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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2003, Seite 16

Ein gerechter Krieg?

Über richtige und falsche Argumente zu Krieg und Frieden

Die Aussicht auf den zweiten Krieg gegen den Irak wirft eine große Menge Fragen auf, analytische und politische. Welches sind die Intentionen des drohenden Feldzugs? Welches werden ihre wahrscheinlichen Konsequenzen sein? Was offenbart uns das Drängen zum Krieg über die langfristige Dynamik der US-amerikanischen Weltmacht? Diese Fragen werden noch für einige Zeit auf der Tagesordnung stehen und den Angriff im Frühjahr überdauern. Im Vordergrund des aktuellen Interesses stehen jedoch andere Argumente, Argumente über die Legitimität und Weisheit der sich nun zusammenbrauenden Militärexpedition. Meine Absicht ist hier, die gegenwärtigen, in der Öffentlichkeit überwiegend geäußerten Kritiken an der Bush-Administration und deren Antworten zu untersuchen, vor allem wie beide Seiten ihre Argumente intellektuell rechtfertigen.
Wenn wir einen Überblick über die Fülle der Einwände gegen den zweiten Irakkrieg gewinnen wollen, können wir sechs prinzipielle Kritiken unterscheiden, die sich auf verschiedenen Ebenen und über eine weite Spanne von Meinungen ansiedeln.

Die Argumente der Kritiker

1. Der geplante Angriff auf den Irak ist ein nacktes Ausspielen des US-amerikanischen Unilateralismus. Die Bush- Administration hat offen ihre Absicht erklärt, Bagdad anzugreifen, ob die Vereinten Nationen diesen Angriff gutheißen oder nicht. Dies ist nicht nur ein schwerwiegender Schlag gegen die westliche Allianz, sondern muss auch zu einer nie dagewesenen und gefährlichen Schwächung der Autorität des Sicherheitsrats als der höchsten Verkörperung des internationalen Rechts führen.

2. Eine solch massive Intervention im Nahen Osten kann den antiwestlichen Terrorismus nur befördern. Anstatt zu helfen, Al Qaeda zu zerschlagen, wird sie deren Rekruten eher vermehren. Amerika wird nach einem Krieg mit dem Irak gefährdeter sein als vor einem solchen.

3. Der in Vorbereitung befindliche Blitzkrieg ist ein Präventivschlag, offen als solcher deklariert, der den Respekt vor dem internationalen Recht unterminiert und riskiert, die Welt in einen Malstrom der Gewalt zu ziehen, wenn andere Länder ebenso verfahren und das Recht selbst in die Hand nehmen.

4. Krieg sollte in jedem Fall immer nur das letzte Mittel zur Beilegung eines internationalen Konflikts sein. Im Falle des Irak machen es eine hinreichende Verstärkung der Sanktionen und Überwachungen möglich, das Baath-Regime zu entwaffnen und sowohl unschuldige Leben zu retten wie die Einheit der internationalen Gemeinschaft zu wahren.

5. Die Konzentration auf den Irak ist eine Ablenkung von der dringenderen Gefahr, die von Nordkorea ausgeht, das ein größeres Nukleararsenal besitzt, eine machtvollere Armee und eine tödlichere Regierung. Die USA sollten sich lieber mit Kim Jong-Il und nicht mit Saddam Hussein auseinandersetzen.

