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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2003, Seite 21

Bücherkiste

Konturen einer linken Israelkritik

1. Noam Chomsky, Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US-Politik, Hamburg: Europa, 2002, 352 Seiten, 19,90 Euro.
2. Norman G. Finkelstein, Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Mythos und Realität, Kreuzlingen/München: Diederichs, 2002, 400 Seiten, 23 Euro.
3. Rudi Friedrich (Hrsg.), Gefangen zwischen Terror und Krieg? Israel/Palästina: Stimmen für Frieden und Verständigung, Grafenau: Trotzdem, 2002, 150 Seiten, 12 Euro.
4. Irit Neidhardt (Hrsg.), Mit dem Konflikt leben? Berichte und Analysen von Linken aus Israel und Palästina, Münster: Unrast, 2002, 168 Seiten, 14 Euro.

Was die Diskussion des blutigen Nahostkonflikts in Deutschland, zumal auf der Linken, so schwer macht, ist, dass zwei Fragen scheinbar unentwirrbar miteinander verwoben sind, die als solche wenig miteinander zu tun haben. Die eine Frage ist die nach dem Konflikt selbst, seinen Triebkräften, Widersprüchen, Akteuren, Perspektiven usw. Die andere Frage ist die nach jenem Blick, mit dem wir von Deutschland aus auf den Konflikt schauen. Da es den deutschen Blick aber nicht gibt, sondern immer nur den Blick von Deutschen, von Klassen, Schichten, Strömungen, Institutionen, Individuen usw., sind dabei "Missverständnisse" geradezu vorprogrammiert. So sehr man beide Fragen behandeln muss, um zu einer umfassenden eigenen Stellungnahme kommen zu können, so sehr sollte man die beiden Ebenen analytisch auseinanderhalten. Im folgenden seien vier Bücher linker Autorinnen und Autoren vorgestellt, die sich vor allem der ersten Frage, der nach dem Konflikt selbst, widmen.

