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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2003, Seite 8

Systemwechsel im Gesundheitswesen

Nur eine Umverteilung nach oben

Diskussionen über Gesundheitspolitik gleichen häufig einer Dschungelexpedition. Schnell fühlt man sich im verrechtlichten Dickicht der Zuständigkeiten, vielfältigen Institutionen und Verfahren verloren. Aus allen Richtungen ertönen die Rufe interessenpolitischer Akteure. Auch manche "Reform"-Vorschläge erschweren die Beurteilung. Die Offenheit, mit der Arbeitgeberverbände ihre Ansprüche zum Teil beschreiben, mag man zwar kaum "dankenswert" nennen — aber sie macht es noch relativ einfach. Problematischer sind Blüten, die den Wohlgeruch von "Qualität und Solidarität" verströmen, sich aus der Nähe aber doch als fleischfressend entpuppen. Fallpauschalen und Kopfpauschalen, "solidarischer Wettbewerb" und evidenzbasierte Behandlungsleitlinien, DRGs und DMPs — da fällt die Orientierung schwer.
In Wahrheit geht es der herrschenden "Reform"-Politik um ein ebenso schlichtes wie prosaisches Ziel: Umverteilung zugunsten der Arbeitgeber durch Senkung der Lohn"neben"kosten. In seiner Regierungserklärung vom 14.März hat sich der Kanzler festgelegt: Die Krankenversicherungsbeiträge sollen unter 13% gedrückt werden. Dazu werden Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gestrichen und mehr Marktkonkurrenz im Gesundheitswesen eingeführt.
Die Behauptung, niedrigere Beiträge kämen Arbeitgebern wie Arbeitnehmern gleichermaßen zu Gute, trügt: Während Erstere sich die Ersparnis unmittelbar gutschreiben können, erkaufen Letztere das Mehr beim Netto mit Qualitätsverlusten ihrer Krankenversicherung und müssen für die neuen Mehrbelastungen (Arztgebühren, Privatversicherung des Krankengelds) selbst aufkommen. Der sozialstaatliche Grundsatz, dass Arbeitgeber zur Hälfte für die Finanzierung der sozialen Sicherung der Lohnabhängigen zuständig sind ("Sozialpflichtigkeit des Eigentums"), ist aufgehoben.
Die Entwicklung in dieser Richtung wird vor allem 1989/90 vehement vorangetrieben. Die Schlagworte "mehr Eigenverantwortung" und "mehr Wettbewerb" bezeichnen die beiden Schienen des Gleises, auf dem das Gesundheitswesen aus der öffentlichen Daseinsvorsorge für alle Kranken in die wettbewerbsstaatliche Zukunft mit mehr sozialer Ungleichheit fährt.
"Mehr Eigenverantwortung" bedeutet Privatisierung von Krankheitsrisiken, um Kosten aus der paritätischen Beitragsfinanzierung herauszunehmen und sie einseitig auf die Versicherten oder gar die Kranken abzuwälzen. Was mit der Einführung der Zuzahlung bei Medikamenten und Klinikaufenthalten begann, wird nun mit der Streichung des Krankengelds einen großen Sprung nach vorn erfahren. Es wird immer mehr zu einer Frage des Geldbeutels, ob man sich Gesundheit "leisten" kann.
"Mehr Wettbewerb" bedeutet, die Beziehungen zwischen den Kassen und denen, die Gesundheitsdienstleistungen erbringen, den Marktkräften zu überantworten. Niedergelassene Praxen und Krankenhäuser sollen in einen Preiswettbewerb gegeneinander treten, sodass sich die Kassen die kostengünstigeren Anbieter "einkaufen" können. Unter dem Zwang zur Beitragsstabilität gehen sie — in krassem Gegensatz zur Alltagserfahrung überfüllter Wartezimmer und Betten auf Krankenhausfluren — zumindest für Westdeutschland von einem erheblichen Zuviel an Krankenhäusern und Praxen aus. Pseudopreise für Behandlungen in Form von Fallpauschalen sollen "wirtschaftliche" von "unwirtschaftlichen" Anbietern unterscheidbar machen. Die Ablösung des Kollektivvertragsrechts der Kassenärztlichen Vereinigungen durch das Recht der Kassen auf Abschluss von Einzelverträgen mit Praxen ermöglicht die Konzentration der Versorgungsstrukturen auf preisgünstige Anbieter.
Entgegen mancher Blütenträume, dass ein solcher "Gesundheitsmarkt" die Stellung der Patienten als "Kunden" stärke, fällt die Kundenrolle wie immer dem zu, der bezahlt: den Kassen als Kostenträgern. Die Stellung der Patienten nähert sich dagegen eher der eines Rohstoffs, mit dessen Verarbeitung das Geschäft gemacht wird.