6. Selbst wenn eine Invasion des Irak glimpflich verläuft, ist eine Besetzung des Landes für die USA viel zu gefährlich und kostspielig, um erfolgreich zu sein. Eine Teilnahme der Verbündeten ist notwendig, um überhaupt eine Realisierungschance zu haben, doch der Unilateralismus der Administration behindert diese Chance. Die arabische Welt wird einer fremden Besatzung mit Reserve begegnen. Selbst wenn das Land von einer westlichen Koalition geführt wird, so ist der Irak doch eine zutiefst gespaltene Gesellschaft, ohne demokratische Tradition, und kann nicht so wieder aufgebaut werden, wie Deutschland und Japan nach dem Krieg. Die potenziellen Kosten des ganzen Unternehmens wiegen nicht die Vorteile auf, die die USA von ihm erwarten können.
Dies ist mehr oder weniger das Spektrum der Kritik, die in den großen Medien und in angesehenen politische Kreisen sowohl in den USA selbst als auch — noch stärker — in Europa und darüber hinaus geäußert werden. Sie können zusammengefasst werden unter den Stichworten: Übel des Unilateralismus; Risiko, den Terrorismus zu befördern; Gefahren des Präventivkriegs; menschliche Kosten des Krieges; Bedrohung durch Nordkorea; Gefahr des Sich-Überhebens. Als solche teilen sie sich in zwei Kategorien: in prinzipielle Einwände — die Übel von Unilateralismus, Präventivschlag und Krieg — und Einwände der weisen Umsicht: die Gefahren durch Terrorismus, Nordkorea und ein Sich-Übernehmen.

Die Argumente der Bush-Administration

Welche Antworten kann die Bush-Administration hierauf geben?

1. Unilateralismus. Historisch haben sich die USA stets und durchaus parallel zur Suche nach möglichen Verbündeten das Recht vorbehalten, allein zu agieren, wenn dies notwendig war. In den letzten Jahren haben sie in Grenada, Panama und Nikaragua allein agiert — und welche ihrer Verbündeten würden sich heute über die gegenwärtigen Verhältnisse in all diesen Ländern beschweren? Und was die UNO angeht, so hat die NATO sie nicht konsultiert, als sie 1999 ihren Angriff auf Jugoslawien in Gang setzte, an dem all die europäischen Verbündeten voll partizipierten, die nun von der Notwendigkeit einer Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat reden, und den 90% all jener wärmstens unterstützten, die sich nun beklagen. Wenn es richtig war, Milosevic mit Gewalt abzusetzen, der keine Massenvernichtungswaffen besaß und eine Opposition tolerierte, die ihn bei Wahlen möglicherweise schlagen konnte, wie kann es dann falsch sein, Saddam mit Gewalt abzusetzen, jenen viel tödlicheren Tyrannen, dessen Menschenrechtsverletzungen schlimmer sind, der einen Nachbarn überfallen, chemische Waffen benutzt und jede mögliche Opposition gebrochen hat? Die UNO hat jedenfalls eine Resolution verabschiedet, die Resolution 1441, die Mitgliedern des Sicherheitsrats einen effektiven Spielraum gibt, Gewalt gegen den Irak anzuwenden, und damit die Legalität des Angriffs gewährleistet.

2. Terrorismus. Al Qaeda ist ein Netzwerk, das von religiösem Fanatismus zusammengehalten wird, von einem Glauben, der zum Heiligen Krieg der moslemischen Welt gegen die USA aufruft. Der Glaube, dass Allah den heiligen Kriegern den Sieg sichert, ist dabei grundlegend. Es gibt deswegen keinen sichereren Weg der Demoralisierung und Zerstörung dieses Netzwerks, als die Hohlheit des himmlischen Glaubens und die absolute Unmöglichkeit eines Widerstands gegen die überlegene US-amerikanische Streitmacht zu demonstrieren. Auch der imperiale Fanatismus der Nazis und Japans wurden von der schlichten Tatsache einer vernichtenden Niederlage zunichte gemacht. Al Qaeda ist auch nicht annähernd so stark wie jene. Warum sollte es hier also anders laufen?

3. Prävention. Weit davon entfernt, eine neue Doktrin zu sein, ist dies ein traditionelles Recht der Staaten. Was war der meist bewunderte militärische Sieg der Nachkriegsära anderes als ein blitzschneller Präventivschlag? Israels Sechs-Tage-Krieg von 1967, weit entfernt, als solcher verurteilt zu werden, wurde zum Ausgangspunkt der modernen Doktrin von gerechten und ungerechten Kriegen, wie sie der angesehene Philosoph der US-amerikanischen Linken, Michael Walzer, in seinem von dem noch wichtigeren liberalen Philosophen John Rawls inspirierten Werk mit dem treffenden Titel The Law of Peoples ausgeführt hat. Der Angriff auf den Irak wird nur den unerlässlichen Präventivschlag gegen den Osirk- Reaktor von 1981 vollenden. Und wer hat sich darüber beklagt?

4. Die menschlichen Kosten des Krieges. Diese sind in der Tat tragisch, und wir werden alles in unserer Macht stehende — und nun technisch mögliche — tun, die zivilen Verluste zu minimieren. Fakt ist jedoch, dass ein schneller Krieg Leben rettet, nicht kostet. Seit 1991 haben UNICEF-Angaben zufolge die weitgehend unterstützten Sanktionen gegen den Irak 500000 Tote wegen Unterernährung und Krankheit verursacht. Selbst wenn wir eine geringere Zahl annehmen, 300000 z.B., ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein schneller, chirurgischer Krieg, zu dem wir fähig sind, auch nur annähernd so zerstörerisch sein wird wie der Frieden. Im Gegenteil, ist Saddam erst einmal gestürzt, wird das Öl bald wieder frei fließen und irakische Kinder werden genug zu essen haben. Man wird sehen, dass sich das Bevölkerungswachstum schnell erholen wird.

5. Nordkorea. Dies ist ein gescheiterter kommunistischer Staat, der sicherlich eine große Gefahr für Nord- und Ostasien darstellt. Wie wir bereits vor den gegenwärtigen Auseinandersetzungen festgestellt haben, stellt es den anderen Pol der Achse des Bösen dar. Aber es ist gesunder Menschenverstand, seine Kräfte zuerst auf den schwächeren, nicht den stärkeren Pol der Achse zu konzentrieren. Nicht weil Pjöngjang ein paar rudimentäre Nuklearwaffen hat — die könnten wir leicht außer Gefecht setzen —, sondern weil es Seoul in einem konventionellen Angriff zerschmettern kann, müssen wir vorsichtiger vorgehen, es zu Fall zu bringen. Aber zweifeln Sie ernsthaft daran, dass wir uns des nordkoreanischen Regimes schließlich nicht ebenfalls annehmen werden?

6. Überdehnung. Eine Besetzung des Irak stellt eine Herausforderung dar, die wir nicht unterschätzen. Aber es ist ein vertretbares Wagnis. Die arabische Feindschaft wird überschätzt. Letztendlich gab es im gesamten Nahen Osten während der letzten zwei Jahre, die nötig waren, die zweite Intifada vor laufenden Fernsehkameras zu zerschlagen, nicht eine Demonstration von Bedeutung, obwohl die Sympathie für die Palästinenser viel größer ist als für Saddam. Sie vergessen auch, dass wir bereits ein Protektorat im nördlichen Drittel des Irak unterhalten, wo wir erfolgreich kurdische Köpfe gegen einander schlagen. Hören Sie hierüber böses Gerede? Das sunnitische Zentrum des Landes wird natürlich schwieriger zu managen sein, doch die Behauptung, dass ein von fremden Mächten gebildetes und geführtes Regime im Nahen Osten unmöglich sei, ist absurd. Denken Sie an die lange Zeit stabile Monarchie, die die Briten in Jordanien errichtet haben, oder den zufriedenen kleinen Staat, den sie in Kuwait errichtet haben. Oder an unseren loyalen Freund Mubarak in Ägypten, das eine viel größere urbane Bevölkerung hat als der Irak. Alle sagten, Afghanistan sei ein Friedhof für Fremde — Briten, Russen usw. Wir haben es aber schnell genug befreit, und nun leistet die UNO exzellente Arbeit, es zurück ins Leben zu bringen. Warum also nicht der Irak? Wenn alles gut geht, können wir große Vorteile ernten — eine strategische Plattform, ein institutionelles Modell und ein nicht unbeträchtliches Ölangebot.

Gemeinsame Voraussetzungen

Wenn wir nun nüchtern auf die zwei Argumentationsmuster schauen, besteht kein Zweifel, dass die Argumente der Administration in prinzipieller Hinsicht stichhaltiger sind. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die beiden Seiten teilen eine Reihe von Annahmen, deren Logik einen Angriff auf den Irak zu einem durchaus zu verteidigenden Unternehmen macht. Welches sind diese Annahmen? Grob gesprochen können wir sie wie folgt zusammenfassen.

1. Der UN-Sicherheitsrat verkörpert den obersten legalen Ausdruck der "internationalen Gemeinschaft"; außer bei definierten Ausnahmen haben dessen Resolutionen eine moralisch und juristisch bindende Kraft.

2. Wo notwendig, erfordern humanitäre oder andere Interventionen des Westens nicht die Erlaubnis der UNO — wenn es auch immer vorzuziehen ist, sie zu haben.

3. Der Irak hat eine Schandtat gegen das internationale Recht begangen, als er Kuwait zu annektieren versuchte, und musste für dieses Verbrechen bestraft werden, weswegen die UNO auch einheitlicher denn je handelte.

4. Der Irak hat auch versucht, Atomwaffen zu bekommen, deren Weiterverbreitung in jedem Fall eine ernsthafte Bedrohung der internationalen Gemeinschaft darstellt, ganz zu schweigen von chemischen oder biologischen Waffen.

5. Der Irak ist eine Diktatur ganz eigener Art, ist vielleicht Teil einer kleinen, Nordkorea einschließenden Gruppe, die die Menschenrechte verletzt.

6. Deswegen können dem Irak die Rechte eines souveränen Staates nicht zugestanden werden. Er muss stattdessen der Blockade unterworfen werden, dem Bombardement und dem Verlust territorialer Integrität, solange bis die internationale Gemeinschaft anders entscheidet.
Von diesen Voraussetzungen ausgehend ist es nicht schwer aufzuzeigen, dass dem Irak kein Besitz von Nuklear- oder anderen Waffen erlaubt werden kann, dass er sich erfolgreich den UN-Resolutionen widersetzt hat, dass der Sicherheitsrat einen zweiten Angriff auf ihn stillschweigend autorisiert hat (anders als beim Angriff auf Jugoslawien), und dass die Absetzung Saddam Husseins längst überfällig ist.
Dieselben Voraussetzungen lassen den Kritikern der Administration trotzdem noch immer Möglichkeiten, allerdings nicht prinzipielle, sondern schlicht solche des gesunden Menschenverstands. Die Intervention in den Irak mag moralisch akzeptabel, gar wünschenswert sein, aber ist sie auch politisch klug? Die Kalkulation der Konsequenzen ist immer unwägsamer als die Durchsetzung von Prinzipien, sodass der Raum für Meinungsverschiedenheiten umfangreich bleibt. Jeder, der glaubt, dass Al Qaeda ein tödlicher Bazillus ist, der nur darauf wartet, eine Epidemie auszulösen, oder der glaubt, dass Kim Jong-Il ein verrückterer Despot als Saddam Hussein ist, oder dass der Irak ein anderes Vietnam werden könnte, kann leicht durch eine Erinnerung an die Buchstaben der UN-Resolution 1441 oder die hochtrabende NATO-Mission zum Schutz der Menschenrechte auf dem Balkan umgestimmt werden.