Chomsky & Finkelstein

Auf den ersten Blick ist das umfangreiche Werk Noam Chomskys1 enttäuschend. Nicht nur, weil das die Geschichte des israelisch- palästinensischen Konflikts behandelnde Buch ein intensiveres Lektorat verdient hätte. Mehr noch, weil es ein altes, im amerikanischen Original vor zwanzig Jahren erschienenes Werk ist, das zwar vor drei Jahren um neuere Kapitel erweitert, nicht jedoch stilistisch aktualisiert wurde. So lesen wir heute von Ereignissen und Meinungen, als ob sie gerade frisch stattgefunden und artikuliert wurden.
Hat man sich jedoch ein wenig eingelesen, so überrascht Chomskys Werk gerade wegen dieses Webfehlers durch einen bemerkenswerten Lerneffekt. Gerade weil wir den Text lesen, wie er vor teilweise vielen Jahren geschrieben wurde, können wir erkennen, wie all das, was heute als neue Politik Israels gegenüber den Palästinensern medial gehandelt wird, alles andere als neu ist.
Die Denunziation nationaler Befreiungspolitik der Palästinenser als schlichten Terrorismus; rassistische Diskurse gegen Araber; die Zerstörung von palästinensischen Wohngebäuden und Anbauflächen; Demütigung im Alltag und kollektive Bestrafungen; Folter sowie offene und "unsichtbare" Formen der Vertreibung — all dies beschreibt und beklagt Chomsky bereits in den 80ern und frühen 90ern. Er beschreibt die israelischen Kriegsverbrechen bspw. im Libanonkrieg von 1982 und wie deren Untersuchung durch unabhängige Untersuchungskommissionen verhindert wurden. Er beschreibt, wie die jüdischen Siedler palästinensische Bauern und Dörfer terrorisieren, ohne von der zuschauenden Armee daran gehindert zu werden. Er zitiert einen Israeli, der bereits Ende der 60er Jahre vom Ziel sprach, jegliche Infrastruktur im Heimatgebiet der Palästinenser zu zerstören, und jene, die bereits Ende der 80er vom palästinensischen "Krebsgeschwür im Körper Israels" sprachen.
Chomsky greift die israelische Ideologie des vermeintlichen Präventivkriegs gegen eine allzu oft selbst herbei geschriebene Bedrohung frontal an. Er zeigt auf, wie hier ein politisch-religiöses, auf dem Zionismus aufbauendes, imperiales Konzept die Logik begründet, mit der Israel einen ungleichen, "asymmetrischen" Kampf führt. Und sensibel registriert er dabei, wie die Kritiker der israelischen Siedlungs- und Expansionspolitik bereits in den 80ern pauschal als Antisemiten denunziert wurden, um jede rationale Diskussion der Probleme und Lösungsmöglichkeiten zu verhindern.
Auch der Osloer Friedensprozess sei ein von Beginn an mit Webfehlern versehenes Programm gewesen, "mittels dessen die Vorherrschaft Israels und der USA im Nahen Osten durch eine Mischung aus Gewalt und Diplomatie garantiert werden soll".
So sehr er Israel als den treibenden Aggressor im Nahostkonflikt betrachtet, der Hauptschuldige ist für Chomsky jedoch die Politik der US-Regierungen mindestens seit Beginn der 70er Jahre. Aus geopolitischen Gründen hätten die USA seitdem trotz aller vordergründigen Kritik der israelischen Politik einen ernsthaften Friedensprozess aktiv und nachhaltig hintertrieben und sich zum materiellen, politisch-militärischen und ideologischen Komplizen der israelischen Siedlungs- und Expansionspolitik gemacht.
Auch der US-amerikanische Politologe Norman Finkelstein fordert in seinem jüngst erschienenen Werk2 zuallererst den vollständigen Abzug Israels aus den besetzten Gebieten sowie andererseits die völlige Anerkennung Israels durch die arabische Seite. Auch er gibt auf die drängende Frage, was denn die Realisierung der Zwei-Staaten-Lösung so nachhaltig verhindert habe, dieselbe Antwort wie Chomsky. Im Zentrum des Problems stehe die Ideologie des politisch-religiösen Zionismus, der das gesamte altisraelische Land für die Juden beanspruche und die dort lebenden Palästinenser als Fremdkörper verstehe. Innerhalb dieses Zionismus seien die Vertreibung der Palästinenser oder ihre Einordnung in eine der ehemaligen südafrikanischen Apartheidpolitik vergleichbare Homelandpolitik die einzig möglichen Lösungen.
Dass Finkelstein mittlerweile zur persona non grata großer Teile des linken deutschen Milieus geworden ist, sagt mehr über die deutsche Linke als über ihn aus. Das Buch zeigt ihn nicht als jenen rechten oder den Rechten nahe stehenden oder sie bedienenden Antisemiten, als der er hier gehandelt wird, sondern als konsequenten Schüler Chomskys, der zentrale Werke und Ideologeme der israelischen Geschichtsschreibung ideologiekritisch als Rechtfertigungsliteratur zionistischer Machtansprüche entlarvt.
Finkelstein untersucht im Wesentlichen zwei historische Ereignisse, die Gründungsphase des Staates Israel, also den Krieg von 1948, sowie den Junikrieg von 1967. Mit einer enormen Detailiertheit (der wissenschaftliche Anmerkungsapparat umfasst fast 100 Seiten) kritisiert er Autoren wie Joan Peters, Benny Morris, Anita Shapira und Abba Eban und wirft ihnen vor, sie verdeckten mit ihren Geschichtsmythen eine einfache Wahrheit: "Nicht Antisemitismus im Sinne eines irrationalen Hasses auf die Juden spornte die Palästinenser zum Widerstand gegen den Zionismus an, sondern vielmehr die — ganz realistische — Aussicht, von den Zionisten vertrieben zu werden."
Dass es Finkelstein auch diesmal wieder seinen Kritikern leicht macht, indem er sich gelegentlich zu verbalen Übertreibungen hinreißen lässt (er spricht bspw. von Sharons Ziel, "die Palästinenser zu vernichten" oder von "beispielloser Bedenkenlosigkeit im Umgang mit Gewalt, die von den Juden, die Palästina eroberten, an den Tag gelegt wurde"), muss kritisch vermerkt werden. Darüber den sachlichen Gehalt seiner Auseinandersetzung zu vergessen, wäre jedoch einmal mehr Zeichen mangelnder Souveränität oder böser politischer Absicht.

