SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 10

IGM-Tarifrunde Ost

Kämpfen gegen den Zeitgeist

Die Zeichen in Ostdeutschland stehen auf Streik. Die Tarifkommissionen der IG Metall für die Bezirke Berlin- Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt haben bis Redaktionsschluss das Scheitern der Verhandlungen in der Auseinandersetzung um die Einführung der 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metallindustrie erklärt und beim Hauptvorstand die Einleitung einer Urabstimmung beantragt.
Fast zwanzig Jahre nach dem bedeutenden Arbeitskampf in der westdeutschen Metallindustrie, dreizehn Jahre nach der Einverleibung der DDR und acht Jahre nach der generellen Einführung der 35-Stunden-Woche im Westen melden die Metaller im Osten hartnäckig ihre Ansprüche auf Angleichung der Arbeitsverhältnisse an. Bisher werden dort tariflich drei und faktisch oft noch mehr Stunden länger als im Westen gearbeitet.
Während die großen Bezirke der IG Metall im Westen sich im letzten Herbst ohne viel Diskussionen darauf verständigt hatten, bis auf weiteres keine kollektiven Arbeitszeitverkürzungen zu fordern, sondern sich in betrieblichen Einzelregelungen um die tatsächliche Durchsetzung der 35-Stunden-Woche zu kümmern, wollten die Kolleginnen und Kollegen im Osten nicht länger warten und der Ungerechtigkeit in Sachen Arbeitszeit ein Ende bereiten.
Die Gründe für die Zurückhaltung im Westen wurden offen eingestanden: die politische und wirtschaftliche Konjunktur wäre nicht reif für weitere Arbeitszeitverkürzung; die Beschäftigten selbst würden sie nicht wollen; die Erfahrung der Einführung der 35-Stunden-Woche hätte gezeigt, dass die Unternehmer dies nur mit rasanter Arbeitsverdichtung, Rationalisierung und vielfältige Formen der faktischen Arbeitszeitverlängerung beantwortet hätten. Feigheit vor dem großen Streit also.
Dabei ist offenkundig, dass nur eine radikale Arbeitszeitverkürzung und die damit verbundene Neuverteilung der Arbeit auf alle eine ernsthafte Antwort auf die Massenerwerbslosigkeit bedeutet. Nicht das erste Mal, dass die IG Metall die Erwerbslosen im Regen stehen lässt.
Der Kampf der ostdeutschen Metaller ist nicht hoch genug einzuschätzen. Er steht deshalb aus gutem Grund im Kreuzfeuer der gesamten veröffentlichten Meinung. War es 1984 der Kanzler Kohl höchstselbst, der die 35-Stunden- Woche als "dumm und töricht" abkanzelte, so sind es heute ausnahmslos alle großen Zeitungen, die Fernsehkanäle und selbsternannten "Experten". Sie wollen eine unternehmerfreundliche Mainstreammeinung in die Köpfe hinein prügeln. Es ist im Interesse der gesamten Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung zu wünschen, dass dieser Kampf im Osten zum Erfolg wird — eine bundesweite Solidarität ist unbedingt erforderlich.
Leider mehren sich in der IG-Metall-Führung die Stimmen, die die Fehler von 1984 wiederholen wollen. Die Arbeitszeitverkürzung soll in kleinen Schritten, die den Unternehmern nicht weh tun, umgesetzt werden. Es soll zahlreiche Härtefallregelungen geben, mit denen sich die Unternehmer der 35-Stunden-Woche entziehen können. Es ist absehbar, dass dies zu genau den gleichen Erfahrungen wie in den 80er Jahren im Westen führt: den in den Kampf geschickten Kolleginnen und Kollegen wird das wichtige, große Ziel durch betriebliche Minimierungen wieder genommen.
Die Arbeitszeitverkürzung als wichtigstes Mittel gegen die Erwerbslosigkeit und gegen die Verdichtung der Ausbeutung kann nur wirken, wenn sie in großen Schritten durchgeführt wird. Der Kampf darum wird nicht nur in den Betrieben geführt werden müssen, sondern muss, wie ein wenig auch 1984 im Westen, eine die gesamte Gesellschaft mobilisierende Kampagne werden.

Thies Gleiss

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang