SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2003, Seite 24

"Wir machen immer das modernst Mögliche"

Oscar Niemeyer: eine Stimme Brasiliens

Die Ausstellung, die das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main bis zum 11.Mai zeigt, wurde vor fünf Jahren anlässlich des 90.Geburtstags des brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer zusammengestellt. Weil für die Übersetzung des Ausstellungskatalogs aus dem Portugiesischen das Geld fehlte, wird die Ausstellung in Deutschland von einer Buchveröffentlichung begleitet, die hervorragende Einblicke in verschiedene Aspekte von Niemeyers Schaffen und seine Wirkung auf die deutsche Architektur bietet.

Niemeyer, geboren 1907 in Rio de Janeiro, Zeichner im Büro des Architekten und Städteplaners Lúcio Costa, begann seine Karriere in den 30er Jahren, als Brasilien nach der Weltwirtschaftskrise unter der autoritären Regierung Getúlio Vargas eine relative wirtschaftliche Expansion erfuhr, die getragen war von einer staatlich geförderten Industrialisierung und einer Politik der Importsubstitution. Vargas stützte seine 15-jährige Amtszeit (1930—1945) auf das Militär, das sich in den 20er Jahren in Abkehr von den Großgrundbesitzern und den "Kaffeebaronen" zum Vorreiter eines industriellen, urbanen und nationalen "Modernisierungs"prozesses gemacht hatte. Das Militär leitete erste soziale Reformen ein: die Agrarreform, die Anerkennung von Gewerkschaften und Genossenschaften, die Einführung von Mindestlohn und Höchstarbeitszeit, die Nationalisierung der Erdölindustrie.
Vargas nannte seine neue, mit fast absoluter Macht ausgestattete Zentralverwaltung Estado Novo (Neuer Staat). Im kulturellen Bereich suchte sie Anschluss an die europäische Moderne und die Überwindung des traditionellen Kolonialstils. An Schulen und Hochschulen wurden die Lehrpläne von Grund auf reformiert, und es war der junge, reformfreudige Erziehungsminister Gustavo Capanema, der dem Architektenteam um Lúcio Costa den Auftrag gab, für den Neubau des Ministeriums für Erziehung und Bildung einen Entwurf auszuarbeiten, der "Brasilien in den Hauptstrom der internationalen Moderne führen" sollte (1936—1943).
Niemeyer hatte das Glück, von Anfang an für einen Staat arbeiten zu können, der "die neue Zeit" zu verkörpern trachtete: weg vom Feudalismus, weg von einer in kolonialer Abhängigkeit gehaltenen Wirtschaft, hin zur eigenständigen Entwicklung der vorhandenen Ressourcen — dies alles gepaart mit einer gehörigen Portion Nationalstolz.
Nach Capanema war sein Auftraggeber vor allem Juscelino Kubitschek, der ihm erst als Präfekt von Belo Horizonte, später als Staatspräsident große Areale zur Verfügung stellte, die er gewissermaßen im jungfräulichen Zustand bebauen konnte: zunächst das Ferienzentrum Pampulha (1942/43) am Rande von Belo Horizonte; später Brasília (1957—1962) — die auf die Hochebene von Goiás aus dem Nichts gebaute neue Hauptstadt Brasiliens. Kubitschek galt als demokratischer Reformpräsident; seine Regierung wurde auch von der KP unterstützt. Während Lúcio Costa den Masterplan entwarf, fiel es Niemeyer zu, das Regierungsviertel zu bauen und dem neuen Staat mit diesen Repräsentationsbauten zum architektonischen Selbstverständnis zu verhelfen.
Niemeyer, der 1945 der brasilianischen KP beitrat, emigrierte 1964, als die Militärdiktatur die Macht übernahm, nach Europa. In Frankreich, Italien und Nordafrika realisierte er bedeutende Bauten — im Auftrag der französischen KP, der neuen algerischen Regierung, die gerade ihre Unabhängigkeit erkämpft hatte, aber auch norditalienischer Firmen wie dem Verlagshaus Mondadori bei Mailand oder der Maschinenbaugruppe Fata bei Turin.
In Deutschland wirkte Niemeyer in den späten 50er Jahren. Im Westberliner Hansaviertel realisierte er 1957 im Rahmen der Internationalen Bauaustellung ein Wohnhochhaus, das später seiner architektonischen Wirkung im Wesentlichen dadurch entkleidet wurde, dass es von allen Seiten zugebaut wurde. Fuß fassen konnte er hierzulande jedoch nicht.
In der Hochzeit des Kalten Krieges wurde der Kommunist Niemeyer im Westen wegen "Manieriertheit", "Abkehr von den strengen funktionalistischen Prinzipien der Moderne", ja sogar wegen "verantwortungsloser, antisozialer Verschwendung" abgelehnt und abgestoßen. Diese Kritik wurde erst mit dem Neubau des Berliner Tempodroms in den 90er Jahren überwunden, der sich an Niemeyers Kathedrale von Brasília anlehnt.
In Ostberlin konnte sich Niemeyer mit dem Chefarchitekten Ostberlins, Hermann Henselmann, anfreunden, der für den Bau vom Haus des Lehrers am Alexanderplatz (1961—64) auf das Vorbild des Ministeriums für Erziehung und Gesundheit zurückgriff. Henselmann stützte sich auf Niemeyer auch bei der Planung des Leninplatzes (heute Platz der Vereinten Nationen), in dessen Mitte er eine Lenin-Bibliothek stellte, die ausdrücklich die Kapelle des Präsidentenpalastes in Brasília zitierte. Realisiert wurde der Platz dann allerdings von einem anderen Architektenkollektiv, und die geplante Bibliothek musste einer Statue weichen.