Ursachen der Antikriegsstimmung

Die intellektuelle Rechtfertigung ist das eine. Das andere sind, wenn auch nicht unabhängig davon, die Stimmungen in der Bevölkerung. Die enormen Demonstrationen des 15.Februar, die in Westeuropa, den USA und Australien gegen einen Angriff auf den Irak stattfanden, werfen andere Fragen auf: Was erklärt diese umfangreiche und engagierte Revolte gegen einen bevorstehenden Krieg, dessen Prinzipien sich nur wenig von denen vorhergehender Militärinterventionen unterscheiden, die von vielen akzeptiert oder gar begrüßt wurden, die nun gemeinsam dagegen sind? Warum ruft heute ein Krieg im Mittleren Osten Gefühle hervor, die er auf dem Balkan nicht hervorrief, wo doch der Logik nach kein oder nur ein geringer Unterschied zwischen ihnen besteht? Das Missverhältnis in den Reaktionen hat wohl weniger mit den Unterschieden zwischen Belgrad und Bagdad zu tun und würde eher für statt gegen die Intervention sprechen. Die Erklärung liegt woanders. Drei Faktoren scheinen dabei entscheidend zu sein.
Zum ersten die Feindschaft gegen das republikanische Regime im Weißen Haus. Kulturelle Abneigung gegen die Bush-Präsidentschaft ist weit verbreitet in Westeuropa, wo die ungehobelte Rechtfertigung US-amerikanischer Vorherrschaft und die undiplomatische Art, Worte in Taten umzusetzen, von einer öffentlichen Meinung ausgesprochen übel genommen werden, die es gewohnt ist, einen dekorativeren Schleier über die Realitäten relativer Macht zu verbreiten.
Um zu sehen, wie wichtig dieser Aspekt in der europäischen Antikriegsstimmung ist, braucht man sich nur an das Wohlwollen gegenüber Clintons erfolgreichen Luftangriffen gegen den Irak zu erinnern. Hätte eine Gore- oder Lieberman-Administration den zweiten Irakkrieg vorbereitet, wäre der Widerstand nur ein Bruchteil dessen geworden, was er nun ist. Die gegenwärtige Abscheu gegen Bush in breiten Kreisen der westeuropäischen Medien und der öffentlichen Meinung steht in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Unterschieden zwischen den beiden US-Parteien. Man braucht bloß anfügen, dass beide, der führende praktische wie der wesentliche theoretische Exponent eines Krieges gegen den Irak, Kenneth Pollack und Philipp Bobbitt, früher Mitarbeiter des Clinton-Regimes waren.
Doch gerade wenn grundlegende politische Widersprüche im westlichen politischen System zu verschwinden drohen, können symbolische Differenzen, Image- und Stildifferenzen leicht an ihre Stelle treten, wenn sie nur rigide und überzogen genug vorgetragen werden. Der US-amerikanische Kulturkampf zwischen Demokraten und Republikanern wird nun zwischen den USA und der EU reproduziert. Typisch für solche Auseinandersetzungen ist die Intensität der beteiligten Leidenschaften in umgekehrtem Verhältnis zur Tiefe der realen Meinungsverschiedenheiten. Selbst kleine Affektunterschiede können große politische Konsequenzen haben. Ein um Clinton trauerndes Europa — man betrachte nur die Leitartikel im Guardian, in Le Monde, La Repubblica, El País — kann sich in geheiligter Vergeltung gegen Bush vereinigen.
Zweitens haben wir die Rolle des Spektakels. Die öffentliche Meinung war aufgrund der massiven Fernseh- und Zeitungsenthüllungen über echte und — nach Rambouillet in umfangreicherem Ausmaße — eingebildete ethnische Säuberungen in der Region auf den Balkankrieg gut vorbereitet. Die unvergleichlich zahlloseren Tötungen in Rwanda, wo die USA zur selben Zeit jede Intervention blockierten, weil sie ein Abgleiten des Medieninteresses vom Fokus Bosnien fürchteten, wurden dagegen ignoriert. Die Belagerung Sarajevos vor laufenden Kameras entsetzte Millionen. Die Zerstörung Grosnys, sicherheitshalber ohne mediale Präsenz, löste kaum ein Achselzucken aus. Clinton nannte es eine Befreiung, und Blair beeilte sich, Putin zum daraufhin erfolgten Wahlsieg zu gratulieren. Im Irak wurde das kurdische Elend nach dem Golfkrieg umfassend dokumentiert und mobilisierte die öffentliche Meinung zugunsten der Bildung eines anglo-amerikanischen Protektorats ohne jede Ermächtigung durch die UNO. Heute jedoch sind all die von Washington und London behaupteten Scheußlichkeiten Saddam Husseins, ganz zu schweigen von den Massenvernichtungswaffen, für den europäischen Zuschauer praktisch unsichtbar. Powells Diashow im Sicherheitsrat ist kein Ersatz für Bernhard-Henri Lévys oder Michael Ignatieffs Einflüsterungen. Aus Mangel an visueller Hilfe lässt die Befreiung Bagdads die europäische Vorstellung kalt.
Zum dritten, und vielleicht wichtigsten, haben wir es mit Angst zu tun. Die Vergeltung aus der Luft konnte Jugoslawien 1996 und dem Irak seit 1991 ohne jedes Risiko von Repressalien auferlegt werden. Was konnten Milosevic und Saddam tun? Sie sind leichte Opfer. Die Attentate des 11.September haben diese Selbstsicherheit verändert. Das war ein unvergessliches Spektakel, dazu angetan, den Westen zu hypnotisieren. Das Ziel des Angriffs waren die USA, nicht Europa. Als die europäischen Staaten, allen voran Großbritannien und Frankreich, in den Gegenangriff auf Afghanistan einstimmten, war dies für deren Bevölkerungen nur ein anderes Kriegstheater, dessen Vorhang bald fallen würde. Die Aussicht auf eine Invasion und Besetzung des Irak, der viel größer ist und näher liegt, ist eine andere Sache; zumal sich die europäische öffentliche Meinung auf unbehagliche Weise bewusst ist, dass nicht alles zum Besten steht im Lande Israel — ohne dass sie sich dazu bewegt, irgendetwas zu tun. Das Gespenst einer Rache von Al Qaeda oder vergleichbaren Gruppen bei einer Wiederholung der Balkankriege hat manche der leidenschaftlichen Unterstützer des neuen "militärischen Humanismus" der 90er Jahre abgekühlt. Die Serben waren eine Bagatelle: weniger als 8 Millionen. Die Araber sind 280 Millionen, und sie sind näher an Europa als an US-Amerika — nicht wenige sogar unter ihnen. Über die Expedition nach Bagdad nachdenkend fragen sich selbst Anhänger von New Labour: Können wir sicher sein, auch diesmal davonzukommen?

