SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2003, Seite 5

Israel zwischen Pest und Cholera

Moshe Zuckermann über die israelischen Wahlen und das Dilemma der zionistischen Politik

Bei den israelischen Parlamentswahlen am 28.Januar hat der rechte Likud-Block von Regierungschef Ariel Sharon seine Mandate in der 120- köpfigen Knesset von 19 auf 37 Sitze fast verdoppeln können. Die Arbeitspartei fiel von 26 auf 19 Mandate und hat damit ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 eingefahren. Während die ultraorthodoxe Shas-Partei von 16 auf 11 Mandate sank, konnte die antireligiöse Shinui-Partei ihre Abgeordneten von 6 auf 15 fast verdreifachen. Über die Ursachen dieses Wahlergebnisses und die Perspektiven der israelischen Politik sprach Christoph Jünke für die SoZ mit Moshe Zuckermann, Professor für deutsche Geschichte in Tel Aviv.

SoZ: Während in Meinungsumfragen noch immer die Mehrheit der israelischen Bevölkerung einen Frieden mit den Palästinensern und die Bildung eines autonomen palästinensischen Staates unterstützt, hat gerade jener rechte Block von national- konservativem Likud, ultraorthodoxer Shas-Partei und Siedlerparteien eine klare Mehrheit errungen, der in den letzten Jahren erheblich zur Destabilisierung und Eskalation der Gewalt beigetragen hat. Wie kann man diesen Widerspruch verstehen?
Moshe Zuckermann: Man muss unterscheiden zwischen proklamierter Ideologie, zwischen einer zuweilen auch vorbewussten oder unbewussten Motivation und realer Tathandlung. Man kann sehr wohl proklamieren, dass man Frieden will. Wenn es aber in der Tathandlung dazu kommen soll, dass man den Preis realiter zu zahlen hat, erweist sich, dass dem nicht unbedingt so ist.
In dieser Hinsicht meine ich, dass 60—70% der israelischen Bürger Frieden wollen oder es gar zu einem Palästinenserstaat kommen lassen wollen. Sie meinen dies auch abstrakt, nehmen allerdings nicht in Kauf und haben sich nie wirklich Rechenschaft darüber abgelegt, was dies historisch realiter zu bedeuten hat. Denn wenn es zu dem käme, was mit dem Frieden einher gehen müsste, also die Räumung der besetzten Gebiete, der Abbau der Siedlungen und andere Momente, würden die Umfragen ganz anders aussehen, als sie es gegenwärtig tun.

SoZ: In vielen Beiträgen auch in Deutschland haben Sie immer wieder betont, dass Israel am Scheideweg steht, vor einer Weggabelung historisches Ausmaßes. Können Sie das erläutern?
Moshe Zuckermann: Wenn man den Frieden ernst nimmt, muss man dort ansetzen, wo die Gespräche in Camp David und Taba, die Gespräche zwischen Barak und Arafat zusammengebrochen sind. Dort hat sich herausgestellt, dass es zukünftig schlechterdings keinen Frieden gibt, wenn nicht vier zentrale Punkte ausgehandelt und implementiert werden: die Räumung nahezu aller besetzten Gebiete der Westbank und des Gaza- Streifens; der Abbau nahezu aller Siedlungen; die Lösung der Jerusalemfrage im Sinne der Zweistaatlichkeit sowie die zumindest symbolische Anerkennung des Rückkehrrechts der Palästinenser ins Kernland Israels, d.h. die politische Anerkennung des historisch begangenen Unrechts — ohne dass dies bedeutet, dass nun eine halbe Million oder eine Million Palästinenser in dieses historische Kernland zurückkommen. Ohne diese vier Punkte ist Frieden schlechterdings nicht zu haben.
Israel steht, diese These habe ich in der Tat schon mehrfach geäußert, vor einer historischen Weggabelung, einem Scheideweg, bei dem auf der einen Seite die Gebiete zurückgegeben werden müssten. Nun wissen wir, dass es im Falle einer Räumung eine Infrastruktur in der Westbank gibt, die heute 220000 Siedler umfasst. Milliarden von Dollar sind über die Jahre in die Infrastruktur dieser Siedlungen investiert worden, vor allem betrieben und abgesegnet von Sharon.
Wenn diese Gebiete zurückgegeben werden sollten, könnte es dazu kommen, dass von diesen 220000 Siedlern ein bestimmter Anteil — ob es nun 1000, 2000 oder 5000 sind, spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle — sich verbarrikadieren und sich aus religiösen Gründen ("Land der Urväter") weigern würden, sich aus den Gebieten zurückzuziehen. Sollte dies passieren, müsste das staatliche Machtmonopol gegen diese Leute angewendet werden. Es könnte dann zu Schießereien zwischen der Staatsgewalt und diesen stark bewaffneten Siedlern kommen, die als Hardliner zutiefst davon überzeugt sind, dass es einem Gottessakrileg gleich käme, wenn sie bspw. Hebron verlassen müssten.
Ein solches Szenario käme einer Spaltung der israelischen Bevölkerung gleich, einer Katastrophenvorstellung von bürgerkriegsähnlichen Situationen. Es muss dabei nicht unbedingt zum Bürgerkrieg kommen, aber im Vorbewusstsein eines jeden zionistischen Israeli steckt heute diese Vorstellung, dass es bei Räumung der Gebiete zu einem Bürgerkrieg kommen könnte.
Gehen wir auf der anderen Seite davon aus, dass die Gebiete nicht zurückgegeben werden. In diesem Fall gibt es drei idealtypische Versionen. Die eine wird von dem israelischen Beobachter Meron Benvenisti schon seit nahezu 15 Jahren vertreten und besagt, dass die Infrastruktur und der Siedleranteil so verfestigt, eingewurzelt, und auch politisch breit getragen sind, dass wir es bereits mit einer irreversiblen Situation, mit einer binationalen Struktur zu tun haben. Bei der zweiten idealtypischen Variante müssen die Palästinenser nieder gekämpft werden und auf dem Zahnfleisch angekrochen kommen. Die Okkupation, so diese Position, müsse weiter getrieben werden und sei es mit anhaltender Gewalt. Die palästinensische Gegengewalt in Form des Terrors müsse dabei in Kauf genommen werden.
"In aller Ewigkeit sich auf das Schwert stützen" ist zum aus den Heiligen Schriften entlehnten Slogan vieler geworden. Die dritte, in Israel selten bezogene, aber in Form der demografischen Gefahr mutatis mutandis mit diskutierte Variante, ist die von palästinensischer Seite zuweilen zu hörende. Diese Palästinenser sagen: Wir sind nicht fähig, die Israelis militärisch zu bekämpfen, da sie eine unbesiegbare Übermacht sind. Wir können also nichts mit Gewalt ausrichten, aber die Zeit arbeitet zu unseren Gunsten, denn wenn die Israelis die Okkupation weiter betreiben, werden sie aus demografischen Gründen allmählich zu einer Minderheit. Man solle diesen Prozess deswegen laufen lassen, aber verlangen, dass man volle Bürgerrechte erhalte.
Alle aufgezählten Szenarien sind für den Israeli eine Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen Binationalismus und Bürgerkrieg, eine Wahl, die im Grunde zu einer binationalen Struktur und zu einer Erosion im zionistischen Selbstverständnis führen würde, zum Ende des historischen zionistischen Projekts, zu einer Erschütterung der raison d‘ętre des jüdischen Staates. Vor diesem Hintergrund ist der Zustand der Paralyse, der Stagnation, das Sich-nicht-entscheiden-Müssen der Zustand, den viele Israelis als den momentan günstigsten ansehen.
So erkläre ich mir übrigens auch die niedrige Wahlbeteiligung und die Tatsache, dass es einen solch gewaltigen Rechtsruck gegeben hat. Die Proportionen haben sich in Israel total verkehrt.

SoZ: Sie haben die niedrige Wahlbeteiligung bereits angesprochen. Auch die ultraorthodoxe Shas-Partei hat sehr deutlich verloren, während die explizit antireligiöse Shinui-Partei explizit hinzu gewonnen hat. Sind dies Zeichen jener Erosion des zionistischen Selbstverständnis, von dem Sie sprachen?
Moshe Zuckermann: Ich glaube, dass dies besondere Faktoren sind. Die Shas-Partei hat verloren, nicht weil man weniger religiös ist, sondern wegen innerparteilicher Auseinandersetzungen. Der ehemalige politische Führer der Partei hatte viele Anhänger, aber in dem Moment, als er vom geistigen Führer ausgebootet wurde, gab es viele Enttäuschungen. Gemessen an den prognostizierten Wahlverlusten steht die Shas-Partei gar nicht so schlecht da.
Auch bei der Shinui-Partei muss man die Sache differenziert sehen. Die Shinui-Partei hat den Wahlkampf mit zwei herausragenden Themen geführt. Zum einen mit einer hasserfüllten Kampagne gegen die Religiösen und die Orthodoxie, die sich weniger aus der Säkularität speist als vielmehr aus dem antireligiösen Ressentiment. Diese Hasskampagne hat mich gelegentlich an antisemitische Parolen erinnert. Unterbelichtet ist außerdem geblieben, dass sich die Shinui-Partei als eine bürgerliche Mittelstandspartei versteht. Wir haben es hier mit einem Aufstand der Mittelschichten zu tun, die sich plötzlich selbst als Ausgebeutete sehen. Im Zuge der Wirtschaftskrise ist es in der Tat zu einer Art Deklassierung des unteren Mittelstands gekommen. Diesen Zustand hat sich Tommy Lapid, der Führer von Shinui, aggressiv zu Nutze gemacht.
Doch mit Hass gegen die Religiösen kann man vielleicht eine Wahlkampagne machen, aber keine längerfristige Politik. Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, dass sich Israel eine antireligiöse Politik oder eine antireligiöse politische Landschaft erlauben wird. Damit würde man einen Großteil der Bevölkerung einfach ausgrenzen. Ich glaube kaum, dass die Shinui- Partei wesentliches zur israelischen Politik, schon gar nicht zur Außenpolitik, beizutragen hat.

