SoZ Sozialistische Zeitung |
Von innen klopft es am Sarg. "Lasst mich raus, ich habe meine Rentenbeiträge noch nicht alle bezahlt!" Die
Zeichnung hätte vielleicht den Preis für das beste Transparent verdient, das am 13.Mai auf der Pariser Demonstration gegen die geplante
Renten"reform" gezeigt wurde. Der Zuschlag für die beste Parole hingegen wäre eindeutig an die streikenden Lehrerinnen und Lehrer
aus dem Département Seine-Saint-Denis gegangen: "Raffarin flieg höher höher als Juppé!"
Dem amtierenden Premierminister wurde damit ein ähnliches Schicksal angedroht wie
seinem Amtsvorgänger Alain Juppé. Dieser hatte 1995 versucht, eine Reihe sozialer Errungenschaften von den Pensionen im
öffentlichen Dienst bis zur Krankenversicherung abzubauen. Seine brachiale Politik führte zur Streikwelle im November und Dezember
1995, in deren Folge eine Vielzahl gesellschaftlicher Protestbewegung aufkeimte. Nach eineinhalb Jahren war Juppé auf der ganzen Linie gescheitert.
Die Lehrer waren in den Protestzügen der vergangenen Woche am kämpferischsten und motiviertesten aufgestellt. Viele von ihnen im
Großraum Paris und vor allem in der Vorstadt Seine-Saint-Denis, aber auch in Toulouse oder Bordeaux sind bereits seit sechs Wochen im
Ausstand. Sie haben unterschiedliche Protestmotive: Die Regierung plant, die Beitragsdauer in die Rentenkasse zu erhöhen und zugleich das
Pensionsniveau zu senken.
Aber es gibt auch spezifische Probleme im Bildungssektor. Bildungsminister Luc Ferry will im
laufenden Schuljahr rund 25000 Stellen für Betreuer an den Schulen das sind meist Studierende streichen und 110000
Schulärztinnen, Psychologen, Krankenschwestern und andere Schulangestellte in den kommenden Monaten vom Zentralstaat auf die Regionen und
Bezirke transferieren; für das Lehrpersonal wagt die Regierung diesen Schritt bisher noch nicht. Die Lehrer befürchten infolgedessen eine
verstärkte Ungleichheit im Bildungsbereich, je nach Finanzkraft der Regionen oder Départements.
Deswegen ist die Protestbewegung in den Pariser Vorstädten, die ohnehin benachteiligt
sind, auch besonders stark. Ferner befürchten sie eine noch stärkere Anlehnung an die Bedürfnisse der Privatwirtschaft denn die
Regionen übernehmen im französischen Staatsaufbau vor allem Aufgaben der Wirtschaftsförderung.
Ende März begann der Ausstand im Département Seine-Saint-Denis
(angeführt von einem interessanten Bündnis, das von der größten Lehrergewerkschaft, der FSU, über die Fachbereiche Bildung
der Gewerkschaftsverbände CGT und CFDT, die linke Basisgewerkschaft SUD bis zur anarchosyndikalistischen CNT reicht). Er dauert bis heute an,
obwohl es in Frankreich keine Streikkassen gibt, welche die Lohneinbussen auffangen würden. Am 1.Mai waren 150 Schulen im Streik, darunter 111 in
Seine-Saint-Denis. Inzwischen sind es 700900, davon die Hälfte im Pariser Umland.
Die Lehrer könnten diesmal eine ähnliche Rolle spielen wie im Streikherbst 1995
die Eisenbahner und die Beschäftigten der städtischen Transportbetriebe. Diese sind zwar auch jetzt in den Demonstrationen präsent, und mit
ihren roten Signalfackeln deutlich sichtbar. Aber sie können nicht so eindeutig die Spitze der Proteste übernehmen wie vor acht Jahren. Denn die
Mitarbeiter der Bahngesellschaft SNCF sowie des Pariser Bus- und Metrobetreibers RATP sind bisher nicht direkt von der aktuellen "Reform" der
Rentensysteme betroffen. Sie haben eigene Rentenkassen, die von der Regierung wohlweislich bisher aus der Debatte ausgeklammert wurden.
"Erst 2004", so Premier Jean-Pierre Raffarin und Sozialminister François Fillon,
werde auch über ihre Zukunft diskutiert werden. Die Ankündigung war als Beruhigung gemeint, wurde von den Betroffenen jedoch eher als
Drohung aufgefasst. Am Abend des landesweiten Aktionstags der Gewerkschaften am 13.Mai beschlossen deshalb auch die Beschäftigten der SNCF und
RATP vielerorts, in einen unbefristeten Streik gegen die "Reform" zu treten.
