiert, was die Gruppe weiter abstempelt. Die angebliche Verbindung mit den Beltway-Killern wird sicher weiter dazu beitragen, sie zu diskreditieren.

Eminem

Wenngleich die Ideen des schwarzen Nationalismus einen bedeutenden Teil der Grundlagen des HipHop bilden, ist der heute vielleicht einflussreichste Rapper ein Weißer. Weiße Rapper hatten schon immer einen gewissen Beitrag zur HipHop-Kultur geleistet, von den Beastie Boys und Third Base zu House of Pain und Vanilla Ice. Aber Marshall "Eminem" Mathers ist bislang der kommerziell erfolgreichste Künstler des Genres.
Weiße Künstler haben in der Geschichte stets von der Ausbeutung afroamerikanischer Kunstformen profitiert und diesbezüglich passt Eminem einfach in das traditionelle Muster. Aber anders als viele seiner Vorläufer wird er wegen seiner meisterhaften Behandlung der Form anerkannt. Er wurde anfänglich in den nichtkommerziellen Bereichen des HipHop-Undergrounds berühmt und respektiert, wo die Komplexität der Texte und ein fließender Rhythmus die höchsten Werte darstellen. HipHop-Fans zollen generell seinem Talent als Rapper Beifall und missgönnen ihm seinen Mainstream-Erfolg nicht.
Eminem, von dem das Gerücht sagt, er gehöre in die engere Wahl des Time-Magazins für den "Mann des Jahres", wurde auch wegen seines schauspielerischen Debüts im Film 8 Mile gefeiert. Als Gestalt auf der Leinwand ist er für viele aus denselben Gründen attraktiv, wegen denen er ein erfolgreicher Musikkünstler ist. Er vermittelt gleichzeitig ein Bild von Verwundbarkeit und Authentizität. Anstatt die thematischen Fäden nachzuahmen, die von den schwarzen Rappern bevorzugt werden, handeln Eminems Texte von seiner eigenen persönlichen Geschichte. Seine direkte Art, wie er das Verwirrspiel vom "weißen Neger" angeht, hat ihm sowohl weiße als auch schwarze Fans eingebracht. Er passte die für den HipHop typische Verherrlichung der Situation an den Trailerpark an und hatte Erfolg.
Wenngleich sein Aufstieg zur Berühmtheit ein traditionelles Muster wiederholt, zeigen sich auch wesentliche Unterschiede. Er wurde "entdeckt", gepflegt und betreut von Andre "Dr.Dre" Young, einem erfolgreichen afroamerikanischen Rap-Produzenten. Eminem erweist jener afroamerikanischen Kultur, die ihn inspiriert hat, weiterhin seinen Respekt und hat beträchtliche Ressourcen aufgewendet, um schwarzen Rappern zu helfen, die ihn während magerer Zeiten in seiner Heimatstadt Detroit unterstützt hatten.
Die Eminem-Saga ist so eine weitere Lehre über die potenzielle Kraft des HipHop. Wie Legionen anderer Weißer, Asiaten und Latinos, die HipHop betreiben, ist Eminem eine Beziehung zur schwarzen Kultur eingegangen, die so weit von rassistischen Traditionen entfernt ist, dass sie neue Möglichkeiten schafft. Darin liegt die Verheißung des HipHop: neue Möglichkeiten zu schaffen.
Dieses Musikgenre, ausgedacht auf den Straßen von New York, ist zu einem der mächtigsten — und begeistert aufgenommenen — weltweiten Kräfte der Globalisierung geworden. Wenn die Urheber des HipHop auch nur einen Teil der kreativen Kraft des Genres nutzbar machen können, um die Fragen anzugehen, die sie auf einzigartige Weise bedrängten, kann der HipHop sein Versprechen einlösen.

Salim Muwakkil
Aus: In These Times (USA), 20.12.2002.

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04