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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2003, Seite 9

Was Kohl nicht gelungen ist:

Rot-Grün demontiert soziale Sicherungssysteme

Am vergangenen Freitag gab Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Bundestag seine mit Spannung erwartete Regierungserklärung zur Lage der Nation.
Obwohl seit Wochen angekündigt als große "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede, die das Land in Aufbruchstimmung versetzen sollte, blieb nach seiner Ansprache der Ruck, der durch Deutschland gehen sollte, dennoch aus. Kein Ruck, nirgends: Den Medien fehlte der große, (Volks-)Gemeinschaft stiftende Wurf. Die Gewerkschaften kritisierten zwar seine soziale Unausgewogenheit, ein praktischer Ruck von der Presseerklärung zur Gegenwehr ist bisher jedoch nicht zu erkennen. Lediglich die Unternehmerverbände applaudierten wohlwollend, aber mit dem Tenor: "Für den Anfang in Ordnung, aber längst nicht ausreichend!"
Die von Schröder angekündigten Einschnitte für Arbeitslose, im Gesundheitswesen und im Arbeitsrecht sind dennoch die brutalsten und folgenreichsten, die je eine deutsche Nachkriegsregierung in Angriff genommen hat. Auch wenn sie öffentlich gar nicht als so markanter Bruch wahrgenommen wurden. Das hat damit zu tun, dass jeder einzelne dieser Schnitte seit Beginn der zweiten Amtsperiode von Rot-Grün vor sechs Monaten bereits ein- oder mehrmals in die Diskussion gebracht wurden, also für sich genommen nicht mehr überraschend war.
Was die Gewerkschaftslinke bereits im September 2002 richtig analysiert hatte, hat sich vergangene Woche ein weiteres Mal bestätigt: Der wirtschaftsliberale Kurs wird fortgesetzt, weitere Geschenke und Deregulierungen fürs Kapital in Aussicht gestellt, und mit der verlogenen Formel "Alle müssen ihren Beitrag leisten" denen dreist ins Portemonnaie gegriffen, die am wenigsten drin haben: Kranke, Alte, Arbeitslose. Dabei handelt es sich bei den angekündigten Maßnahmen keineswegs bloß um verkehrte "politische Symbolik", wie Schröder-Kritiker vom "linken" SPD-Flügel bemängelten. Diese Maßnahmen haben gravierende Auswirkungen:
n Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wird bei Menschen unter 55 Jahren auf 12 Monate, bei Menschen über 55 Jahren auf höchstens 18 Monate beschränkt. Bisher gab es Arbeitslosengeld deutlich länger, bis zu 32 Monate für über 57-Jährige. Nach 12 Monaten Arbeitslosigkeit rutschen Erwerbslose auf das Niveau der Sozialhilfe ab, genannt "Arbeitslosengeld II". Das bedeutet: aufs Existenzminimum. Die unappetitliche Legende, dass sich Arbeitslosigkeit mit einer Verarmungspolitik gegen Arbeitslose reduzieren ließe, wird von der Bundesregierung in Schröders Erklärung zum 1001. Mal wiederholt: "Wir steigern die Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Deswegen werden wir Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen."
n Im Gesundheitswesen werden die von den Patienten ganz- oder teilweise direkt selbst zu bezahlenden medizinischen Leistungen drastisch ausgeweitet: von der Untersuchungsgebühr ("Praxis-Gebühr") beim Arztbesuch bis zu hohen Zuzahlungen für Medikamente und Behandlungen. Außerdem soll weiter privatisiert werden. Bisher haben die Krankenkassen nach Ende der sechswöchigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall das sog. Krankengeld bezahlt. Das soll aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen verschwinden. Gegen das Risiko, länger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank zu sein, sollen sich Arbeiter und Angestellte künftig privat versichern. Und "privat versichern" heißt: ohne dass der Arbeitgeber die Hälfte davon bezahlen müsste, wie es in der solidarischen Krankenversicherung seit über 100 Jahren üblich war.
Die Regierungspolitik im Gesundheitswesen verfolgt offensichtlich eine Doppelstrategie: Zum einen wird die Akzeptanz und die Legitimation eines solidarischen Gesundheitssystems durch dauernde Leistungsverschlechterung und Propagandakampagnen über dessen "Unbezahlbarkeit" unterminiert. Damit wird der Boden bereitet für die nächsten Verschlechterungen und Privatisierungen von Gesundheitsrisiken. Zum andern wird der Unternehmeranteil (die paritätische Finanzierung) an der solidarischen Krankenversicherung direkt reduziert und Gelder von Arbeitern und Angestellten aus der gesetzlichen Krankenversicherung in die Kassen der privaten Versicherungsunternehmen umgeleitet.
n Sogar die besonders gern als symbolisch und beschäftigungspolitisch wirkungslos bezeichnete Lockerung des gesetzlichen Kündigungsschutzes hat weitreichende Folgen, auch wenn sie garantiert keine einzige Einstellung bringen wird. So musste bisher bei betriebsbedingten Kündigungen eine sog. "Sozialauswahl" getroffen werden, bei der soziale Kriterien wie Alter, Betriebszugehörigkeit, Familienstand zu berücksichtigen war. Mit dieser Sozialauswahl konnte einer exzessiven Selektion von Belegschaften gegengesteuert werden. Für Schröder ein abzuwerfender Ballast: "Wir werden die Sozialauswahl so umgestalten, dass die Leistungsträger unter den Beschäftigten im Unternehmen gehalten werden."