Friedrich & Neidhardt

Das Verdienst der beiden anderen hier vorzustellenden Bücher ist, dass sie eine von deutschen Linken allzu gern vergessene internationalistische Pflicht erfüllen: sie lassen Israelis und Palästinenser selbst zu Wort kommen.
Das von Rudi Friedrich herausgegebene Buch3 dokumentiert und behandelt schwerpunktmäßig die israelische Bewegung zur Verweigerung des Militär- und Kriegsdienstes und bietet ergänzende Beiträge zur Vertiefung des Gesamtkonflikts. Herausragend sind dabei vor allem der Beitrag der Kieler Soziologin Uta Klein, die die Geschlechterverhältnisse sowohl in Israel als auch in der palästinensischen Bevölkerung untersucht, sowie das ausführliche Interview mit dem bekannten Tel Aviver Historiker und Politikwissenschaftler Moshe Zuckermann.
Im Mittelpunkt beider Beiträge steht die Analyse der zentralen Rolle der zionistischen Identität, bei Klein als männlich-militaristischer Diskurs, bei Zuckermann als politisch-ideologischer Mythos, dessen Aufklärung die israelische Gesellschaft als solche in Frage stellen würde. Was einer friedlichen Lösung im Wege steht, sind für ihn deswegen die zentralen Postulate des israelischen Zionismus (vgl. dazu auch das Interview mit Zuckermann in dieser SoZ). Seine Infragestellung habe durchaus nicht automatisch etwas mit Antisemitismus zu tun. Israel sei gegenüber Palästina "ein Land brutaler Repressionen und Unterdrückung": "Und wenn dem so ist, muss man in Begriffen der universellen Kategorie der Emanzipation sagen: jede Linke der Welt — auch eine deutsche — hat das gute Recht, Israel unter diesem Gesichtspunkt zu kritisieren. Ich werde mir als Linker die Kritik an diesem Zustand von niemandem verbieten lassen, und es bleibt sich für mich gleich, ob ich nun die Sache in Berlin, in Jerusalem oder in New York vortrage."
Es ließe sich hier noch einen Schritt weiter gehen und fragen, ob jemand, der oder die einen solchen elementaren Standard nicht teilt, noch als Linke(r) angesehen werden kann, unabhängig von der Frage, dass er oder sie sich selbst so sieht und von anderen so gesehen wird. Diese Frage stellt sich sicherlich nicht nur, aber auch bei der Lektüre einer Zeitschrift wie Jungle World. Auch dort hat es aber durchaus nicht an Versuchen gemangelt, die allzu unkritische Israelberichterstattung zu überwinden. Von einem solchen gescheiterten Versuch berichtet das von Irit Neidhardt herausgegebene Buch.4
Die junge Politikwissenschaftlerin entwarf in Abstimmung mit der Jungle-World-Redaktion mehrere Beilagen, in der sie Positionen und Eindrücke der israelischen und palästinensischen Linken dokumentieren wollte. Nachdem die Redaktion nach Sichtung des zusammengetragenen Materials dankend abgelehnt hatte, machte Neidhardt ein interessantes Buch daraus. Namhafte und weniger bekannte israelische und palästinensische Intellektuelle berichten von ihrem Leben und ihrer Sicht auf den kriegerischen Konflikt. Und auch hier wieder wird unmittelbar deutlich, wie sich ein von außen, d.h. weltpolitisch überdeterminierter Konflikt vor allem in den Kämpfen um die jeweils eigene Identität niederschlägt.
Alle vier Bücher zeigen auf, dass und wie sich politisch-religiöse Identitäten mit von Klassenstrukturen geprägten Macht- und Herrschaftsverhältnissen scheinbar unentwirrbar verweben. Ohne Anerkennung der jeweiligen Identitäten wird es deswegen ebenso wenig zu einer Lösung der offenen Wunden in Nahost kommen, wie ohne ihre Überwindung. Dass sich viele deutsche Linke zu dieser Erkenntnis offensichtlich nicht durcharbeiten können, hängt eben auch damit zusammen, dass sie als Deutsche wesentlich zu jener jüdisch-israelischen Identität beigetragen haben, die es nun in Frage zu stellen gilt.

Christoph Jünke

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