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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 11

Heißer Mai in Frankreich

Streikwelle gegen Rentenreform

Die Demonstrationen und Streiks vom 13.Mai hatten ein historisches Ausmaß. Fast 2 Millionen Menschen waren auf den Straßen. Die Streikbeteiligung war massiv: bei den Lehrern, der Eisenbahn, der Metro, der Post, der Telekom, beim Stromriesen EDF, im Gesundheitswesen, bei den Steuerbeamten und in der öffentlichen Verwaltung. Bei der Metro, der Bahn und in den Briefezentren wurden die Streiks verlängert. Zum ersten Mal seit langem gab es auch wieder eine bedeutende Mobilisierung in der Privatwirtschaft., stärker als 1995.

Von innen klopft es am Sarg. "Lasst mich raus, ich habe meine Rentenbeiträge noch nicht alle bezahlt!" Die Zeichnung hätte vielleicht den Preis für das beste Transparent verdient, das am 13.Mai auf der Pariser Demonstration gegen die geplante Renten"reform" gezeigt wurde. Der Zuschlag für die beste Parole hingegen wäre eindeutig an die streikenden Lehrerinnen und Lehrer aus dem Département Seine-Saint-Denis gegangen: "Raffarin flieg höher — höher als Juppé!"
Dem amtierenden Premierminister wurde damit ein ähnliches Schicksal angedroht wie seinem Amtsvorgänger Alain Juppé. Dieser hatte 1995 versucht, eine Reihe sozialer Errungenschaften — von den Pensionen im öffentlichen Dienst bis zur Krankenversicherung — abzubauen. Seine brachiale Politik führte zur Streikwelle im November und Dezember 1995, in deren Folge eine Vielzahl gesellschaftlicher Protestbewegung aufkeimte. Nach eineinhalb Jahren war Juppé auf der ganzen Linie gescheitert.

Kämpferisches Lehrpersonal

Die Lehrer waren in den Protestzügen der vergangenen Woche am kämpferischsten und motiviertesten aufgestellt. Viele von ihnen — im Großraum Paris und vor allem in der Vorstadt Seine-Saint-Denis, aber auch in Toulouse oder Bordeaux — sind bereits seit sechs Wochen im Ausstand. Sie haben unterschiedliche Protestmotive: Die Regierung plant, die Beitragsdauer in die Rentenkasse zu erhöhen und zugleich das Pensionsniveau zu senken.
Aber es gibt auch spezifische Probleme im Bildungssektor. Bildungsminister Luc Ferry will im laufenden Schuljahr rund 25000 Stellen für Betreuer an den Schulen — das sind meist Studierende — streichen und 110000 Schulärztinnen, Psychologen, Krankenschwestern und andere Schulangestellte in den kommenden Monaten vom Zentralstaat auf die Regionen und Bezirke transferieren; für das Lehrpersonal wagt die Regierung diesen Schritt bisher noch nicht. Die Lehrer befürchten infolgedessen eine verstärkte Ungleichheit im Bildungsbereich, je nach Finanzkraft der Regionen oder Départements.
Deswegen ist die Protestbewegung in den Pariser Vorstädten, die ohnehin benachteiligt sind, auch besonders stark. Ferner befürchten sie eine noch stärkere Anlehnung an die Bedürfnisse der Privatwirtschaft — denn die Regionen übernehmen im französischen Staatsaufbau vor allem Aufgaben der Wirtschaftsförderung.
Ende März begann der Ausstand im Département Seine-Saint-Denis (angeführt von einem interessanten Bündnis, das von der größten Lehrergewerkschaft, der FSU, über die Fachbereiche Bildung der Gewerkschaftsverbände CGT und CFDT, die linke Basisgewerkschaft SUD bis zur anarchosyndikalistischen CNT reicht). Er dauert bis heute an, obwohl es in Frankreich keine Streikkassen gibt, welche die Lohneinbussen auffangen würden. Am 1.Mai waren 150 Schulen im Streik, darunter 111 in Seine-Saint-Denis. Inzwischen sind es 700—900, davon die Hälfte im Pariser Umland.
Die Lehrer könnten diesmal eine ähnliche Rolle spielen wie im Streikherbst 1995 die Eisenbahner und die Beschäftigten der städtischen Transportbetriebe. Diese sind zwar auch jetzt in den Demonstrationen präsent, und mit ihren roten Signalfackeln deutlich sichtbar. Aber sie können nicht so eindeutig die Spitze der Proteste übernehmen wie vor acht Jahren. Denn die Mitarbeiter der Bahngesellschaft SNCF sowie des Pariser Bus- und Metrobetreibers RATP sind bisher nicht direkt von der aktuellen "Reform" der Rentensysteme betroffen. Sie haben eigene Rentenkassen, die von der Regierung wohlweislich bisher aus der Debatte ausgeklammert wurden.
"Erst 2004", so Premier Jean-Pierre Raffarin und Sozialminister François Fillon, werde auch über ihre Zukunft diskutiert werden. Die Ankündigung war als Beruhigung gemeint, wurde von den Betroffenen jedoch eher als Drohung aufgefasst. Am Abend des landesweiten Aktionstags der Gewerkschaften am 13.Mai beschlossen deshalb auch die Beschäftigten der SNCF und RATP vielerorts, in einen unbefristeten Streik gegen die "Reform" zu treten.
Aber auch sie haben noch zusätzliche Motive für ihren Protest, die sich aus der Sparpolitik der konservativen Regierung ergeben. Wirtschaftsminister François Mer hatte vor drei Wochen verkündet, ab dem kommenden Jahr solle nur jeder zweite altersbedingte Abgang im öffentlichen Dienst durch eine Neueinstellung ersetzt werden — mit Ausnahme des staatlichen Repressionsbereichs.
Die aus Sicht der Gewerkschaftsführungen "eigenmächtigen" Arbeitsniederlegungen bei SNCF und RATP wurden jedoch im Verlauf der Woche von der CGT abgewürgt. CGT-Chef Bernard Thibault bestellte die Pariser Sektion der RATP in die Gewerkschaftszentrale, um ihr die Flausen auszutreiben. Doch der Ausstand war am CGT-Apparat vorbei, von der Basis ausgegangen.
Am Tag drauf war die Stimmung auf der Vollversammlung im RATP-Depot im Vorort Pantin entsprechend geladen. An diesem Morgen waren Gastredner aus der streikenden FSU, den ebenfalls im Ausstand befindlichen Finanzbeamten sowie Archäologinnen eingeladen worden, die gegen Einsparungen protestieren, die ihre Arbeit gefährden.
Hier, im Bezirk Seine-Saint-Denis, kam in den vergangenen Tagen am ehesten zustande, was die Streiks im Herbst 1995 auf breiter Front geprägt hatte: eine Berufsgruppen übergreifende Dynamik, bei der sich Vertreter der jeweiligen Streikversammlungen gegenseitig an den Arbeitsstätten besuchten. Anderswo fehlt dieses dynamische Element bisher weitgehend.

