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Mit anderen Texten aus den 30er Jahren wird erstmals die von Scheidemann (18651939) verfasste "Kritik der
deutschen Sozialdemokratie und ihrer Führung" veröffentlicht. Der einstige Mitvorsitzende, Fraktionschef, Volksbeauftragte und
Reichsministerpräsident der SPD listet Meinungsverschiedenheiten auf, die er mit seinem Kollegen als Vorsitzendem, dem Apparatschik Ebert, hatte. So
wollte er im Gegensatz zu ihm, dass die Sozialdemokratie keine Verantwortung für das Ende des Ersten Weltkriegs übernehme, drang auf
Abdankung des Kaisers und rief am 9.November 1918 zu Eberts Verdruss die Republik aus. 1919 quittierte er die von diesem befürwortete
Unterzeichnung des Versailler Friedensdiktats mit seinem Rücktritt. Scheidemann begann, gleichfalls entgegen Ebert, vor der äußersten
Reaktion zu warnen. Jahre vor Reichskanzler Wirth erklärte er: "Der Feind steht rechts!"
Nach dem Kapp-Putsch 1920 feierte er den Etappensieg der kurzzeitig geeinten
Arbeiterbewegung über militärische Gewalt als "Tatsache von weltgeschichtlicher Bedeutung". In rechtsextremen Kreisen machte er
sich so unbeliebt, dass ihn die Organisation Consul 1923 mit einem Blausäureattentat bedachte und die Nazis ihn nach der Machtübernahme am
Brandenburger Tor aufhängen wollten.
In seinem Rapport über Flucht und Emigration ab 1933 übt Scheidemann Kritik an
der Haltung der SPD-Spitze zur Hitlerbewegung. Er erinnert sich der Weisung, niemand dürfe auf eigene Faust etwas unternehmen, der Parteivorstand
werde "im richtigen Moment auf den Knopf drücken". Genau wie die Gewerkschaftsspitze tat dieser nichts dergleichen. Nach seiner Flucht vor
Hitler litt Scheidemann, anders als Pensionär Noske in Hannover und die Gehalt beziehenden SPD-Führer in Prag, bittere Not. Zwar konnte er
für geringes Honorar kleine Artikel, aber keine größere Arbeit absetzen. Das gilt auch für die Schrift Zum Neuen Weltkrieg führt
Hitlers Politik, in der er aus Mein Kampf die deutschen Expansionsziele ablas und den Westen wegen seiner Nachgiebigkeit gegenüber dem Diktator
kritisierte.
Allerdings verfuhr Scheidemann selektiv. Er "vergaß" seine
Mitverantwortung für den Pakt mit reaktionären Militärs am Anfang der Weimarer Republik, machte die Linke für von Rechten
provozierte Zusammenstöße verantwortlich und gab den Kommunisten die Hauptschuld am Nazisieg. Die SPD-Führung nach 1945 ließ
sich durch solche Linientreue nicht beirren. Sie folgte der von Ollenhauer im Brief an Scheidemanns Tochter ausgegebenen Parole, "dass es im Interesse
der Partei liegt, wenn das Manuskript … nicht in der gespannten Situation veröffentlicht wird". Auch früheren SED-Genossen wird die
Denkungsart bekannt vorkommen. Erst Scheidemanns Urenkel und dessen Freund, Herausgeber Reizle, konnten die Exil-Schriften ein Dreivierteljahrhundert
nach ihrer Entstehung publik machen.
Bruno Mander
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