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Als die PISA-Untersuchung dem deutschen Schulsystem denkbar schlechte Ergebnisse bescherte, war in der öffentlichen
Diskussion vor allem von notwendigen Verbesserungen im Kindergarten- und Grundschulbereich die Rede, obwohl PISA die 15-Jährigen erforschte.
Deutschkurse für Vorschulkinder wurden gefordert und in den Grundschulen statt "Kuschelpädagogik" eine gezielte, leistungsorientierte
Vorbereitung auf die weiterführenden Schulen angemahnt. Erstaunlich eigentlich, denn es ging doch um die mangelhaften Leistungen der 15-
Jährigen, und die sitzen nun mal in der Sekundarstufe. Die positiven Aspekte der reformpädagogischen Arbeit in den Grundschulen wurden mehr
belächelt als ernst genommen.
In der Internationalen Grundschulleseuntersuchung (IGLU) liegen nun die Viertklässler
in deutschen Grundschulen im internationalen Vergleich im oberen Drittel. Bei dieser Untersuchung, an der sich weltweit 35 Länder beteiligt haben,
nimmt Deutschland den 11.Platz ein. Allerdings fehlen einige Länder der Spitzengruppe wie Finnland, Australien und Korea, aber auch
Leistungsschwache wie Luxemburg, Polen und Portugal. Die Lesekompetenz wurde in vier Kompetenzstufen eingeteilt, sie reicht von Kompetenzstufe I als der
niedrigsten bis zur Kompetenzstufe IV mit dem höchsten Leseniveau. Erweitert wurde die Untersuchung in Deutschland u.a. um Mathematik und
Naturwissenschaften.
Die Grundschulen schneiden bei IGLU gut ab. Die Leistungsfähigkeit der 10-Jährigen ist in allen untersuchten Bereichen besser als die PISA-
Ergebnisse der 15-Jährigen. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Migrationsstatus und Leistung ist nicht so ausgeprägt wie bei PISA.
Dieses Ergebnis wird ob gewollt oder nicht die Diskussion über das unsoziale deutsche Schulsystem neu entfachen. Gerade in der
Grundschule, in der noch alle Kinder unabhängig von sozialer Herkunft und Bildungsstand der Eltern gemeinsam lernen, zeigt sich, dass sich ohne
Aussonderung gute Lernergebnisse erzielen lassen, während in den weiterführenden Schulen Bildungschancen verbaut werden.
Im Grundschulbereich der BRD erreichen 18,1% die höchste Kompetenzstufe IV (bei
PISA waren es 10%) mit der Fähigkeit, mehrere Textpassagen sinnvoll miteinander in Beziehung zu setzen. 61,1% erreichen mit der dritten von vier
Kompetenzstufen ein Leseniveau, das die Basis für selbstständiges Weiterlernen schafft. Hier liegen Schweden und die Niederlande bei über
70%.
Der Anteil echter Risikokinder ist zwar mit 10% gering (bei PISA 23%), doch erreicht etwa ein
Drittel des Jahrgangs nur die Kompetenzstufe II sie können angegebene Sachverhalte aus einer Textpassage erschließen. Diese Gruppe wird
in der Sekundarstufe ohne zusätzliche Fördermaßnahmen Schwierigkeiten bei der Erarbeitung neuer Lerninhalte in allen Fächern
haben.Die Leseabneigung beträgt im Grundschulbereich 18% gegenüber 42% (!) in der Sekundarstufe.
Beim naturwissenschaftlichen Verständnis liegen die Viertklässler in Deutschland
über dem Mittelwert. Es zeigt sich, dass Grundschulkinder nicht nur naturwissenschaftliche Sachverhalte begreifen und in diesen Kategorien denken
können, sondern auch insgesamt interessiert und aufgeschlossen gegenüber naturwissenschaftlichen Phänomenen sind. Das vorhandene
naturwissenschaftliche Potenzial am Ende der Grundschulzeit wird aber nicht entsprechend genutzt und weitergeführt.
Die Primarstufe als Schule der grundlegenden Bildung, als gemeinsame Schule für alle
Kinder, muss stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt und entsprechend ihrem Auftrag finanziell und personell ausreichend ausgestattet
werden, denn das, was diese Schule als Ausgleich sozialer Disparitäten nicht erreicht, wird auf der Ebene der Sekundarstufe nicht mehr kompensiert.
Durch die Segregation wird einerseits der Lernerfolg der Leistungsstarken nicht so weiterentwickelt wie von vielen erwartet und andererseits fallen die
Jugendlichen der unteren Leistungsgruppe im anregungsarmen Milieu so weit ab, dass sie selbst die Mindestziele schulischer Ausbildung nicht mehr erreichen
und zur "Risikogruppe" werden.
Die rund 22% Viertklässler mit Migrationshintergrund werden schon in der Grundschule
nicht ausreichend gefördert, sie haben in allen Bereichen vergleichsweise schwächere Leistungen als in anderen Ländern. Dazu meint IGLU-
Forscher Wilfried Bos (Uni Hamburg): "Jeden Euro, den wir heute in der Förderung der Migrantenkinder und sozial benachteiligten Schüler
sparen, geben wir später mindestens dreifach für Justiz und Jugendhilfe aus." Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die
Sekundarstufe verringert die Stärken und vergrößert die Schwächen.
