SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2003, Seite 24

George Orwell 1903—1950

Jonathan Swift des Stalinismus

Vor fast zwanzig Jahren veröffentlichte ich einen Beitrag, in dem ich der Auffassung widersprach, George Orwell sei ein sozialistischer Schriftsteller und seine berühmte Dystopie 1984 ein vor allem gegen das britische Establishment gerichtetes antikapitalistisches Werk. Im Jahr 2003, in dem sich Orwells Geburtstag zum 100. Mal jährt, möchte ich erneut meinen kritischen Blick auf einen der umstrittensten Schriftsteller unseres Zeitalters zur Diskussion stellen.
Für mich war Eric Blair, der sich später Orwell nannte, damals der Inbegriff eines kleinbürgerlichen Antikommunisten, der das juste milieu seiner Herkunft ebenso hasste, wie er die einfachen Arbeiter und erst recht jeden, der sich mit marxistischer Theorie auseinandersetzte, verachtete. Orwell war zwar ein überzeugter Antifaschist und Spanienkämpfer, zugleich aber ein entschiedener Gegner jeglicher Volksfront. Ungeachtet der Tatsache, dass nicht zuletzt stalinistischen Apparatschiks die Deformation der Volksfront und die Niederlage des republikanischen Spaniens anzulasten ist, halte ich nach wie vor die Kriegsallianz der Westmächte mit der UdSSR ebenso wie das Zusammenwirken von Antifaschisten aller Richtungen für eine unabdingbare Voraussetzung des Sieges über den Faschismus, den ich damals wie heute für die wichtigste politische Aufgabe halte.
Orwell, Sohn eines kleinen Staatsbeamten in Indien und Absolvent der berühmten Public School in Eton, diente einige Jahre als Polizeibeamter in Burma, eine Erfahrung, die ihn zum Antiimperialisten machte. Orwell verstand sich selbst als Sozialist und aufrichtiger Antifaschist. Für den Gehalt seines Sozialismus sind Orwells 1936 erschienener Roman Die Wonnen der Aspidistra und seine ein Jahr später veröffentlichte Reportage Der Weg nach Wigan Pier besonders aufschlussreich.

Abscheu vor dem Mittelstand

Der Roman ist antikapitalistisch und spiegelt Orwells Abscheu vor dem durch die beliebte Blattpflanze symbolisierten Lebensstil des Mittelstands wider, den sein Held am Ende des Romans jedoch mangels Alternative wieder aufnimmt. Ungeachtet Orwells und seines Helden Gordon Comstocks Unbehagen am "Gewusel … von gepflegten jungen Hasen in Tausend-Guineen-Autos, Golf spielenden Börsenmaklern und kosmopolitischen Finanziers, Anwälten am Kanzleigericht und vornehmen Tunten, Bankiers und Zeitungsbaronen, Schriftstellern vielerlei Geschlechts, amerikanischen Berufsboxern, weiblichen Fliegern, Filmstars, Bischöfen, Dichtern mit einem Titel und Gorillas aus Chicago" (Die Wonnen der Aspidistra), denen "tausend Millionen Sklaven" dienen, finden beide keinen anderen Ausweg aus ihrem Dilemma als die Erhaltung des Status quo.
Der Weg nach Wigan Pier war das Ergebnis einer Forschungsreise des Schriftstellers in das black country genannte nordenglische Industrie- und Bergbaugebiet, wo er die Arbeiterklasse kennen lernen wollte. In dieser Reportage erklärte Orwell: "Ein Arbeiter, solange er ein echter Arbeiter bleibt, ist selten oder nie ein wirklich konsequenter Sozialist … kein echter Arbeiter begreift die tiefere Bedeutung des Sozialismus … Die sozialistische Theorie ist nur etwas für die Mittelschichten."
Orwells Bild von der Arbeiterklasse war sehr widersprüchlich. Es schloss organisierte und theoretisch interessierte und bildungswillige Arbeiter aus und konzentrierte sich vor allem auf politisch indifferente, im Elend lebende und diesen Zustand widerstandslos akzeptierende Menschen. Zwar hatte ihn in Spanien der spontane, leidenschaftliche Aufstand der Massen in Katalonien begeistert, die Arbeiter in seiner eigenen Heimat karikierte Orwell aber in den Proles in seiner 1949 erschienenen Dystopie 1984 als hirnlose Masse, die unverändert von Generation zu Generation malochen, sich vermehren und schließlich sterben, ohne sich zu wehren, und ohne eine Ahnung, dass die Welt auch anders sein könnte, als sie ist. Man könne den Arbeitern keine intellektuellen Freiheiten gewähren, weil sie keinen Intellekt besitzen und nicht "das geringste Interesse an marxistischer Theorie, marxistischer Ideologie, an der Komplexität des dialektischen Materialismus haben" (Die Wonnen der Aspidistra).
Dies schrieb Orwell ebenso wider besseres Wissen wie das, was ihm sein pauschaler Hass auf linke bürgerliche Intellektuelle eingab. Er schilderte sie als Menschen, "die sozialistische Traktate schreiben und im Pullover mit ungekämmten Haaren herumlaufen [oder] … die Fruchtsafttrinker, Nacktkulturanhänger, Jesuslatscher, Sexbesessene, Quäker, Naturheilpraktiker, Pazifisten und Feministinnen" sind.
Der englische Literaturwissenschaftler Frank Gloversmith vergleicht Orwells auf seiner Reise im Black Country geführtes Tagebuch mit der Reportage und stellt fest, dass in Der Weg nach Wigan Pier alles, was im Tagebuch über das antifaschistische Engagement und die intellektuellen und organisatorischen Leistungen der Aktivisten der Arbeitslosenvereinigung NUWM notiert worden war, ausgelassen wurde.
Aus dem Tagebuch geht hervor, dass Orwell durch Vermittlung eines Funktionärs der NUWM andere Mitglieder und Aktivisten der großen Arbeitslosenvereinigung kennen lernte. Er lernte Arbeiter, Arbeiterfrauen, Gewerkschafter, Funktionäre der Arbeitslosenbewegung und Mitglieder politischer Parteien in großer Zahl kennen, die seinem Zerrbild keineswegs entsprachen. Organisatoren und Mitglieder der NUWM versorgten ihn mit Informationen, organisierten seine Besuche in Betrieben und den Häusern von Angehörigen der Arbeiter- und Arbeitslosenorganisationen.
Im Buch merzte Orwell alle seine Erfahrungen mit den Haltungen, Wertvorstellungen und Errungenschaften seiner Gesprächspartner aus, die nicht in sein vorgefasstes Konzept passten. Im Tagebuch dagegen staunte Orwell, dass allein aus Süd- Yorkshire 10000 Mitglieder der NUWM zu einer Konferenz eines Arbeiterklubs anreisten. Er bewunderte die Bergarbeiter Tom Degnan und Ellis Firth. Degnan, ein Kommunist, und Firth organisierten eine antifaschistische Demonstration gegen die faschistischen Mosley-Anhänger. All das wird in Der Weg nach Wigan Pier ebenso wenig erwähnt wie die Geldsammlung für Ernst Thälmann auf einer Veranstaltung der NUWM. Auch die Putzfrau Mrs.Searle, die Orwell für eine Beinahe-Analphabetin hielt, verblüffte den Schriftsteller wegen ihres Verständnisses für die wirtschaftliche Lage und sogar abstrakte Ideen.