Für eine alternative Logik

Große Massenbewegungen können nicht nach festen logischen Standards beurteilt werden. Was auch immer ihre Beweggründe sind — die Vielen, die gegen einen Krieg im Irak protestiert haben, sind ein Schlag ins Gesicht der auf sie angewiesenen Regierungen. Unter ihnen sind überall viele junge Leute, die nicht durch vorangegangene Kompromisse vorbelastet sind.
Wenn die Bewegung jedoch anhaltenden Erfolg haben möchte, muss sie sich von der Fixierung auf den Fanclub, von der Politik des Spektakels und der Ethik der Angst fortentwickeln. Denn der Krieg, wenn er kommt, wird nicht so sein wie in Vietnam. Er wird kurz und scharf; und es gibt keine Garantie, dass ihm eine poetische Gerechtigkeit folgen wird. Eine Opposition, die vorwiegend aus wohlwollender Umsicht gegen den Irakkrieg ist, wird einen Sieg nicht überleben, auch nicht eine, die auf der Feigenblattlegalität der UN herumreitet.
Jene Mischung aus Richtern und Anwälten, die nun am Feldzug herumkritteln, wird schnell genug ihren Frieden mit den Kommandeuren machen, sobald sich alliierte Truppen am Tigris niederlassen und Kofi Annan ein oder zwei Versöhnungsreden über Nachkriegshilfen gehalten hat, und von der Financial Times sekundiert wird. Widerstand gegen die herrschende Ordnung, der länger hält, muss eine andere prinzipielle Grundlage finden. Solange die gegenwärtigen Debatten immer wieder die "internationale Gemeinschaft" und die Vereinten Nationen beschwören, als wäre dies eine Wohltat im Vergleich zur Bush-Administration, muss man auch daran ansetzen. Eine alternative Perspektive deutet sich mit wenigen kurzen Hinweisen an:

• Es existiert keine internationale Gemeinschaft. Der Begriff ist ein Euphemismus für US-amerikanische Hegemonie. Man muss der Administration danken, dass einige ihrer Vertreter diesen Begriff nicht mehr benutzen.

