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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 9

Kommandieren — und nicht zahlen

Eine kleine Geschichte des Krankengelds

Im Jahre 1883 war der Blick auf die Wirklichkeit noch unverstellt. Der legale Arm der unter Bismarck verbotenen organisierten Arbeiterbewegung, die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, machte wütend Front gegen das "Gesetz betreffend die Krankenversicherung" und das damit verbundene Krankengeld.
Die SPD hatte damals gute Gründe. Bismarcks Absicht war es, die bis dahin freiwillig eingerichteten Krankenkassen — mit mehreren Millionen Versicherten — staatlich zu reglementieren. Denn in solchen Selbsthilfeorganisationen führten die illegalisierten Parteigliederungen seit nunmehr fünf Jahren ihr politisches Leben fort.
Der zweite Grund: Die SPD hatte viel umfassendere Vorstellungen, wie das die Existenz bedrohende Risiko eines Lohnausfalls wegen einer Arbeitsunfähigkeit aufzufangen sei — nicht nur für die industriellen Kernbelegschaften und ohne eine Einmischung der Unternehmer. "Wenn in der Tat einige Abgeordnete für Bismarcks Gesetze stimmten, also den Tritt in den Hintern mit dem Kuss auf den seinigen beantworteten, und wenn die Fraktion die Leute nicht ausstieß, so wäre ich allerdings ebenfalls in der Lage, mich öffentlich von der Partei loszusagen, die das duldet", machte sich damals Friedrich Engels Luft.
Auch Bismarcks Versuch, eine einheitliche Reichsversicherung mit Staatsmonopol zu schaffen, finanziert durch zusätzliche Einnahmen aus Schutzzöllen und Tabaksteuern, die "Besteuerung des Auslandes und des Luxus" scheiterte. Die Nationalliberalen vor 120 Jahren setzten sich mit ihrem selbstverwalteten Genossenschaftsmodell durch, mit dem die sozialistischen Kräfte erzieherisch integriert werden sollten.
Die Vergesellschaftung der Folgekosten der industriellen Entwicklung, die Behandlung von Arbeitsunfällen, Verstümmelungen und chronischen Berufskrankheiten sowie die Abfederung der daraus folgenden Armut, all das wandelte sich trotz alledem im gesellschaftlichen Bewusstsein zu einer sozialen Errungenschaft. Zunächst zahlten die Unternehmer nur ein Drittel der Beiträge in die Kassen ein. Neben freier ärztlicher Behandlung sicherte das Krankengeld zumindest den halben Lohn für maximal drei Monate.
Im Jahre 1911, als bereits fast jeder Fünfte in einer der 22000 Krankenkassen versichert war, setzten die Unternehmer ihren paritätischen Zugriff auf die Selbstverwaltungen durch. Ein kluger Schachzug, denn aus ihrer Sicht summierten sich der ausgezahlte direkte Lohn und die zusätzlichen indirekten Sozialleistungen zu den gesamten Lohnkosten. Und diese Lohnkosten — zuzüglich einer zumindest marktüblichen Rendite — muss jede und jeder Beschäftigte über kurz oder lang auch wieder "hereinspielen", bei Strafe der "Freisetzung" in die Arbeitslosigkeit.
Doch die Unternehmer behielten über die indirekten Lohnbestandteile die Verfügungsgewalt. Mit der Übernahme der hälftigen Zahlleistung für die Beiträge legitimierten sie ihren nun auch hälftigen Einzug in die Verwaltung: Die angebliche "Parität" war erreicht, als die "Selbstverwaltung" zur Sozialpartnerschaft domestiziert war.
Mit Rot-Grün erleben die Unternehmer heute ein doppeltes Glück. Trotz ihrer entscheidenden Verantwortung für die gesundheitsschädlichen Arbeits- und Lebensbedingungen wird ihnen ihr Beitrag zum Krankengeld erlassen, ein jährliches Geschenk von fast 4 Milliarden Euro. Die erste Umdrehung dieser neuen Stellschraube senkt landesweit die Löhne um ein halbes Prozent — falls Stoiber, Koch und Konsorten im Vermittlungsausschuss des Bundesrats nicht sogar noch die Zahnprothetik draufsatteln können.
Mit der Herauslösung des Krankengelds aus der Parität tastet die Regierung jedoch die hälftige Besetzung der Selbstverwaltungsorgane nicht an und erspart so dem Unternehmerlager und den Gewerkschaften eine peinliche Diskussion: Würden die Krankenkassen ihre Politik der rigorosen Beitragsstabilisierung ändern, wenn die Versicherten mit nun 53% die Oberhand in den Verwaltungsräten erhielten?

Tobias Michel

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