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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2003, Seite 12

Wo bleibt die "arabische Straße"?

Antikriegsproteste im Nahen Osten

Als am 15.2. in den Hauptstädten nicht nur Europas Millionen von Menschen auf die Straße gingen, um gegen den von den USA und Großbritannien geplanten Überfall auf den Irak zu protestieren, fanden sich in Kairo — oft als das Herz der arabischen Welt bezeichnet — gerade einmal 600 Demonstranten flankiert von 3000 "Ordnungskräften" zum gleichen Zweck zusammen. Am Montag, den 27.Januar, waren in einigen arabischen Hauptstädten immerhin Zehntausende von Menschen auf die Straße gegangen, um gegen den bevorstehenden US-Angriff auf den Irak zu demonstrieren.
In Damaskus, in Sanaa, der Hauptstadt des Jemen, und sogar in Bahrain, einer wichtigen Basis der US-Armee im Golf, skandierten die Menschen "Bush ist ein Schlächter" und bezeichneten die US-Regierung als "arrogant". In Bahrain forderten rund hundert vor allem jugendliche Demonstranten die UNO auf, lieber Armut und Analphabetismus zu bekämpfen, als den USA eine Rechtfertigung für ihren geplanten Massenmord zu verschaffen. In den Tagen nach dem 15.2. waren es in Kairo dann noch mal 3000, in Ismailia 2000 und im südlibanesischen Sidon über 10000 Menschen, die gegen das sich ankündigende Massaker demonstrierten.
Die erwartete oder befürchtete Reaktion der Straße ist seit längerem ein Hauptargument der Kritiker der Pläne der US-Regierung sowohl im Westen als vor allem auch im Nahen Osten. Ägyptens Präsident Hosni Mubarak, immerhin einer der Hauptempfänger US-amerikanischer Wirtschafts- und Militärhilfe in der Region, formulierte im vergangen Jahr die Befürchtung vieler seiner Kollegen in einer Fernsehansprache: "Wenn sie das irakische Volk wegen ein oder zwei Individuen schlagen und gleichzeitig das Palästina-Problem ungelöst lassen, dann wird nicht einer der Herrscher mehr in der Lage sein, die Gefühle der Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, und in der Region könnte sich eine Situation von Unordnung und Chaos ausbreiten."
In der Tat machen sich gerade die Herrschenden über die Motive der US-Politik ebenso wenig Illusionen wie die Massen. Der ägyptische Historiker, Tareeq al-Bashri, fasste jüngst zusammen: "Was heute geschieht, ist viel schlimmer als der Bagdad-Pakt. Der Irak ist die strategische Grenze der arabischen Region und der Levante. Ganz allgemein ist er das Tor zur arabischen Welt."
Dennoch deutet bislang alles darauf hin, dass der Protest der "arabischen Straße" gegen den Irakkrieg bei weitem nicht zu vergleichen ist mit den Protesten zur Zeit des Golfkriegs von 1991 oder gegen die zionistischen Unterdrückung in Palästina. Massendemonstrationen gab es nur dort, wo sie wie in Damaskus von der Regierung, oder wie im Jemen und im Südlibanon von den von der Regierung geduldeten Parteien organisiert worden waren. Das konservative vom United States Comitee for a Free Lebanon und dem Middle East Forum herausgegebene Middle East Intelligence Bulletin (MEIB) versucht in seiner Januarausgabe eine Erklärung.
Die Demonstrationen wegen Palästina hatten im Frühjahr vergangenen Jahres überall in der arabischen Welt derart unerwartete Ausmaße angenommen, dass manche Beobachter bereits eine Umkehr des bis dahin zu verzeichnenden langfristigen Trends des Niedergangs der arabischen Befreiungsbewegungen und insbesondere ihres linken Flügels konstatierten. Nun finden nun die Demonstrationsaufrufe — wenn sie nicht wie in Syrien und dem Jemen die Unterstützung der herrschenden Parteien haben — kaum Gehör. Der Chefredakteur der Tageszeitung Cairo Times, Hishem Qassem, stellt fest: "Bezüglich des Irak ist die arabische Straße apathisch", und der stellvertretende Direktor des Kairoer Al Ahram Center for Political and Strategic Studies, Wahed Abdel Meguid, sagt: "Die Hauptsympathie der Ägypter betrifft die Palästinenser. Der Irak ist für sie marginal." Im gleichen Sinn haben sich die jordanische Journalistin, Mouna Shuqeir, und vor allem auch der bekannte an der New Yorker Columbia University lehrende Edward Said geäußert. Er fragt nahezu verzweifelt: "Hat sich denn der Wille von fast 300 Millionen Arabern einfach in Nichts aufgelöst?"