Aber auch sie haben noch zusätzliche Motive für ihren Protest, die sich aus der
Sparpolitik der konservativen Regierung ergeben. Wirtschaftsminister François Mer hatte vor drei Wochen verkündet, ab dem kommenden Jahr solle nur
jeder zweite altersbedingte Abgang im öffentlichen Dienst durch eine Neueinstellung ersetzt werden mit Ausnahme des staatlichen
Repressionsbereichs.
Die aus Sicht der Gewerkschaftsführungen "eigenmächtigen"
Arbeitsniederlegungen bei SNCF und RATP wurden jedoch im Verlauf der Woche von der CGT abgewürgt. CGT-Chef Bernard Thibault bestellte die
Pariser Sektion der RATP in die Gewerkschaftszentrale, um ihr die Flausen auszutreiben. Doch der Ausstand war am CGT-Apparat vorbei, von der Basis
ausgegangen.
Am Tag drauf war die Stimmung auf der Vollversammlung im RATP-Depot im Vorort Pantin
entsprechend geladen. An diesem Morgen waren Gastredner aus der streikenden FSU, den ebenfalls im Ausstand befindlichen Finanzbeamten sowie
Archäologinnen eingeladen worden, die gegen Einsparungen protestieren, die ihre Arbeit gefährden.
Hier, im Bezirk Seine-Saint-Denis, kam in den vergangenen Tagen am ehesten zustande, was
die Streiks im Herbst 1995 auf breiter Front geprägt hatte: eine Berufsgruppen übergreifende Dynamik, bei der sich Vertreter der jeweiligen
Streikversammlungen gegenseitig an den Arbeitsstätten besuchten. Anderswo fehlt dieses dynamische Element bisher weitgehend.
90% der Anwesenden sprachen sich an diesem Morgen für die Fortführung des Streiks aus, gegen die Meinung der anwesenden Delegierten der
CGT sowie der christlichen CFTC, aber mit Unterstützung der linken Basisgewerkschaft SUD. Dasselbe beschlossen am selben Tag 13 von 18
Vollversammlungen bei der RATP. Am folgenden Abend gab die CGT-RATP das Ende der Arbeitsniederlegung bekannt.
Ähnlich verliefen die Dinge bei der SNCF. Im Rangierbahnhof Villeneuve-Saint-
Georges, südöstlich von Paris, konnte der CGT-Sekretär an jenem Tag 70 zurückgegebene Mitgliedskarten in einem dicken Umschlag
entgegennehmen.
Der CGT-Apparat arbeitet darauf hin, im Streit um die Rentenreform eine führende Rolle
unter den Gewerkschaften zu gewinnen. Die rechtssozialdemokratische CFDT, die das Regierungsvorhaben nach einigen kosmetischen Verbesserungen
akzeptiert hat, hat sich in den Augen der Streikenden ohnehin diskreditiert. Daher glaubt man bei der CGT nicht ohne Grund, nunmehr den Platz eines ernst zu
nehmenden Verhandlungspartners der Regierung besetzen zu können. Die CFDT, deren Funktionärskader eindeutig neoliberal orientiert ist, kann
dafür kaum noch Glaubwürdigkeit beanspruchen.
Die CGT hat für Sonntag, den 25.Mai, zu einer landesweiten zentralen Demonstration in
Paris aufgerufen. Ihr haben sich die Lehrergewerkschaft FSU, der populistische Gewerkschaftsbund FO und einige Branchengewerkschaften angeschlossen. Der
Sonntagstermin soll auch den Beschäftigten im Privatsektor ermöglichen, an der Demonstration teilzunehmen; am 13.Mai waren sie zwar sichtbar
vertreten, aber wegen der massiven Erpressung mit dem Verlust des Arbeitsplatzes wagen sie kaum zu streiken. Drei Tage vor der Kabinettssitzung, auf der an
den Gesetzentwurf über die Rente letzte Hand angelegt werden sollte, sollte damit nochmals maximaler Druck entfaltet werden.
Die Regierung sucht die Kraftprobe; sie will die Bewegung brechen, damit sie eine ganze
Reihe von grundlegenden Errungenschaften der Arbeiterbewegung rückgängig machen kann. Sie weicht nicht aus, sie verstärkt ihre Angriffe.
Kaum ein Tage vergeht ohne Provokationen. Premierminister Raffarin sagt: "Es ist nicht die Straße, die regiert."
Sozialminister Fillon will die Bewegung spalten: mit den Kompromissbereiten will er reden,
gegen die anderen schießt er die volle Breitseite ab. Er hat aber auch klargestellt, dass die Regierung keinen Spielraum für Kompromisse sieht. Die
Gewerkschaften müssen deshalb auch ihrerseits eine Schippe drauflegen. In den Belegschaften hat die Debatte darüber begonnen, in unbefristeten
Streik zu treten. Das wird vor allem eine Auseinandersetzung mit der CGT werden.
Bernhard Schmid, Paris
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04