• Vereinten Nationen sind kein Ort unparteiischer Autorität. Ihre Struktur, die fünf Siegermächten eines vor fünfzig Jahren geführten Krieges die formale Macht übertragen hat, ist politisch nicht zu verteidigen, historisch vergleichbar jener Heiligen Allianz des frühen 19.Jahrhunderts, die ihre Mission ebenso mit der Sicherung des "internationalen Friedens" zum "Wohle der Menschheit" begründet hat. Solange diese Mächte während des Kalten Krieges geteilt waren, haben sie sich gegenseitig im Sicherheitsrat neutralisiert und konnten wenig Schaden anrichten. Doch nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die UNO ein Schutzschild des US-amerikanischen Willens. Angeblich dem internationalen Frieden verpflichtet hat die Organisation zwei große Kriege geführt und keinen verhindert. Ihre Resolutionen sind zumeist Beispiele ideologischer Manipulation. Manche ihrer zweitrangigen Anhängsel — UNESCO, UNCTAD und dergleichen — machen gute Arbeit, und die Generalversammlung richtet wenig Schaden an. Aber es gibt keine Aussicht auf die Reformierung des Sicherheitsrats. Die Welt wäre ohne ihn besser dran: eine ehrenwertere und gleichberechtigtere Arena von Staaten.

• Das atomare Oligopol der fünf Siegermächte von 1945 ist gleichermaßen nicht zu verteidigen. Der Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen ist ein Hohn auf jedes Prinzip der Gleichheit oder Gerechtigkeit: Diejenigen, die Massenvernichtungswaffen besitzen, bestehen darauf, dass jeder außer ihnen sie im Interesse der Menschheit aufzugeben hat. Wenn irgendwelche Staaten ein Recht auf solche Waffen hätten, dann wären es die kleinen, nicht die großen Staaten, da dies die überragende Macht der letzteren ausgleichen würde. In der Praxis haben sich, wie zu erwarten war, diese Waffen bereits verbreitet. Und solange es die Großmächte ablehnen, ihre eigenen abzuschaffen, gibt es kein vernünftiges Argument, ihren Besitz durch andere abzulehnen. Kenneth Waltz, der Nestor der US-amerikanischen Theorie der internationalen Beziehungen, eine untadlige Respektsperson, hat vor langer Zeit einen gelassenen und detaillierten, niemals widerlegten Aufsatz unter dem Titel "Die Verbreitung von Nuklearwaffen: Mehr wäre besser" veröffentlicht, der nur empfohlen werden kann. Die Idee, dass solche Waffen dem Irak oder Nordkorea verboten sein sollten, während die von Israel oder Südafrika geduldet werden können, hat keine logische Grundlage.

• Gebietsannexionen — traditionell Eroberungen genannt —, die im Falle des Irak nominell eine UN-Blockade gerechtfertigt haben, haben niemals Vergeltungsaktionen der UNO nach sich gezogen, wenn die Eroberer Verbündete der USA waren. Nur wenn es ihre Gegner waren. Israels Grenzen sind trotz der UN-Resolutionen von 1947, ganz zu schweigen von 1967, das Produkt von Eroberung. Die Türkei hat sich zwei Fünftel von Zypern angeeignet, Indonesien Osttimor und Marokko die Westsahara — ohne jede Erschütterung des Sicherheitsrats. Rechtliche Feinheiten sind nur von Gewicht, wenn die Interessen von Feinden zur Debatte stehen. Soweit es den Irak betrifft, ist die außergewöhnliche Aggression des Baath- Regimes ein Mythos, wie John Mearsheimer und Stephen Walt — nicht gerade zwei aufrührerische Radikale — jüngst in einem Aufsatz in Foreign Policy detailliert gezeigt haben.

