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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 10

Siemens: Arbeitszeitverkürzung statt Massenentlassung

IT‘ler entdecken Arbeitskampf

Siemens ist das drittgrößte deutsche Unternehmen, der größte Softwareentwickler der Welt. Seit 156 Jahren marschiert der Konzern an der Spitze des technologischen Fortschritts und verbindet dies mit einer besonderen Unternehmenskultur, den "Geist des Hauses Siemens". Bis vergangenen Herbst war dieser gleichbedeutend mit einer lebenslangen gut bezahlten Stellung an der Spitze des Fortschritts.

Die Kündigung eines Drittels der Belegschaft von Siemens ICN (Information and Communication Networks, stellt Computernetzwerke her) Ende August letzten Jahres, zu Beginn der bayrischen Ferien, setzte der Erfolgsgeschichte ein jähes Ende. Seither gibt es Streit im Hause Siemens — um Arbeitszeitverkürzung, um den Umgang mit den Beschäftigten, um die Unternehmensstrategie auf dem globalen IC- Markt und um ein Stück Technologiestandort Deutschland.
Am ersten Urlaubstag im Sommer 2002 flatterten für 2600 der 6700 Beschäftigten bei ICN und ICM (Mobilfunk) die Kündigungen auf den Tisch. Begründung: Im IC-Bereich gebe es einen massiven und anhaltenden Markteinbruch (das Ende der New Economy) und die Geschäftszyklen hätten sich hier von sieben auf zwei bis drei Jahre verkürzt; dies führe dazu, dass die Zeiten für die Entwicklung neuer Produkte länger seien als die Zeiten ihrer Vermarktung. Deshalb könne man einen anspruchsvollen Entwicklungsbereich mit hochqualifiziertem Stammpersonal nicht mehr aufrechterhalten; nicht nur die Fertigung, auch die Entwicklung müssten ausgelagert werden (z.B. in andere Länder), der Bestand an Entwicklungspersonal müsse radikal abgebaut werden. Die Belegschaft müsse reduziert werden auf eine kleine Kernmannschaft mit einer hochflexiblen Leiharbeiterschaft am Rande, die formell nicht mehr zu Siemens gehöre.
Letztere nennt der Betriebsrat eine schnelle, billige Eingreiftruppe. Er sieht in dem Vorstoß der Geschäftsleitung einen "Bruch mit der Unternehmenskultur". ICN mausere sich von einem technologieorientierten zu einem kundenorientierten Unternehmen, das mit Angeboten für die dringenden Tagesbedürfnisse der Kunden schnelle Gewinne machen will. Von einem Unternehmen mit führender Position in der Innovation der Elektrotechnologie wandle sich ICN zu einem "virtuellen Unternehmen", das nur noch ein leistungsfähiges Netz von Soft- und Hardwareentwicklern unterhält und sich im Übrigen dem Marketing und der Kundenbetreuung widmet.
Die Betriebsleitung wollte das Arbeitsverhältnis mit den 2600 Gekündigten lösen, eine Beschäftigungsgesellschaft einrichten, in der sie ein Jahr lang verbleiben könnten mit einem Kurzarbeitergeld (Einbuße von 20% des Gehalts und aller Sozialleistungen), das vom Arbeitsamt gezahlt würde, und ohne Aussicht auf einen Arbeitsplatz im Anschluss. Daneben sollte eine Auffanggesellschaft nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz eingerichtet werden, die mit den Arbeitskräften aus der Beschäftigungsgesellschaft in den wachsenden Leiharbeitermarkt einsteigen würde — um sie dann z.B. wieder an Siemens zu verleihen.
Der Betriebsrat stellte sich quer — und zwar gründlich. Üblicherweise schicken sich Betriebsräte in solchen Fällen in das Schicksal "Massenentlassung" und versuchen nur noch, finanziell möglichst viel herauszuholen — eine möglichst hohe Abfindung und maximalen sozialen Schutz. Die Arbeitsplätze sind dann weg, die Belegschaft verjüngt sich zusehends, die Kosten der Entlassungen werden zu einem großen Teil dem Steuerzahler aufgebürdet.
