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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2003, Seite 14

Die "Vereinten Nationen von Amerika"

Feigenblatt für imperiale Abenteuer

Nach den Anschlägen vom 11.9.2001 krähte die Financial Times, dass damit die antikapitalistische Bewegung endgültig erledigt sei. Zu früh gefreut, ihr Herren! Das Gegenteil ist geschehen. Eine neue Generation hat verstanden, dass die Politiker, die zu Hause die neoliberale Ökonomie predigen, dieselben Leute sind, die im Ausland Kriege führen, und zwar für dieselben Interessen. Wie könnte es auch anders sein?
Auch in Großbritannien ist eine knappe Mehrheit gegen den Krieg. Es ist das erste Mal seit der Suezkrise von 1956, dass es in Großbritannien in einer Kriegssituation mehr Tauben als Falken gibt. Damals sprachen sich die Labour Party und ihr Führer Hugh Gaitskell gegen die Invasion Ägyptens aus. Doch diesmal sieht sich die Antikriegsbewegung mit einem nahezu einmütigen Unterhaus konfrontiert.
Allerdings weist die britische Friedensbewegung eine schwache Flanke auf. Ein Krieg, der nicht zu rechtfertigen ist, wenn er allein von Bush und Blair geführt wird, wird für die Mehrheit völlig akzeptabel, wenn er von der "internationalen Gemeinschaft", d.h. vom UN-Sicherheitsrat, sanktioniert wird.
Dies wirft einige Fragen über die heutige UNO auf. Wen repräsentiert sie? Spielt sie überhaupt noch eine Rolle? Haben ihre Resolutionen ein Gewicht, wenn sie von den USA missachtet werden, wie dies wiederholt in Bezug auf Palästina und Kaschmir der Fall war? Und spiegelt die Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrats die Realitäten der heutigen Welt wider? Da seit dem Zusammenbruch der UdSSR ein Gegengewicht fehlt, waren die USA weitgehend in der Lage, der Welt ihr ökonomisches, politisches und kulturelles Modell aufzuzwingen.
Internationale Organisationen wie die UNO und ihr unglücklicher Vorgänger, der Völkerbund, wurden geschaffen, um einen neuen Status quo zu verankern, zu dem es nach zwei blutigen Konflikten, den beiden Weltkriegen, gekommen war. Beide Organisationen wurden auf der Grundlage der Verteidigung des Rechts der Nationen auf Selbstbestimmung gegründet. In beiden Fällen ächtete die jeweilige Gründungscharta Präventivschläge und die Versuche von Großmächten, Länder zu besetzen oder Regimewechsel herbeizuführen. Beide betonten, dass der Nationalstaat die Imperien ersetzt hätte.
Der Völkerbund war nicht in der Lage, Mussolinis imperialen Ambitionen Widerstand zu leisten. Die Institution brach zusammen, nachdem die italienischen Faschisten Äthiopien besetzt hatten.
Die UNO wurde nach der Niederlage des Faschismus geschaffen. Ihre Strukturen spiegelten die neue Ordnung wider. Ihre Charta verbietet ausdrücklich die Verletzung der nationalen Souveränität, außer im Fall der "Selbstverteidigung". Jedoch war die UNO trotz der Existenz der UdSSR nicht in der Lage, den gerade unabhängig gewordenen Kongo gegen die Machenschaften der USA und Belgiens in den 60er Jahren zu verteidigen oder das Leben des kongolesischen Führers Patrice Lumumba zu retten.
1950 nutzte der Sicherheitsrat einen vorübergehenden sowjetischen Boykott aus und genehmigte den Krieg der USA in Korea. Unter dem Banner der UNO zerstörten die westlichen Armeen bewusst Staudämme, Kraftwerke und die Infrastruktur des sozialen Lebens in Nordkorea — ein klarer Bruch des Völkerrechts. Die UNO war auch nicht in der Lage, den Krieg in Vietnam zu stoppen. Ihre Untätigkeit gegenüber der Besetzung Palästinas ist seit über zwei Jahrzehnten notorisch.
Diese meisterhafte Untätigkeit beschränkte sich nicht auf die westlichen Verbrechen. Die UNO war machtlos gegenüber der sowjetischen Invasion in Ungarn (1956) und dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei (1968). Mit anderen Worten, beide Großmächte ließen einander gewähren — unter klarem Bruch der UN- Charta.