SoZ: Mit Amram Mitzna schien es, dass die sozialdemokratische Arbeitspartei eine Wende nach links vollzogen hat. Warum haben die Wähler diesen Schritt nicht belohnt?
Moshe Zuckermann: Weil es keine Wende war. Es war im Grunde der Versuch, ein Pflaster auf ein riesiges Geschwür zu kleben — wenn ich diese Metapher mal benutzen darf. Die Arbeitspartei ist historisch tot. Es ist keine sozialdemokratische Partei mehr, keine Partei mehr, die soziale Belange zum Topos ihrer Parteipolitik macht.
Sie hat sich ihres ideologischen wie auch institutionellen Erbteils entledigt. Sie hat ja mehr als jede andere Partei die Gewerkschaften demontiert und bspw. die Gesundheitspolitik zum Nachteil der Massen gestaltet. Sie kann auch nichts mehr mit ihrer eigenen Kibbuz-Bewegung anfangen. Sie ist längst schon zu einer bürgerlichen Massenpartei geworden, bei der sich für die meisten Israelis die Frage stellt, warum man sie überhaupt noch wählen soll, wenn man die Likud-Partei hat.
Für die orientalischen Juden ist die Arbeitspartei unlöslich mit der Diskriminierung verbunden, denen sie seit den 50er Jahren unterworfen sind. Für diese Leute ist die Arbeitspartei eine instutiona non grata.
Der Versuch, mit Mitzna in letzter Sekunde noch das Blatt zu wenden, war in meinen Augen von vornherein ein tot geborenes Kind. Mitzna hat es auch nicht geschafft, seine eigenen Leute zu fördern. Und es bleibt deswegen abzuwarten, ob er sich selbst in der eigenen Partei durchzusetzen vermag und ob die Arbeitspartei nicht doch in die große Koalition mit Likud einsteigen wird. Das wäre allerdings endgültig ihr Ende.

SoZ: Sie sagen, dass es die politische Identität des Zionismus ist, die ein wesentliches Problem des gesamten Konfliktes ausmacht. Auf der anderen Seite könne es keine israelische Politik jenseits der Religion geben. Das hieße, dass keine Lösung des Problems in Sicht ist. Wie ließe sich ein nichtzionistisches Israel perspektivisch denken?
Moshe Zuckermann: Das Problem liegt darin, das hat der palästinensische Knesset-Abgeordnete Azmi Bishara verdeutlicht, dass es, solange der israelische Staat sich als Judenstaat versteht, der Religion als Bürgerkriterium bedarf. Dies ist einer der großen Widersprüche des Zionismus: dass er sich als modernen Nationalstaat errichten wollte, aber den auf die Französische Revolution zurückgehenden universellen Bürgerbegriff durch den auf das Judentum sich gründenden ethnischen Bürgerbegriff ersetzt hat. Von vornherein war die jüdische Zugehörigkeit ein Kriterium des israelischen Bürgerbegriffs.
Wenn man Jude sein muss, um Staatsbürger zu sein; wenn die nichtjüdischen Bürger Israels zwar formell Staatsbürger, nicht jedoch realiter sind, sondern unterprivilegiert und diskriminiert; wenn sie zwar eine politische Vertretung haben, diese aber nicht als koalitionsfähig angesehen wird — dann steht die Frage von Azmi Bishara, ob der Judenstaat wesenhaft demokratisch sein kann. Formell ist die israelische Demokratie eine Demokratie, aber nicht in der Art und Weise, wie sie sich realiter in den Lebenswelten der Gesellschaft niederschlägt.
Weil man mehr sein will als eine Schicksalsgemeinschaft und die Definition nicht einem Adolf Hitler überlassen wollte ("Weil er verfolgt wurde, ist der Jude zu einem Juden geworden"), ist die Religion in den säkularen Zionismus eingegangen, wird der Jude noch immer über die Religion definiert. Der Staat selbst begreift sich als jüdischer Staat und von daher ist die Frage nach einem nichtzionistischen Staat Israel ein Oxymoron. Es gibt kein nichtzionistisches Israel. Man kann sich einen anderen, von Juden und Arabern getragenen Staat vorstellen, aber das wäre kein zionistischer Staat mehr. Für 99% der Israelis ist dies unvorstellbar und würde die Selbstaufgabe bedeuten. Deswegen verharrt man im Widerspruch.
Ich glaube nicht, dass die Zeit schon reif ist für einen binationalen Staat, obwohl ich glaube, dass eine konföderierte Struktur früher oder später die einzige Lösung sein wird. Historisch gefordert ist im Moment jedoch die Schaffung eines palästinensischen Staates neben einem nicht mehr als Okkupationsmacht auftretenden zionistischen Staat sowie, vielleicht unter Hinzuziehung Jordaniens, die Schaffung einer konföderierten Struktur möglicherweise in der nächsten Generation. Schon allein deshalb, um so weitreichende Probleme wie bspw. das der Wasserversorgung angehen zu können. Doch die Voraussetzung hierfür ist die Schaffung eines Palästinenserstaates.

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04