• Terrorismus von der Sorte, wie ihn Al Qaeda praktiziert, ist keine ernsthafte Herausforderung des Status quo. Der Erfolg des spektakulären Angriffs hing von der Überraschung ab — schon für den vierten Flieger war es unmöglich, ihn zu wiederholen. Wäre Al Qaeda jemals eine starke Organisation gewesen, hätte sie ihre Schläge gegen die Klientelstaaten der USA im Mittleren Osten gerichtet, wo der Sturz des Regimes einen politischen Unterschied machen würde, mehr als in den USA selbst, wo sie kaum mehr als strategische Nadelstiche hinterlassen. Wie Oliver Roy und Gilles Keppel, die zwei herausragendsten Autoritäten auf dem Gebiet des moslemischen Fundamentalismus, argumentiert haben, ist Al Qaeda der isolierte Überrest einer Massenbewegung des moslemischen Fundamentalismus, dessen Hinwendung zum Terror das Symptom einer umfangreichen Schwäche und Niederlage ist — ein islamisches Pendant zur Rote Armee Fraktion oder den Roten Brigaden, die in Deutschland und Italien nach dem Abklingen der großen Studentenaufstände der späten 60er Jahre leicht vom Staat bezwungen werden konnten. Die komplette Unfähigkeit von Al Qaeda, auch nur ein einziges Attentat in Gang zu setzen, während ihre Basis zerschlagen und ihre Führung in Afghanistan ermordet wurde, spricht Bände über ihre Schwäche. Auf unterschiedliche Weise kam die Beschwörung des Gespenstes einer umfassenden und tödlichen, allzeit zum Zuschlagen fähigen Verschwörung beiden, der Administration wie der demokratischen Opposition, gerade recht. Doch hat dieses Hirngespinst wenig Bezug zum Irak, der weder mit der heutigen Al Qaeda verbunden ist, noch ihr viel Auftrieb geben wird, wenn er morgen fällt.

• Innenpolitische Tyrannei oder die Verletzung der Menschenrechte, wie sie nun zur Rechtfertigung von Militärinterventionen dienen — sich im Namen menschlicher Werte hinwegsetzend über nationale Souveränität — werden von der UNO ebenso selektiv benutzt. Das irakische Regime ist eine brutale Diktatur, aber bis es eine US-amerikanische Schachfigur im Mittleren Osten angriff, wurde es vom Westen bewaffnet und bezahlt. Seine Untaten sind weniger blutig als die des indonesischen Regimes, das über drei Jahrzehnte lang die wichtigste Säule des Westens in Südostasien war. Bis vor kurzem war Folter in Israel legal, vom Obersten Gerichtshof offen erlaubt. Auch heute dürfte sie nicht verschwunden sein, doch zucken die versammelten westlichen Regierungen, die freundlichen Umgang mit Israel pflegen, nicht mal mit der Wimper. Die Türkei, die erneut kurz vor dem Eintritt in die EU steht, erlaubt den Kurden, anders als der Irak, nicht mal den Gebrauch der kurdischen Sprache. Und als angesehenes NATO- Mitglied macht sie das gleiche in Bezug auf Gefängnisse und Folter — ohne jede Behinderung. Und was die "internationale Gerechtigkeit" angeht, so wird die Farce des Haager Tribunals gegen Jugoslawien, bei dem die NATO gleichzeitig Ankläger und Richter ist, noch durch die des Internationalen Gerichtshofs verstärkt, in dem der Sicherheitsrat jede Aktion verbieten oder aussetzen kann, die ihm missfällt, und bei dem private Firmen oder Millionäre höflich aufgefordert werden, Untersuchungen zu finanzieren (Artikel 16 und 116). Sollte Saddam gefangen werden, wird er sicherlich vor diesem erhabenen Organ angeklagt werden. Wer könnte sich auch nur vorstellen, dass dieses Schicksal auch Sharon oder Putin oder Mubarak oder, wenn wir weiter zurück gehen, Tudjman ereilen könnte?
Welche Konsequenzen folgen hieraus? Ganz einfach: Die Klage über Blairs Dummheit und Bushs Primitivität wird uns nicht retten. Die Argumente gegen den bevorstehenden Krieg sollten sich besser darauf konzentrieren, dass der Irak durch die UNO eine Spezialbehandlung erfährt, als sich über die zweitrangige Frage zu streiten, ob das Land auch weiterhin langsam erdrosselt oder schnell aus seinem Elend befreit werden soll.

Perry Anderson

Perry Anderson ist Herausgeber von New Left Review. Sein Beitrag erschien zuerst in der London Review of Books (www.lrb.co.uk) vom 6.März 2003.



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