Gewerkschaften vor der Richtungsentscheidung

Mit Schröders Regierungserklärung stehen Angriffe auf die sozialen Sicherungssysteme auf der Tagesordnung, die vor ihm noch kein Bundeskanzler gewagt hat. Ein Oppositionssturm — seinerzeit noch sozialdemokratisch geführt — und Gewerkschaftsproteste auf den Straßen hätten einen Kanzler Kohl in die Schranken gewiesen. Zu Sozialdemokratie und Grünen ist jeder weitere Kommentar überflüssig. Aber die Gewerkschaften?! Waren die sozialen Sicherungssysteme nicht der Identifikationspunkt der Gewerkschaftsführungen mit dem Nachkriegskapitalismus schlechthin? Aber seit Monaten schweigen sie zu alledem — obwohl die Parteifreunde in Berlin immer zudringlicher nach diesem Tafelsilber greifen. Und auch jetzt ist von massiver Gegenwehr nicht viel zu hören.
Nun haben sich weder der DGB noch die großen Einzelgewerkschaften in den letzten Jahren viel mit Ruhm bekleckert, wenn es darum ging, gegen die Umverteilung von unten nach oben in allen Lebensbereichen Widerstand zu organisieren. Erinnert sei an die höchst halbherzige Politik gegen den Systembruch in der Rentenversicherung, gegen die Steuerreform, die die leeren öffentlichen Kassen (mit-)verursacht, oder die Hartz-Vorschläge, die weitgehend unkritisch akzeptiert und verharmlost wurden.
Doch ist die halbherzige Politik nicht Ergebnis davon, dass die Bevölkerung oder gar die Mitgliedschaft die Verzichtsforderungen von Regierung und Unternehmern akzeptieren würde, Widerstand deshalb zwecklos wäre. Der Verlauf der Metall-Tarifrunde 2002 und die Lohnrunde von Ver.di im öffentlichen Dienst Anfang dieses Jahres belegen: Trotz Medientrommelfeuer gegen die unverantwortlichen "Arbeitsplatzbesitzer" gab und gibt es Kampfbereitschaft in den Betrieben und Büros.
Beide Tarifrunden markierten einen kleinen Schritt heraus aus der Unterordnung der Gewerkschaften unter Regierungs-und Kapitalinteressen. Angesichts der angekündigten Politik der Regierung sind allerdings weitaus größere Schritte nötig. Wer die öffentliche Daseinsvorsorge verteidigen, verbessern und dafür politischen Druck machen will, kommt um die zentrale Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nicht herum. Und politische Konzepte, die dies gegen Kapitalinteressen thematisieren, gewinnen Durchsetzungsmacht nicht durch Lobbyismus, das ist 10000fach bewiesen. Sondern nur durch Demonstration von Gegenmacht auf der Straße. Nur das beeinflusst auch die öffentliche und veröffentlichte Meinung.
Die Gewerkschaften stehen vor einer Richtungsentscheidung: Rückgewinnung von Autonomie und Glaubwürdigkeit durch Kampagnen und Mobilisierung der Mitglieder für Umverteilung, gegen soziale Demontage und Krieg, im Bündnis mit der Antikriegsbewegung, sozialen Verbänden, der Antiglobalisierungsbewegung — oder ein letztlich selbstzerstörerischer Kurs des nationalen Wettbewerbspakts am Katzentisch der Regierung. Dass ersteres sich durchsetzt, dafür muss die Linke in den Gewerkschaften kämpfen. Die Alternative für die Gewerkschaften heißt heute mehr denn je: Teil der Lösung werden — sonst ist sie Teil des Problems!

Tom Adler

Tom Adler ist IG-Metall-Betriebsrat bei DaimlerChrysler in Stuttgart



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