Während in einigen Ländern, bspw. Norwegen, die Schüler und
Schülerinnen in der Sekundarstufe erheblich dazulernen, fallen sie bei uns in ihrer Leistungsfähigkeit stark ab, gleichzeitig nimmt die
Leistungsspreizung zu.
Das Hauptproblem im deutschen Schulwesen ist die widersinnige und diskriminierende
Auslese nach der vierten Klasse. Es zeigt sich, dass eine verlässliche Prognose zu einem so frühen Zeitpunkt gar nicht möglich ist, denn die
Grundschulen liegen mit ihrer Einschätzung häufig falsch. So erhalten Kinder derselben Kompetenzstufe ungleiche Deutschnoten und
unterschiedliche Empfehlungen für die weitere Schullaufbahn. Es kommt zu großen Überlappungen zwischen den einzelnen Schulformen.
Es gelingt dem dreigliedrigen Schulsystem nicht, die Kinder "richtig" nach ihrer
Leistungsfähigkeit zu "sortieren": die angestrebten leistungshomogenen Gruppen in den weiterführenden Schulen gibt es nicht. In die
Gymnasien kommen viele Kinder mit Lesestufe III und IV, in die Realschulen viele mit Lesestufe II und III, aber auch ein nicht unbedeutender Teil mit
Lesestufe IV. Am meisten streut die Verteilung in den Hauptschulen, dort sind Kinder aller Lesestufen.
Diese offensichtlich falsche Einschätzung hat nicht nur fatale Folgen für die
Schullaufbahn, sie führt auch zu Problemen in der Sekundarstufe, denn die aufnehmenden Schulen stellen ihren Unterricht auf eine nicht vorhandene
Homogenität ab. So kommt es, dass viele Lehrpersonen glauben, die "falschen" Schüler zu haben und diese schnell "nach unten
weiter reichen".
Als Folge dieser willkürlichen "Sortierung" beklagte kürzlich der Berliner Bildungsforscher Gero Lenhardt ein
"pessimistisches Menschenbild in deutschen Schulen".
Die meisten Lehrer und Lehrerinnen gingen von der Vorstellung aus, "junge Leute seien
von Natur aus ungleich begabt, bildungsresistent und bildungsfeindlich". Wer glaube, Bildung müsse erzwungen werden, greife leichter zu
"Zwangsmitteln" wie Sitzenbleiben, schlechten Noten oder Schulverweis. Die frühe Selektion im mehrgliedrigen deutschen Schulsystem
mache die Lehrer zu "Herren über Bildungs- und Lebenschancen der Schüler". Es sei hierzulande schon eine "gesellschaftliche
Neurose", ständig eine frühe Auslese zu fordern. Wenn Macht in der Schule allgegenwärtig sei, müsse das zwangsläufig
bei Eltern und Schülern "Angst und Misstrauen" schüren.
Deshalb sind Bildungsstätten zu fordern, die mehr sind als Wissensfabriken, deren
Qualität sich in messbaren Testergebnissen niederschlägt und deren Ergebnisse durch Druck noch gesteigert werden sollen. Schule muss ein Ort
sein, wo Bildung ein ergebnisoffener Prozess ist und wo ein Klima gegenseitiger Achtung und Anerkennung herrscht.
Aber wie soll eine Neuordnung des Schulsystem ablaufen? Hoffentlich nicht so, wie in
Nordrhein-Westfalen bereits angedacht. Dort plant man die Zusammenlegung von Hauptschule, Realschule und Gesamtschule (ohne Oberstufe wäre dies
das Aus für die Gesamtschule), während das Gymnasium als Hort humanistischer Bildung unangetastet bleibt. Ein solches Zweisäulenmodell
wäre ein Zurück ins 19.Jahrhundert: hier die "Volksschule" für das gemeine Volk und dort das Gymnasium für die
gebildeten Schichten. In der Lehrerausbildung wird dieser Widersinn noch weiter getrieben. Es soll eine einheitliche Ausbildung für die Klassen
110 geben und daneben eine für das Gymnasium.
Die Kultusministerkonferenz nannte die Verbesserung des Unterrichts in den
weiterführenden Schulen "die zentrale Herausforderung der kommenden Jahre". Angesichts der Ergebnisse durch IGLU erhofft sie sich von
der Grundschule "wertvolle Anregungen".
Mit Sicherheit wird dies nur gelingen, wenn eine Debatte um die Schulstruktur mit dem Ziel
eröffnet wird, eine Schule für alle Kinder mindestens bis zum 16.Lebensjahr zu schaffen. Allein eine gute Allgemeinbildung ermöglicht die
Teilhabe aller an den gesellschaftlichen Herausforderungen und eine Interessenvertretung, die in der Lage ist, die Hintergründe gesellschaftlicher
Veränderungen aufzudecken.
Larissa Peiffer-Rüssmann
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