Der Betriebsrat in der Hofmannstraße wählte einen anderen Weg: Er beschloss, möglichst viele Arbeitsplätze zu verteidigen — nötigenfalls vor Gericht. Durch eine unerwartet hohe Mobilisierung der Beschäftigten gelang es, im Oktober zwei Betriebsvereinbarungen abzuschließen, die vorsehen:
♦ 350 Entlassungen werden vermieden durch Arbeitszeitverkürzung im Betrieb (im Umfang von 2,5 Wochenstunden, ohne Lohnausgleich); auch die außertariflich Beschäftigten sind in diese Regelung einbezogen;
♦ 250 Entlassungen werden vermieden durch Kündigung von Werkverträgen (Insourcing);
♦ 260 Beschäftigte lösten ihr Arbeitsverhältnis;
♦ mit 340 "schwer Vermittelbaren" wurden Einzelverträge geschlossen.
Bleiben 1100 Beschäftigte, denen wahlweise ein Aufhebungsvertrag oder der Wechsel in eine betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit (beE) angeboten wurde. In letztere sollten nur Personen vermittelt werden, die auf dem Arbeitsmarkt noch reale Chancen hatten (also nicht Ältere über 55, Behinderte usw.). Außerdem gilt für diese das Beschäftigungsverhältnis mit ICN weiter. Nahmen sie weder das eine noch das andere an, folgte eine betriebsbedingte Kündigung.
Der Betriebsrat ließ sich darauf ein, weil er zu Recht davon ausging, dass er im letzteren Fall immer noch die Möglichkeit hatte, gegen die Kündigung zu klagen. Er beteiligte sich deshalb auch nicht an der Sozialauswahl. Die nahm die Personalleitung alleine vor, mit dem Ergebnis, dass sie zu zwei Dritteln Älteren Beschäftigten kündigte, die seit über 20 Jahren bei Siemens arbeiten, und zu einem Drittel Frauen.
Von diesen 1100 Beschäftigten entschieden sich 400 für die beE, 250 für Aufhebungsverträge; blieben 450 betriebsbedingte Kündigungen, von denen 366 ausgesprochen wurden. Der Betriebsrat hatte sieben Tage Zeit, in jedem einzelnen Fall Widerspruch einzulegen. Rund die Hälfte der Betroffenen genießt wegen langjähriger Betriebszugehörigkeit, Schwerbehinderung oder Betriebsratstätigkeit Kündigungsschutz. Der Betriebsrat wertete die Auswahl der Personalleitung deshalb auch als einen Frontalangriff auf den Kündigungsschutz.
Für besonderen Skandal in der Firma, aber auch in der Öffentlichkeit, sorgte zudem die Tatsache, dass unter den Gekündigten über 100 Jubilare waren, die eben noch für ihre "Familientreue" und mehrere Jahre "Weltklasseleistung" geehrt worden waren. Der Imageschaden in der Öffentlichkeit war groß. Den Jubilaren bot die Firmenleitung daraufhin einen anderen Arbeitsplatz im Unternehmen an. Ganze 200 betriebsbedingte Kündigungen blieben übrig; fast alle Betroffenen haben dagegen Klage erhoben — mit Unterstützung des Betriebsrats und der IG Metall.
Der Betriebsrat in der Hofmannstraße hat es vermocht, in einer Situation, wo Arbeitszeitverkürzung und Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze als Out gelten, erfolgreich für diese Ziele zu kämpfen. Es lohnt sich, an diesem Beispiel anzuknüpfen, um das Ziel "Arbeitszeitverkürzung" wieder in die gewerkschaftliche und gesellschaftliche Debatte zu bringen.
Aber der Kampf um die Hofmannstraße ist nicht beendet. Der Betriebsrat befürchtet weitere Entlassungswellen und einen weitaus schärferen Krieg gegen den Betriebsrat und die IG Metall. Dem kann nur mit einer breiten überbetrieblichen Kampagne gegen Entlassungen begegnet werden. Da sind dann alle gefragt: von der IG Metall in anderen Unternehmen, über andere Gewerkschaften bis hin zu Attac.
Übrigens: Siemens schrieb 2002 einen Rekordgewinn von 2,6 Milliarden Euro nach Steuern — das zweitbeste Ergebnis in der Firmengeschichte.

Angela Klein

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