Berufsgruppen übergreifende Dynamik

90% der Anwesenden sprachen sich an diesem Morgen für die Fortführung des Streiks aus, gegen die Meinung der anwesenden Delegierten der CGT sowie der christlichen CFTC, aber mit Unterstützung der linken Basisgewerkschaft SUD. Dasselbe beschlossen am selben Tag 13 von 18 Vollversammlungen bei der RATP. Am folgenden Abend gab die CGT-RATP das Ende der Arbeitsniederlegung bekannt.
Ähnlich verliefen die Dinge bei der SNCF. Im Rangierbahnhof Villeneuve-Saint- Georges, südöstlich von Paris, konnte der CGT-Sekretär an jenem Tag 70 zurückgegebene Mitgliedskarten in einem dicken Umschlag entgegennehmen.
Der CGT-Apparat arbeitet darauf hin, im Streit um die Rentenreform eine führende Rolle unter den Gewerkschaften zu gewinnen. Die rechtssozialdemokratische CFDT, die das Regierungsvorhaben nach einigen kosmetischen Verbesserungen akzeptiert hat, hat sich in den Augen der Streikenden ohnehin diskreditiert. Daher glaubt man bei der CGT nicht ohne Grund, nunmehr den Platz eines ernst zu nehmenden Verhandlungspartners der Regierung besetzen zu können. Die CFDT, deren Funktionärskader eindeutig neoliberal orientiert ist, kann dafür kaum noch Glaubwürdigkeit beanspruchen.
Die CGT hat für Sonntag, den 25.Mai, zu einer landesweiten zentralen Demonstration in Paris aufgerufen. Ihr haben sich die Lehrergewerkschaft FSU, der populistische Gewerkschaftsbund FO und einige Branchengewerkschaften angeschlossen. Der Sonntagstermin soll auch den Beschäftigten im Privatsektor ermöglichen, an der Demonstration teilzunehmen; am 13.Mai waren sie zwar sichtbar vertreten, aber wegen der massiven Erpressung mit dem Verlust des Arbeitsplatzes wagen sie kaum zu streiken. Drei Tage vor der Kabinettssitzung, auf der an den Gesetzentwurf über die Rente letzte Hand angelegt werden sollte, sollte damit nochmals maximaler Druck entfaltet werden.
Die Regierung sucht die Kraftprobe; sie will die Bewegung brechen, damit sie eine ganze Reihe von grundlegenden Errungenschaften der Arbeiterbewegung rückgängig machen kann. Sie weicht nicht aus, sie verstärkt ihre Angriffe. Kaum ein Tage vergeht ohne Provokationen. Premierminister Raffarin sagt: "Es ist nicht die Straße, die regiert."
Sozialminister Fillon will die Bewegung spalten: mit den Kompromissbereiten will er reden, gegen die anderen schießt er die volle Breitseite ab. Er hat aber auch klargestellt, dass die Regierung keinen Spielraum für Kompromisse sieht. Die Gewerkschaften müssen deshalb auch ihrerseits eine Schippe drauflegen. In den Belegschaften hat die Debatte darüber begonnen, in unbefristeten Streik zu treten. Das wird vor allem eine Auseinandersetzung mit der CGT werden.

Bernhard Schmid, Paris

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