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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 9

Sozialhilfe

Soziale Hängematte?

Die nun schon Jahrzehnte währende Massenarbeitslosigkeit mit ihrem periodischen Anstieg in Zeiten der Rezession führt — wie die verschiedenen Armuts- und Reichtumsberichte ausweisen — zu immer schärferen Angriffen auf die Sozialleistungen und zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung in Arme und Reiche.

Da aber die "Lohnnebenkosten", die angeblich "runter" müssen, nur ein für den Krankheitsfall bzw. das Alter aufgesparter Teil des Lohnes sind, laufen die ganzen "Reformen" auf eine mehr oder weniger kaschierte Form des Lohnraubs hinaus. Ganz nebenbei geht es dann auch noch um die Erleichterung der Entlassung, damit der Unternehmer wieder "Herr im Haus" ist. Die rot-grüne "Agenda 2010" ist nur ein neues Etikett für eine Auseinandersetzung, die man in den meisten Ländern Europas und darüber hinaus beobachten kann.
Das Schwergewicht der Politik liegt dabei nicht auf der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern der Arbeitslosen als "Kostenfaktor". Die Leistungen aus Nürnberg sollen (wieder einmal) massiv gekürzt werden, um den Staatshaushalt zu entlasten. Eichel möchte sich in Zukunft den Zuschuss zur BFA, heute immerhin 5—7 Milliarden, sparen.
Kern der Angelegenheit ist die Reduzierung der Arbeitslosenhilfe auf den Satz der Sozialhilfe, was wiederum den Druck auf jene bald 5 Millionen Bezieherinnen und Bezieher von Sozialhilfe verstärken wird, die heute schon auf die sog. "Hilfe zum Lebensunterhalt" angewiesen sind. Da diese Leistungen von den Kommunen erbracht werden, ist dies auch ein Grund für deren zunehmende Finanzmisere.
Klammheimlich wird, leider nicht nur in der Politik, davon ausgegangen, dass sich viele Menschen mit der "Stütze" einen schönen Tag machen, während die anderen malochen. Je weniger genau man weiß, wer Sozialhilfe bezieht (beziehen muss), umso mehr können Stammtischparolen auch in Diskursen von Politikern verfangen. Die vorherrschende Logik des Neoliberalismus sorgt dafür, dass Zynismus und sozialdarwinistische Anschauungen sich immer weiter ausbreiten.
Das Münchener Sozialreferat hat nun eine Studie über die Sozialhilfebezieher vorgelegt, die einerseits mit einer Reihe von Mythen aufräumt, andererseits aber vorausahnen lässt, was auf uns zukommt, wenn die sozialen Sicherungssysteme wie geplant geschreddert werden.
München ist eine Stadt mit vergleichsweise (noch) geringer Arbeitslosigkeit, aber sieben im DAX aufgeführten Großkonzernen, die fast alle keine Steuern zahlen, was zu explodierender Neuverschuldung des städtischen Haushalts führt. Hier beziehen aktuell etwa 47000 Menschen "Hilfe zum Lebensunterhalt". Nur 22500 von ihnen sind zwischen 18 und 65 Jahren alt, könnten also theoretisch arbeiten. Davon sind bereits über 2000 "working poor"; sie müssen Sozialhilfe bekommen, weil ihr Arbeitsverdienst zum Leben nicht ausreicht, was zumeist an den horrenden Mietpreisen liegt.
Der vielgeforderte "Niedriglohnsektor" existiert also — allerdings mit ziemlich verheerenden Folgen! Weitere 3500—4000 der Genannten stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, weil die Kinder zu klein sind oder sie alte oder kranke Menschen pflegen müssen. Weitere 5100 sind so krank, dass sie auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbar sind.
Die neuen Programme der "Hilfe zur Arbeit" können also im günstigsten Fall auf knapp 10000 Menschen oder etwa 20% der Sozialhilfebezieher Anwendung finden. Die immer wieder erhobene Forderung nach einer Kürzung der Sozialhilfe stellt daher den Gipfel des herrschenden Zynismus dar: Denn die (wenigen) Erwerbsfähigen werden inzwischen so vom Sozialamt schikaniert, dass sie entweder fast jede Arbeit annehmen müssen oder ihnen die Sozialhilfe umstandslos gestrichen wird.
Ein weiteres, häufig in die Debatte geworfenes Argument besagt, dass es sich mit Kindern nicht lohne, arbeiten zu gehen, weil die Sozialhilfe den Nettolohn übersteige. Daraus wird von Politikern gern das "Lohnabstandsgebot" abgeleitet, also flugs die Forderung nach einer weiteren Kürzung der Sozialhilfe. Die Münchener Studie hat auch diesen Mythos untersucht und kommt zu dem Schluss, dass erst bei einer Kinderzahl von vier und mehr Kindern (je nach Alter) eine solche Situation eintreffen kann.
Offenbar ergibt sich dies daraus, dass in neueren Tarifverträgen die Größe der Familie keine Rolle mehr spielt, die früheren "Familienkomponenten" mehr und mehr abgeschafft wurden.
Und dies dürfte die schrecklichste Erkenntnis der Studie sein: Dass bei "Kinderreichtum" nicht nur die Gefahr der Armut besteht, sondern auch die Gefahr lebenslanger Armut weitaus am größten ist.

Paul Kleiser

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