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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 12

Zukunft ungewiss

Brigitte Kiechle über die innenpolitische Lage im Irak und die Ethnisierung der Konflikte

Nicht der Krieg, wohl aber die Kriegshandlungen, sind im Irak offiziell eingestellt. Über die innenpolitische Lage im Nachkriegsirak sprach die SoZ mit Brigitte Kiechle, Mitglied der Sozialistischen Linken Karlsruhe und Autorin des zu Beginn dieses Jahres im Schmetterling-Verlag erschienenen Buches Irak. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Mit dem Maßstab der Freiheit.

• Der Krieg gegen den Irak ist von den US-Amerikanern schneller errungen worden, als viele gedacht haben. Was sagt dieses schnelle Ende des Krieges über den inneren Zustand der irakischen Gesellschaft aus?

Brigitte Kiechle: Die Mehrheit der irakischen Bevölkerung war gegen den Angriffskrieg der USA und ihrer Verbündeter. Gleichzeitig bestand jedoch auch der berechtigte Wunsch nach einem Ende der Diktatur. Die Bevölkerung war nicht bereit, das Saddam-Regime zu verteidigen. Auch die Aggression von außen und die Appelle der irakischen Regierung, die "nationale Ehre des Irak" zu verteidigen, führten nicht mehr zu einer Mobilisierung der Bevölkerung. Ansonsten gibt es natürlich eine Vielzahl an Spekulationen, die das überraschende Ende der Kampfhandlungen von Seiten des irakischen Militärs und der Spezialeinheiten betreffen — ob es zu Absprachen zwischen den kriegführenden Parteien gekommen ist, oder di Möglichkeit einer Reorganisierung der alten Militärs.

• Die ehemals regierende Baath-Partei ist von der Militärverwaltung aufgelöst worden. Wie schätzt du die Wahrscheinlichkeit ein, dass deren Funktionäre den Übergang ins neue Regime schaffen?

Die Auflösung bedeutet zunächst einmal, dass die Parteiorganisation als solche verboten wurde, die Büros geschlossen wurden und dass die Partei also nicht auf Apparat, Infrastruktur und Vermögen zurückgreifen kann. Das bedeutet aber nicht, dass die Masse der Parteimitglieder, die bis zum Schluss der Partei die Treue gehalten haben, plötzlich nicht mehr existieren würde. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie sich die ehemaligen Anhänger der Baath-Partei in den politischen Neuformierungsprozess einbringen können, bspw. über Parteineugründungen.
Zentraler ist jedoch, dass die Militärverwaltung zwar die Baath-Partei verboten hat, aber gleichzeitig auf die Strukturen des alten Regimes und insbesondere auf das Personal im Sicherheitsbereich (Polizei, Sicherheitskräfte im Industriebereich usw.) und in der Verwaltung zurückgreifen, um im Interesse der Besatzungsmacht "Sicherheit und Ordnung" herzustellen. Dieser Sachverhalt ist ja bereits auf Unmut in der Bevölkerung gestoßen. Zum zweiten hat die Besatzungsmacht kein Interesse daran, dass sich im Irak politische Verhältnisse entwickeln, die tatsächlich auf der Selbstorganisation der Bevölkerung beruhen und wirklich demokratische Verhältnisse, im tatsächlichen Sinne des Wortes, geschaffen werden.
Die Besatzungsmächte wissen nur zu gut, dass eine solche Entwicklung nicht zu einer Regierung führen würde, die im Interesse der USA instrumentalisierbar wäre. Eine wirkliche Demokratisierung des Irak wird es deshalb mit den Besatzungsmächten nicht geben. Es könnte deswegen, langfristig betrachtet, für die Besatzungsmächte lohnender sein, zumindest auf einen Teil der alten Baath-Partei personell zurückzugreifen, mit der man ja auch früher sehr gut zusammengearbeitet hat.

• Die USA sind von der irakischen Bevölkerung als Befreiungsarmee akzeptiert worden, doch eine machtvolle, wenn auch noch eher zurückhaltende Opposition gegen die Besatzung ist bereits sichtbar. Wie lange, glaubst du, lässt sich die Mehrheit der irakischen Bevölkerung diese "Befreiungsbesatzung" gefallen?