"Wir haben nie über Patriotismus gesprochen. Wir wollten eine Welt ohne Grenzen; eine offene Welt, offen für den Austausch der Gedanken und der Waren. Das UNO-Gebäude und Brasília waren Ausdruck dieser Welt. Diese Welt glaubt heute an den Neoliberalismus…"

Lúcio Costas Vorbild für eine Moderne, die Brasilien die Findung eines eigenen Stils ermöglichen würde, war Le Corbusier. Le Corbusier entwarf in den 20er Jahren Manifeste, in denen er das Rationale, Technische, Funktionale des Industriezeitalters mit Poesie, Plastischem und Visionärem zu verbinden suchte. 1929 hielt er in Buenos Aires 10 Vorlesungen, die eine Verneigung vor der lateinamerikanischen Sinnlichkeit darstellen.
Wo Corbusier indes Architektur als revolutionären, gesellschaftsverändernden Akt begriff, sah Niemeyer seine Rolle darin, den neuen Staat und seine Fähigkeiten in einer Architektur zu interpretieren, die den Charakter von Bildern und Skulpturen hat. Eine "soziale Architektur" sei in Brasilien nicht möglich, sagte er später einmal, dazu sei die Nation zu unterentwickelt.
Le Corbusier, der sich 1936 in Rio aufhielt, zeichnete den ersten Entwurf für das Ministerium für Erziehung und Bildung. Das Team um Costa wandelte ihn ab, indem es u.a. die Pfeiler, auf dem das Hochhaus ruhen sollte, von 4 auf 10 Meter Höhe verlängerte. Monate nach der Abreise Le Corbusiers legte Niemeyer neue Zeichnungen vor, die die Gebäudeteile völlig neu anordneten, vor den Fenstern einen individuell verstellbaren, gegliederten Sonnenschutz anbrachten, der die Fassade zusätzlich strukturierte, und eine Plaza schafften, die landschaftliche Elemente sowie eine monumentale Skulptur aufnahm. Le Corbusier protestierte aus der Ferne, weil er mit der Idee, dass Konsumenten das Erscheinungsbild seines Baus beeinflussen können sollten, nicht einverstanden war.
Niemeyer aber konnte das Team unschwer für seinen neuen Entwurf begeistern und bekam die Leitung des Projekts angetragen. Das Team umfasste neben Zeichnern, Architekten und Städteplanern auch Bildhauer, Landschaftsgärtner und Maler; es arbeitete über Jahre zusammen und prägte die brasilianische Architektur des 20.Jahrhunderts; es verhalf ihr zu internationalem Renommé und dem neuen Staat zur kulturellen Identität.
Fünf Jahre nach Fertigstellung des Gebäudes zeichnete Niemeyer den Aufriss für ein Theater, das dem Ministerium direkt gegenüber gestellt werden sollte — als Kontrapunkt, mit seinen niedrigen, geschwungenen Formen eine Kritik an dem trotz allen Abwandlungen kastenförmigen, "rechtwinkligen und gradkantigen" Bau. Niemeyer hatte sich immer mehr vom rationalen europäischen Stil entfernt, hin zu dynamischen Strukturen, kurvenreichen, plastischen Formen, die den Rest seines Schaffens charakterisierten. Als Antwort auf Le Corbusiers Ode auf den rechten Winkel verfasste er eine Ode auf die Kurve:

"Nicht der rechte Winkel zieht mich an, auch nicht die gerade Linie, die hart und unflexibel von Menschen geschaffen ist. Was mich anzieht, ist die freie und sinnliche Kurve, die ich in den Bergen meines Landes, dem gewundenen Verlauf seiner Flüsse, dem Körper einer geliebten Frau wiederfinde. Das ganze Universum besteht aus Kurven, das gekrümmte Universum Einsteins."