Naiver Idealismus

Orwells Sozialismuskonzept entsprach seiner Ethik der Wohlanständigkeit. Es ist moralistisch und läuft auf den Allgemeinplatz hinaus, den er in Die Wonnen der Aspidistra vertritt: "Das einzige, wofür wir uns engagieren können, ist das dem Sozialismus zugrunde liegende Ideal: Gerechtigkeit und Freiheit." Dass diese Zielstellung "so sehr dem Gemeinverstand (common sense) [entspricht], dass ich manchmal überrascht bin, dass er [der Sozialismus] sich noch nicht durchgesetzt hat", wie Orwell schrieb, weist ihn als einen naiven Idealisten aus. Seine ebenso brillante wie berechtigte Kritik an den totalitären Strukturen des Stalinismus geht einher mit der Verhöhnung aller theoretisch begründeten Sozialismusvorstellungen ebenso wie der antifaschistischen bürgerlichen Intelligenz.
Orwell ist für einen "enttheoretisierten Sozialismus", den er der Mehrheit der Arbeiter zuschreibt, der ohne gesellschaftliche Veränderungen auskommt und allenfalls die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus abschafft. Alle darüber hinaus gehenden sozialistischen Reformen disqualifiziert er als modischen Firlefanz, als ausgefallene und eigentlich autoritäre Ideale.
Als Die Farm der Tiere, die sein Verleger Victor Gollancz 1944, auf dem Höhepunkt der Popularität der UdSSR in Großbritannien, abgelehnt hatte, weil es die anglo-sowjetischen Beziehungen gefährden könne, 1945 bei Secker & Warburg erschien, wurde es Orwells erster literarischer Erfolg. Dies war dem Umschwung in der politischen Stimmungslage geschuldet. Der Krieg war gewonnen, dem Kriegsbündnis folgte der Kalte Krieg. In der Farm der Tiere ist die Satire auf den Stalinismus in der UdSSR unverkennbar. Es ist kaum möglich, im Schwein Napoleon nicht Stalin zu erkennen und in den anderen Schweinen die Kommunistische Partei, die Handlanger der Unterdrückung des durch Boxer und Kleeblatt repräsentierten Proletariats.
Es ist ein Werk, das mit Jonathan Swifts Satire Bescheidener Vorschlag, wie man verhüten kann, dass die Kinder armer Leute in Irland ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen, und wie sie der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden können (1729) vergleichbar ist, der voll Abscheu über die Zustände in Irland den makabren Vorschlag macht, die Armen mögen ihre neugeborenen Kinder lieber als Schlachtvieh verkaufen, als gezwungen zu sein, diese verhungern zu lassen. In der Farm der Tiere wird neben dem Zorn über die deformierte Revolution und dem Hass auf die dafür Verantwortlichen Sympathie für und Solidarität mit den Verratenen transportiert. Ihr Bemühen war ehrenwert; dass ihre Opfer schließlich vergeblich waren, entwertet diese nicht.

