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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2003, Seite 10

Frankreich

Marsch der Frauen der Vorstädte

"Ni putes ni soumises — Weder Huren noch Unterworfene." Die gewählte Parole könnte nicht roher und gewalttätiger sein, um die ganze Verzweiflung, die Wut und den Wunsch nach Veränderung auszudrücken. Denn der Marche des femmes des quartiers "gegen die Ghettos und für die Gleichheit", der sich diese Losung gegeben hat, stellt die französische Gesellschaft gründlich auf den Prüfstand, indem er versucht, Licht auf jene städtischen Zonen zu werfen, in denen Gewalt und Diskriminierungen mit sozialer und sexueller Ausgrenzung einhergehen.
Der Marsch, der Anfang Februar in Vitry begonnen hat, erreichte am 8.März das Zentrum von Paris und hat in den fünf Wochen davor in mehr als 23 französischen Städten Station gemacht. Damit soll das Leben angeprangert werden, das die Frauen, vor allem die heranwachsenden, in den großen Vorstädten, den banlieues, zu führen gezwungen sind, wo über ein Viertel der Bevölkerung des Landes lebt.
Aber die Strecke, die der Marsch durch die Vorstädte Frankreichs zurücklegt, zeigt noch eine weitere Absicht: nämlich für einen großen Teil dieser städtischen Gebiete, wo der Teufelskreis von Gewalt und Unterdrückung endlos scheint, Freiheit und Recht wiederzugewinnen.
Überfliegt man die Namen der Wohnviertel, aus denen die Frauen stammen, die zuerst den Vorschlag für diese Initiative gemacht haben, entdeckt man, dass es dieselben sind, in denen Vergewaltigungen von jungen Frauen durch die Polizei an der Tagesordnung sind und wo sich infolge der hohen Mietpreise in den alten, historisch gewachsenen Zentren vor allem die ärmste Bevölkerung und die Immigranten, was häufig dasselbe ist, konzentrieren.
In dieser gewalttätigen und ghettoisierten Gesellschaft, die in den Vorstädten Gestalt annimmt, sind die Mädchen die ersten Opfer: Sie sind der Repression in den Familien ausgesetzt, besonders in denen, die den Islam als Riegel gegenüber der äußeren Welt betrachten. Dabei laufen sie jeden Tag Gefahr, zur Zielscheibe ihrer männlichen Altersgenossen zu werden — eine Spirale der Angst, die sich nach und nach in reinen Terror verwandelt.
"Dort, wo die Männer leiden, tragen die Frauen dieses Leid. Ökonomische Ausgrenzung und Diskriminierungen haben Ghettos geschaffen, wo die Bürger sich gegenüber den anderen nicht mehr als gleich betrachten und die Bürgerinnen noch weniger", liest man im Manifest (siehe www.macite.net), das der Marsch herausgegeben hat und das bisher über 15000 Unterschriften trägt.
"Die Behörden, die Medien, die politischen Parteien betrachten die Vorstädte nur unter männlichem Blickwinkel", erklären die Initiatorinnen des Marsches. "Doch den allgegenwärtigen Sexismus anzuprangern, die verbale und physische Gewalt, die Unterdrückung der Sexualität, die ständigen Vergewaltigungen, die Zwangsehen, die Unterdrückung, die im Namen der ‚Familienehre‘ die Brüder in Wärter und die Wohnviertel in Gefängnisse verwandelt, all dies anzuprangern ist die einzig mögliche Weise zu rebellieren und aus der Logik von Ghetto und Gewalt herauszukommen."
Diese Worte werden auf dramatische Weise durch die Geschichte der sechs Frauen konkret, die zusammen mit dem Frauenhausverband FNMP, der SOS Racisme nahe steht, die Initiative lanciert haben. Samira Bellil hat in einem Buch von den kollektiven Vergewaltigungen berichtet, denen sie in ihrem Viertel ausgesetzt war. Heute, mit 29 Jahren, erklärt sie ihr Engagement für den Marsch so: "Es gibt vieles zu sagen darüber, wie wir leben und wie sich die jungen Männer uns gegenüber und untereinander verhalten … Ich möchte aus all dem eine positive Energie gewinnen. Damit habe ich ein zweites Leben gewonnen."
Kahina ist die Schwester von Sohane, einem Mädchen von 17 Jahren, das im Oktober vergangenen Jahres zwischen den Mietskasernen von Vitry von einem Jungen verbrannt wurde, der sich in einem Bandenstreit rächen wollte. "Der Tod meiner Schwester hat mich erschüttert und dazu geführt, dass ich das Viertel verlassen habe. Aber acht Monate, nachdem ich fortgegangen bin, ist mir klar geworden, dass ich nicht fortgehen kann, solange die Dinge so weitergehen: das Leben in den Vorstädten ist kein Leben. Daher habe ich gefühlt, dass ich zusammen mit den anderen Mädchen kämpfen musste."
Sie und die anderen jungen Frauen, die im Manifest erscheinen, haben Fadela Amara getroffen, die Hauptinitiatorin der FNMP, die über ein Jahr lang daran gearbeitet hat, der ursprünglichen Idee des Marsches Gestalt zu geben. "Dieser Marsch will die Situation, in der die Frauen der Vorstädte leben, ins Bewusstsein rufen und dabei die ganze Gesellschaft auf den Prüfstand stellen. Es ist nötig, den Mädchen das Wort zu geben, damit sie den Mut finden können, sich auszudrücken", erklärt Amara. Dabei macht sie sich — bei allen Perspektiven, die der Marsch eröffnen kann — keine Illusionen: "Wir wissen sehr wohl, dass die Probleme in den Wohnvierteln auch nach dem Marsch bestehen bleiben. Aber es ist schon viel erreicht, wenn diese Initiative den Mädchen der Vorstädte Gehör verschafft. Das ist ein großer Schritt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt."

Nach: Liberazione, 8.3.2003.

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