Ich sehe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Besatzer als Befreiungsarmee empfangen wurden oder dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Besatzer als Befreier ansehen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Die Bevölkerungsmehrheit ist m.E., unabhängig von den politischen Zugehörigkeiten, der Auffassung, dass die politische Zukunft des Irak allein in den Händen der irakischen Bevölkerung liegen sollte. Sie fordert einen sofortigen Abzug der Besatzungskräfte.
Wenn Bush verkündet, die USA wollen der irakischen Bevölkerung zukünftig als "beständiger Freund" zur Seite stehen, weiß die irakische Bevölkerung sehr wohl, was sie erwartet: Eine Besatzungsmacht, die zur Durchsetzung ihrer Ziele auch nicht davor zurückschreckt, gegen Kritiker mit Gewalt vorzugehen. Bei Demonstrationen und Protestaktionen gegen die Besatzungsmacht wurden bereits mehrere Personen von US-Soldaten erschossen und verletzt.
Die sich als neue Kolonialherren aufspielenden Besatzer haben, auch bezogen auf die Alltagsprobleme der Bevölkerung, deutlich gezeigt, dass ihnen die irakische Bevölkerung und deren Befindlichkeiten ziemlich gleichgültig sind. Erneuerung der Infrastruktur, Sicherung der Lebensmittelversorgung, Versorgung mit Wasser und Strom, ausreichende medizinische Versorgung — all dies ist bislang nicht gewährleistet.
Die Besatzungsmacht hat dann auch noch zugesehen, wie soziale und kulturelle Einrichtungen geplündert worden sind. Geschützt haben die Besatzer nur sich selbst und die ihren wirtschaftlichen Interessen im Irak dienenden Objekte. Der Widerstand gegen die Besatzung hat bereits auf vielfältiger Ebene begonnen. Ein sehr wichtiges Element sind dabei die sich herausbildenden Selbstorganisationsstrukturen der Bevölkerung, die bereits in verschiedenen Stadtteilen von Bagdad sichtbar werden.

• Die sichtbarste und scheinbar machtvollste Opposition ist offensichtlich die schiitisch-religiöse Bewegung. Glauben wir den Berichten, so haben wir es dabei mit einer vergleichsweise gemäßigten, fast schon säkularisierten Religionsbewegung zu tun. Welchen Charakter hat diese schiitische Bewegung?

Man muss vor allem einen Unterschied machen zwischen der Religiosität der Bevölkerung und den politischen Parteien, die aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ein Programm für den Gesamtirak entwickeln und als islamistische Parteien einzuordnen sind. Die beiden großen politischen Parteien in diesem Spektrum, der Hohe Rat der islamischen Revolution im Irak und die DAWA-Partei vertreten beide eine Konzeption, die von einem Gottesstaat nach iranischem Vorbild ausgeht. Das ist die politische Zielsetzung. In der politischen Praxis nehmen sie das etwas zurück und versuchen, sich gemäßigt zu geben. Man wolle sich an einem Demokratisierungsprozess und an freien Wahlen im Irak beteiligen und im Rahmen des parlamentarischen Systems für seine politischen Ziele eintreten.
Bei der letzten Vorkriegskonferenz in London wurde eine Erklärung der dort vorhandenen Oppositionsparteien verabschiedet, in der explizit auf den Islam als Staatsreligion des zukünftigen Irak Bezug genommen wurde und gleichzeitig festgehalten wurde, dass die Sharia eine wesentliche Rechtsquelle für den zukünftigen Irak sein solle. Die Erklärung wurde z.B. auch — eine dramatische Entwicklung — von den kurdischen Parteien KDP und PUK unterzeichnet, also von nicht religiös orientierten Kräften.
Die aktuelle Auseinandersetzung bezüglich der Durchsetzungskraft islamistischer Strömungen im Irak halte ich einerseits für übertrieben, andererseits für untertrieben. Übertrieben wird m.E. der politische Einfluss der politisch-schiitischen Bewegung. Unzweifelhaft haben sie Masseneinfluss, aber sie repräsentieren nicht die Schiiten und sind auch nicht die stärkste Kraft. Es liegt u.a. auch im Interesse der Besatzungsmächte, die "islamistische Gefahr" zu überzeichnen, lässt sich dies doch gerade im Westen hervorragend zur Rechtfertigung der eigenen Präsenz benutzen. Andererseits wird der Einfluss der Islamisten untertrieben, wenn es bspw. um die Frauenrechte geht und die Gefahr einer zukünftigen Entwicklung nach rechts.
Die Besatzungsmächte versuchen, das scheint mir entscheidend, die Konfliktlinien entlang der ethnischen und religiösen Linien voranzutreiben. Auch die Militärzoneneinteilung ist ein solcher Hinweis. Der Konflikt im Irak war jedoch immer ein politischer. Es ging nicht darum, dass die Schiiten als Schiiten unterdrückt waren. Es war die politische Vertretung, der politische Islamismus, der unterdrückt wurde. Genauso war nicht der Kurde als Kurde unterdrückt. Es war der Kampf der Kurden um Autonomie als Teil des Kampfes gegen die Diktatur, um den es politisch ging und nicht die Frage der Volkszugehörigkeit als solche.