Das MEIB ist jedoch der Meinung, Edward Said wisse sehr wohl, dass es weder um Willenskraft noch um arabisches Identitätsbewusstsein geht. Vielmehr liege der festzustellenden Passivität das Wissen der arabischen Massen zugrunde, dass das irakische Volk die militärische Befreiung vom Saddam-Regime wünsche. Es zitiert zu seiner Unterstützung eine Umfrage einer in Brüssel sitzenden International Crisis Group, die eben das ergeben habe.
Unter den gegebenen Bedingungen ist die wahre Position der Iraker und ihre Reaktion im Ernstfall aber kaum auszumachen. Sicher ist allerdings, dass es wohl kein anderes arabisches Land gibt, in dem die organisierte Opposition heute derart stark ist wie im Irak — insbesondere die kurdischen Parteien im Norden und die schiitischen Parteien im Süden. Im Ausland leben über 200000 Iraker, die dorthin nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern vor der massiven Unterdrückung und Verfolgung durch das Regime geflüchtet sind. Der Charakter dieses Regimes ist den arabischen Massen durchaus bekannt, und Saddam Hussein und die Seinen erfreuen sich deshalb bei ihnen keiner größeren Beliebtheit als ihre eigenen lokalen Herrscher.
Anders verhält es sich in Palästina, wo ungeachtet der korrupten und repressiven Führung der Autonomiebehörden im allgemeinen Bewusstsein der Konflikt fast ausschließlich zwischen einer fremden Besatzungsmacht und den "palästinensischen Brüdern" stattfindet; im Irak sind die Fronten weit weniger deutlich. Zumindest ein erheblicher Teil der "Brüder" ist offensichtlich bereit, als Schwanz des imperialistischen Hundes zu dienen. Im Irak haben überdies nicht wenige Ägypter als Gastarbeiter in der Vergangenheit schon recht leidvolle Erfahrungen mit dem Widerspruch zwischen der offiziellen nationalistischen Rhetorik von der arabischen "Brüderlichkeit" und der Realität gemacht.
Das alles bedeutet nicht, dass die Massen in der arabischen Welt einen Angriff der — zudem auch noch ungläubigen — US-Imperialisten und ihrer nicht minder "ungläubigen" britischen, australischen und sonstigen Komplizen begrüßen würden. Der jordanische politische Analytiker Raja Taleb bringt die Massenstimmung so auf den Punkt: "Die Leute suchen nach wirklichen Helden, die ihre Versprechen auch wahr machen können, aber Saddam ist nur ein ertrinkender geschlagener Herrscher, der sich an einem Wrack festklammert. Viele Araber machen ihn dafür verantwortlich, dass er die Region an den Rand der Katastrophe geführt hat."
Die Frage, ob diese Einschätzung richtig ist, ist hier nicht relevant. Relevant ist, dass die arabischen Massen auf den Straßen fehlen. Sie werden sich nicht gerade, wie manche arabische "Intellektuelle", der trügerischen Hoffnung hingeben, eine weitere Festigung des imperialistischen Zugriffs auf die arabische Welt werde zu mehr Demokratie führen. Ihre Passivität jedoch zeigt, dass es gerade der Charakter der herrschenden bürgerlichen Regime ist, der eine aussichtsreiche Verteidigung gegen den äußeren Angriff unterläuft.
Wenn die arabischen Kollegen Saddam Husseins die USA dann vor der "arabischen Straße" warnen, tun sie das eher, um ihr eigenes Interesse am Fortbestand eines schwachen Irak unter der gegenwärtigen Führung zu vertuschen.

Anton Holberg

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