1984

Der Roman 1984, den Orwell ebenfalls während des Zweiten Weltkriegs schrieb, erschien 1948 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Es war die Zeit der Fultonrede Churchills und der Erklärung der Trumandoktrin, mit denen das antifaschistische Kriegsbündnis vom Westen aufgekündigt wurde. Zu dieser Zeit war Orwell, wie der walisische Kulturwissenschaftler Raymond Williams erklärte, jemand, der zwar "meint, jedes Wort, das er geschrieben hat, sei im Sinne eines demokratischen Sozialismus, für den er in Katalonien als Revolutionär gekämpft hat. Und dennoch ist ein beachtlicher Teil seines Werkes eindeutig antisozialistisch, und das insgesamt und nicht nur was bestimmte Fragen anlangt, und übt eine enorme antisozialistische Wirkung aus."
In der Erscheinungszeit des Werks wurde es von der Mehrzahl der Leserinnen und Leser als Waffe gegen den Sozialismus und nicht nur den Stalinismus bewertet und trug nicht wenig zu deren Gleichsetzung in der Öffentlichkeit bei. Diese Meinung wurde in Großbritannien auch von prominenten nichtstalinistischen linken Schriftstellern und Publizisten vertreten. Nicht zuletzt der damaligen Popularität eines Antikommunismus, der alles, was in der UdSSR und den Ostblockstaaten vor sich ging, undifferenziert als totalitär und faschistoid ansah, verdankte die brillante Satire ihre unglaubliche Verbreitung — bis 1984 waren weltweit 11 Millionen Exemplare verkauft worden. Allein in Großbritannien gab es zwischen 1954 und 1984 41 Auflagen der Penguin-Ausgabe.
Ganz anders im Jahre 1984. In der UdSSR bereitete sich die Perestroika-Periode vor, der Kalte Krieg schien sich seinem Ende zuzuneigen, die politische Gesamtwetterlage im Westen war nicht mehr auf Konfrontation, sondern auf Wandel durch Annäherung orientiert. Es endete allerdings auch das fordistische Zeitalter und mit den Regierungen Kohl, Thatcher und schließlich Reagan begann die Ära des Hightechkapitalismus und neoliberaler Globalisierung.
Orwells Werk gehörte inzwischen dem Kanon der englischen Literatur an. Teils aus political correctness, teils aus Einsicht in die Ähnlichkeiten zwischen dem stalinistischen Totalitarismus und dem newspeak, mit dem die Medien auch in westlichen Demokratien seither Sozial- und Demokratieabbau in "Reformen", "Präventiv"-Kriegsgeschrei in Friedensarbeit und Menschenrechtsverletzungen in Humanismus umdichten, betonten linke Schriftsteller wie z.B. Raymond Williams Orwells sozialistisches Engagement und bewerteten das Werk zu Recht auch als eine antikapitalistische Satire, die sich vor allem gegen totalitäre Tendenzen in Großbritannien und den USA wendet.
Sowohl in der Farm der Tiere als vor allem auch in 1984 gelang es Orwell in nicht zu überbietend brillanter Zuspitzung, den Weg zu totalitären Deformationen des gesamten öffentlichen und privaten Lebens, die Strukturen und ihre menschenfeindlichen Folgen überzeugend zu gestalten und damit das stalinistische Zerrbild des Sozialismus an den Pranger zu stellen. Zugleich erscheint dieses jedoch als unabwendbar und unaufhebbar.
Die in seinem Werk eingeschriebene Grundposition spiegelt auch seine Verachtung der einfachen Menschen wider, deren Bemühungen um eine alternative Gesellschaft er zwangsläufig zum Scheitern verurteilt sieht, weil die Massen stets schlichten Gemüts sind, von den Cleveren mit Naturnotwendigkeit vereinnahmt, verraten und den Herrschenden preisgegeben werden. Was bleibt von Orwell als demokratischer Sozialismus bezeichnetem Credo, wenn Unterdrückten und Ausgebeuteten jede Lernfähigkeit abgesprochen und theoretische Verallgemeinerungen ihrer Lage nur verhöhnt und als verzichtbar angesehen werden?

Hanna Behrend

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