Niemeyer hat vorzugsweise öffentliche Gebäude, weniger Büro- oder Wohnhäuser gebaut. Seine neuen Formen und die damit verbundene Bauweise, die die statischen Möglichkeiten von Stahlbeton aufs äußerste ausreizt, konnte er an freistehenden Einzelgebäuden am besten erproben. Massenunterkünfte, ob Büros oder Apartments, bleiben auch bei ihm in Hochhauskästen verbannt, die nicht dadurch besser werden, dass er ihnen wie beim Parteigebäude der KP in Paris oder beim Copan Apartment Building in Săo Paulo eine geschwungene Linie verleiht und sie auf Stelzen setzt.
Alle diese Gebäude sind in erster Linie funktional; leben kann man darin nicht. Brasília, die weltweit einzige Stadt, die ausschließlich nach den Regeln des modernen Städtebaus errichtet wurde, ist — sieht man vom Regierungsbezirk ab — kein Beispiel für eine gelungene Architektur.
An diesem Punkt hat Niemeyer keinen Gegenentwurf zur Moderne geleistet. Das Bauhaus-Diktum, am sozialen Wohnungsbau erweise sich die Qualität eines Architekten, hat er für sich nicht gelten lassen. Er lehnte besondere Wohnungsbauprogramme für die weniger Begüterten ab: Gerechtigkeit sei nur durch Klassenkampf zu erreichen, nicht durch "Vereinfachung" der Form, um billiges Bauen zu ermöglichen. Nicht die Reproduzierbarkeit war ihm das vordringliche Anliegen, sondern die Überwindung des Alltäglichen.
Architektur war ihm ein Mittel zu schöpferischer Freiheit, und er lehnte es stets ab, dass es etwas geben sollte, das die Verwirklichung seiner kühnen Zeichnungen behinderte. Bauten wie die Universität von Constantine galten wegen der enormen Spannweiten bei europäischen Bauingenieuren als nicht durchführbar; die Brasilianer realisierten sie.
Niemeyers Architektur hat in dieser Hinsicht etwas Barockes, also etwas von der Stilrichtung, die Aufstieg und Hochzeit des europäischen Absolutismus begleitet hat. Die Produktionsbedingungen "bei Hofe", sein Auftrag, dem modernen Brasilien ein Monument zu setzen (den Fürsten zu ehren), wie auch sein Stil, der die Schöpferkraft des Menschen und seine Verbundenheit mit der Natur in den Mittelpunkt stellt: all das wirkt zusammen und verleiht seinen Repräsentationsbauten etwas Himmelstürmendes. Sie sind das Gegenteil der architekturalen Staatsinterpretationen des späten 19. und des 20.Jahrhunderts, die einen Haufen Steine übereinandertürmen, die Natur aussperren und zwischen der Macht und dem Untertan eine spürbare Mauer ziehen.
Niemeyer hat keine Staatsarchitektur geschaffen. Seine Bauten laden ein, schmiegen sich an die umgebende Landschaft und spielen mit dem Himmel. Sie hängen buchstäblich in der Luft, nämlich an der Stahlbetondecke, und wirken durch die Säulenarchitektur trotz ihrer Ausdehnungen geradezu grazil, oder sie haben Flügel. Sie verströmen den Optimismus einer jungen, aufstrebenden Nation, die ihre Zeit noch vor sich weiß und die Chance hat, die Moderne anders als eine produktivistische Materialschlacht zu interpretieren.
Brasília hat sein Versprechen nicht eingelöst, sagt der brasilianische Sänger Chico Buarque. Es ist eine Wunschvorstellung geblieben. Das macht Niemeyers Architektur auch heute noch aktuell, weil zum Stein des Anstoßes. Sie ist nie apologetisch geworden.

Angela Klein

Das Buch zur Ausstellung: Oscar Niemeyer. Eine Legende der Moderne, Basel (Birkhäuser — Verlag für Architektur) 2003.



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