Aber damals gab es eine. In der unipolaren Welt von heute, mit den USA als dem dominierenden militärisch-imperialen Staat, ist der Sicherheitsrat ein Schauplatz für den Handel — nicht mit Beleidigungen, sondern mit den Anteilen der Beute geworden. Der von den Faschisten am meisten gefürchtete italienische Theoretiker des vergangenen Jahrhunderts prophezeite diese Wende der Ereignisse mit erstaunlicher Voraussicht. "Die ‚normale‘ Ausübung der Hegemonie…", schrieb Antonio Gramsci, "zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne dass der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt". Es gab, führt Gramsci aus, Anlässe, bei denen es angemessener war, zu einer dritten Variante der Hegemonie überzugehen, denn "[z]wischen Konsens und Zwang steht Korruption-Betrug … also die Zermürbung und Lähmung, die dem Antagonisten oder den Antagonisten zugefügt wird".
Hier haben wir eine exakte Beschreibung des Prozesses, der verfolgt wurde, um französische und russische Unterstützung in der UNO für die Resolution 1441 zu kaufen, verdeutlicht durch eine bemerkenswert direkte Titelschlagzeile der Financial Times (4.10.2002): "Putin feilscht heftig mit USA über Iraks Öl: Moskau verlangt hohen Handelspreis für seine Unterstützung".
Die europäischen Verbündeten scharren bei exzessivem "Unilateralismus" der USA mit den Füßen — im Wesentlichen sind dies verwirrende Fehlschläge der Konsultation, die als Deckmantel der europäischen Unterordnung dienen. China und Russland feilschen kümmerlich um Gegenleistung für ihre Gunst im Sicherheitsrat. Doch auch ohne diese wird zur Tat geschritten.
Die UNO bietet den Schwachen keine Zuflucht vor den Soldaten von Infinite Justice und Enduring Freedom. Es gibt 189 Mitgliedstaaten der UNO. Und es gibt, laut der Statistik des US-Verteidigungsministeriums, eine US-Militärpräsenz in 120 Staaten. Die Vereinten Nationen von Amerika?
Die UNO hat in der Vergangenheit Organisationen wie die UNESCO oder die WHO geschaffen, von denen die Welt profitiert hat. Aber in der Zeit der neoliberalen governance ist das Ethos des Zerstörung der Herr im Haus und nicht wohlmeinende soziale Organisationen.
In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich die Welt derart verändert, dass die UNO ein Anachronismus geworden ist, ein permanentes Feigenblatt für neue imperiale Abenteuer.
Der letzte mit nur einer Gegenstimme (seitens der USA) gewählte UNO- Generalsekretär wurde abgesetzt, nachdem er darauf bestanden hatte, dass der Völkermord in Rwanda eine Intervention erforderte (die US- Interessen verlangten dagegen eine Präsenz auf dem Balkan). Die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright verlangte und erreichte die Entfernung des Mannes, der es gewagt hatte, ihrem imperialen Willen Paroli zu bieten — Boutros Boutros-Ghali. Er wurde durch den gegenwärtigen Amtsinhaber, Kofi Annan, ersetzt, ein schwacher und pathetischer Pöstcheninhaber, dessen scheinheilige Reden vielleicht bisweilen die britische Öffentlichkeit täuschen können, aber nicht ihn selbst. Er weiß, wer das Sagen hat.
Der Völkerbund brach nach den "Präventivschlägen" Hitlers und Mussolinis zusammen. Hitler behauptete, dass seine Invasionen durch Drohgebärden von Nationen wie der Tschechoslowakei, Polen und Norwegen provoziert worden seien. Mussolini verteidigte seinen Einmarsch in Albanien mit der Behauptung, dass dadurch das "korrupte", feudale und repressive Regime von König Zogu beseitigt würde, und Wochenschauen zeigten dankbare Albaner, die die einmarschierenden italienischen Truppen begeistert begrüßten.
Die Akteure haben gewechselt, aber das Drehbuch ist dasselbe geblieben. Und wenn der Sicherheitsrat für die Invasion und Besetzung des Irak grünes Licht gibt (was er zwangsläufig muss), dann wird auch die UNO einen längst überfälligen Tod sterben.
In der Zwischenzeit muss die Antikriegsbewegung geduldig erklären, warum ein Krieg mit dem Segen der UNO ebenso unmoralisch und ungerecht ist wie ein Krieg, der im Pentagon ausgeheckt wird. Denn es wird derselbe Krieg sein, ob nun ein paar von Chiracs Söldnern daran teilnehmen oder nicht.

Tariq Ali

Aus: Green Left Weekly (Sydney), Nr.527, 26.2.2003.


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