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Im Jahre 1883 war der Blick auf die Wirklichkeit noch unverstellt. Der legale Arm der unter Bismarck verbotenen organisierten
Arbeiterbewegung, die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, machte wütend Front gegen das "Gesetz betreffend die Krankenversicherung"
und das damit verbundene Krankengeld.
Die SPD hatte damals gute Gründe. Bismarcks Absicht war es, die bis dahin freiwillig
eingerichteten Krankenkassen mit mehreren Millionen Versicherten staatlich zu reglementieren. Denn in solchen Selbsthilfeorganisationen
führten die illegalisierten Parteigliederungen seit nunmehr fünf Jahren ihr politisches Leben fort.
Der zweite Grund: Die SPD hatte viel umfassendere Vorstellungen, wie das die Existenz
bedrohende Risiko eines Lohnausfalls wegen einer Arbeitsunfähigkeit aufzufangen sei nicht nur für die industriellen Kernbelegschaften und
ohne eine Einmischung der Unternehmer. "Wenn in der Tat einige Abgeordnete für Bismarcks Gesetze stimmten, also den Tritt in den Hintern mit
dem Kuss auf den seinigen beantworteten, und wenn die Fraktion die Leute nicht ausstieß, so wäre ich allerdings ebenfalls in der Lage, mich
öffentlich von der Partei loszusagen, die das duldet", machte sich damals Friedrich Engels Luft.
Auch Bismarcks Versuch, eine einheitliche Reichsversicherung mit Staatsmonopol zu schaffen,
finanziert durch zusätzliche Einnahmen aus Schutzzöllen und Tabaksteuern, die "Besteuerung des Auslandes und des Luxus" scheiterte.
Die Nationalliberalen vor 120 Jahren setzten sich mit ihrem selbstverwalteten Genossenschaftsmodell durch, mit dem die sozialistischen Kräfte
erzieherisch integriert werden sollten.
Die Vergesellschaftung der Folgekosten der industriellen Entwicklung, die Behandlung von
Arbeitsunfällen, Verstümmelungen und chronischen Berufskrankheiten sowie die Abfederung der daraus folgenden Armut, all das wandelte sich
trotz alledem im gesellschaftlichen Bewusstsein zu einer sozialen Errungenschaft. Zunächst zahlten die Unternehmer nur ein Drittel der Beiträge in
die Kassen ein. Neben freier ärztlicher Behandlung sicherte das Krankengeld zumindest den halben Lohn für maximal drei Monate.
Im Jahre 1911, als bereits fast jeder Fünfte in einer der 22000 Krankenkassen versichert
war, setzten die Unternehmer ihren paritätischen Zugriff auf die Selbstverwaltungen durch. Ein kluger Schachzug, denn aus ihrer Sicht summierten sich
der ausgezahlte direkte Lohn und die zusätzlichen indirekten Sozialleistungen zu den gesamten Lohnkosten. Und diese Lohnkosten
zuzüglich einer zumindest marktüblichen Rendite muss jede und jeder Beschäftigte über kurz oder lang auch wieder
"hereinspielen", bei Strafe der "Freisetzung" in die Arbeitslosigkeit.
Doch die Unternehmer behielten über die indirekten Lohnbestandteile die
Verfügungsgewalt. Mit der Übernahme der hälftigen Zahlleistung für die Beiträge legitimierten sie ihren nun auch
hälftigen Einzug in die Verwaltung: Die angebliche "Parität" war erreicht, als die "Selbstverwaltung" zur
Sozialpartnerschaft domestiziert war.
Mit Rot-Grün erleben die Unternehmer heute ein doppeltes Glück. Trotz ihrer
entscheidenden Verantwortung für die gesundheitsschädlichen Arbeits- und Lebensbedingungen wird ihnen ihr Beitrag zum Krankengeld erlassen,
ein jährliches Geschenk von fast 4 Milliarden Euro. Die erste Umdrehung dieser neuen Stellschraube senkt landesweit die Löhne um ein halbes
Prozent falls Stoiber, Koch und Konsorten im Vermittlungsausschuss des Bundesrats nicht sogar noch die Zahnprothetik draufsatteln können.
Mit der Herauslösung des Krankengelds aus der Parität tastet die Regierung
jedoch die hälftige Besetzung der Selbstverwaltungsorgane nicht an und erspart so dem Unternehmerlager und den Gewerkschaften eine peinliche
Diskussion: Würden die Krankenkassen ihre Politik der rigorosen Beitragsstabilisierung ändern, wenn die Versicherten mit nun 53% die Oberhand
in den Verwaltungsräten erhielten?
Tobias Michel
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