Schon mit dem "Gesundheitsstrukturgesetz" der informellen Großen Koalition von Lahnstein (1992) wurde den Krankenhäusern auferlegt, sich wie Wirtschaftsunternehmen am Markt zu bewegen. Seither wurde die stationäre Versorgung zunehmend als Anlagefeld privater Kapitalverwertung attraktiv, während Finanznöte öffentlicher Krankenhausträger zu verstärkten Privatisierungen führen. Das Fallpauschalengesetz (2002) leitete die allgemeine Einführung des entsprechenden "Preis"-Systems ein. Der verfassungsrechtlich geschützte Sicherstellungsauftrag der Länder, Grundlage ihrer Krankenhauspläne, zwingt die Kassen zwar zum Vertragsabschluss mit allen dort aufgeführten Häusern und bildet insoweit noch eine rechtliche Schranke für die Entfaltung des freien Marktes. Doch mit Änderungen der Planungsverfahren, die den Kassen darin eine dominante Rolle sichern, kann diese Schranke weitgehend unterlaufen werden. Den Ankündigungen des Kanzlers zufolge hat nun die ambulante Versorgung ihren Rückstand beim Strukturwandel zum Wettbewerbsmarkt aufzuholen.
Berichte über Verschwendung im Gesundheitswesen sind den Versicherten seit langem ein Ärgernis. Wer wollte bestreiten, dass sie einen Anspruch auf sachgerechte Verausgabung ihrer Beitragsmittel haben — möglichst ohne Über-, Unter- und Fehlversorgung? Und gilt nicht der Markt als Garant einer vernünftigen Mittelverwendung? Ein fataler Irrtum. Schon jetzt sind Über-, Unter- und Fehlversorgung in hohem Maße Folge davon, dass betriebswirtschaftliche Kalküle der Dienstleister in das Behandlungsgeschehen hineinregieren.
Wenn Markt und Preiswettbewerb jedes Behandlungszimmer zum "Profit-Center" machen, wird umso mehr gemacht, was sich "rechnet", während der individuellen Bedarf der Patienten für die Zumessung von Leistungen immer weniger eine Rolle spielt.
So bedeuten die Fallpauschalen im Krankenhaus: Wer kürzer liegt als kalkuliert, bringt schwarze, wer länger liegt, bringt rote Zahlen. Die Akteure der angrenzenden Systeme von Rehabilitation und Pflege befürchten zu Recht, dass ihnen im Interesse der Krankenhausbilanzen Patienten zu früh zugeschoben ("blutige Entlassung") und damit Kosten verlagert werden.
Die Effizienz des Marktes gilt allein der Rendite. Marktwettbewerb kann nicht "solidarisch" sein — es geht ums eigene Wachstum bei Untergang anderer — noch qualitative statt monetäre Ziele verfolgen. Man die Risiken des Marktes: Debatten über "Qualitätssicherung" und "gesundheitlichen Verbraucherschutz" haben hohe Konjunktur. Damit werden jedoch Risiken nicht vermieden, sondern allenfalls auf einem erträglich erscheinenden Niveau eingehegt — nachsorgende Schadenbegrenzung statt Prävention. Und: Mängel in der Standardversorgung von Kassenpatienten bilden Zukunftsmärkte für die Privatvorsorge. Mehr Qualität als gewöhnlich ist käuflich — zu höheren Preisen.
Von der klar neoliberal dominierten Rürup-Kommission werden zusätzliche "Reform"-Vorschläge zur GKV-Finanzierung erwartet. Zu den Favoriten mit den größten Realisierungschancen zählt ein Vorschlag, der eigentlich aus der Debatte um soziale Alternativen stammt: die Einbeziehung von Vermögenseinkommen Versicherter in die Beitragspflicht.
Ursprünglich dazu ersonnen, in Verbindung mit anderen Maßnahmen der GKV eine Kompensation für arbeitsmarktbedingte Einnahmeausfälle zu schaffen und dabei für eine gerechtere Lastenverteilung unter den Versicherten zu sorgen, droht er nun dem Ziel dienstbar gemacht zu werden, mit Mehreinnahmen bei Versicherten Beitragssenkungen für Arbeitgeber zu finanzieren.
Die Finanzierungsprobleme der GKV entstehen schon seit Beginn der "Kostendämpfungspolitik" in den späten 70er Jahren nicht auf der Ausgabenseite ("Kostenexplosion"), sondern auf der Einnahmeseite. Der Anteil der beitragspflichtigen Bruttoentgeltsumme am Volkseinkommen schrumpft durch Massenerwerbslosigkeit, Niedriglohnbeschäftigung und unzureichende Tarifentwicklung.
Eine sozialstaatlich orientierte Alternative zur neoliberalen Politik, die auf ein leistungsfähiges, solidarisches Gesundheitswesen für alle zielt, muss deshalb eine mittel- und langfristige Strategie zur Schaffung einer Neuen Vollbeschäftigung mit kurzfristig wirksamen Maßnahmen zur Stärkung der GKV-Finanzbasis kombinieren, die die hälftige Einbindung der Kapitalseite wiederherstellen und den fatalen Mechanismus brechen, welcher Arbeitsplatzvernichtung mit sinkenden Beitragsleistungen zur Sozialversicherung belohnt. Deshalb kommt der Frage einer ergänzenden Wertschöpfungsabgabe der Unternehmen eine Schlüsselrolle für die Formulierung sozialer Alternativkonzepte zu.

Daniel Kreutz

Daniel Kreutz ist Mitglied im Sozialverband Deutschland.



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