• Inwiefern kann man im Irak noch von existierenden linken Kräften sprechen? Wie stark ist die irakische KP?

Die Linke im Irak war durch die Repression des Baath-Regimes besonders hart betroffen und wurde bis an die Grenze der Existenz geschwächt. Einige Organisationen wie z.B. die KP Irak haben versucht, auch während der Saddam-Ära in der Illegalität im Irak weiterzuarbeiten und ein Minimum an Organisationsstruktur auch in der Illegalität aufrecht zu erhalten. Es findet nun ein Reorganisierungsprozess statt. Nach der Einstellung der Kampfhandlungen hat die KP im ganzen Land Büros eröffnet und ihre Zentrale wieder nach Bagdad verlegt. Als erste der früheren Oppositionsparteien hat sie eine Zeitung herausgegeben und zeigt sich in ihren Stellungnahmen überrascht über den Zuspruch, den sie mittlerweile erhält.

• Welches politische Programm vertritt sie und welchen Parteicharakter hat die KP?

Die Kommunistische Partei ist nach wie vor eine sozialistische Partei, die sich früher sehr stark an die Sowjetunion angelehnt hat. Das wird heute durchaus kritisch gesehen und diskutiert. Was die Zukunftsdebatte angeht, geht die KP m.E. etwas zu schematisch an die Prozesse heran, da sie die Frage der sozialistischen Alternative völlig zurückstellt und auf eine bürgerlich-demokratische Phase orientiert, in der sich die KP dann in Anerkennung des parlamentarischen Rahmens um politische Mehrheiten bemüht. Sie fordert die umgehende Durchführung freier Wahlen und den Abzug der Besatzungsmächte. Die wirtschaftlichen Ressourcen und politische Macht müssen nach Auffassung der KP in die Hände der Iraker übergehen. Der Besatzungsmacht wird jegliche Berechtigung abgesprochen.

• Welche sonstigen linken Kräfte gibt es?

Es gibt eine Vielzahl kleiner sozialistischer und kommunistischer Parteien, die zumeist aus historischen Abspaltungen von der KP entstanden sind. Eine der in der BRD bekannteren Gruppen ist bspw. die Arbeiterkommunistische Partei, die nun ebenfalls in mehreren Städten des Irak ihre Arbeit aufgenommen hat.

• Auch die Kurden im Nordirak vermeiden bisher jeden offenen Separatismus und geben sich konstruktiv. Siehst du hier eine Gefahr der Radikalisierung?

Die Hoffnungen der kurdischen Bevölkerung auf eine weitergehende Autonomie in einem demokratisch-föderativen Irak sind bisher eher enttäuscht worden. Ein Mehr an Autonomie hat die Unterstützung der USA durch die großen Kurdenparteien PUK und KDP bisher nicht gebracht. Im Gegenteil, die Besatzungsmacht besteht ja für den gesamten Irak, also auch für die ehemalige kurdische "Schutzzone". Auch in den kurdischen Gebieten wird es sicherlich zu politischen Umgruppierungen kommen. Es bleibt abzuwarten, ob es PUK und KDP auch in der Nach- Saddam-Ära gelingen wird, ihren bisherigen Masseneinfluss aufrechtzuerhalten.

• Wie siehst du die innerirakischen Perspektiven der nächsten und übernächsten Zeit?

Einerseits ist deutlich geworden, dass die Besatzungsmächte ihre Besatzung solange aufrechterhalten werden, bis sie eine nach ihren Vorstellungen arbeitende Regierung eingesetzt oder zugelassen haben, die langfristig ihre Interessen vertreten wird. Insofern ist die Frage der Besatzungsdauer nicht richtig einzuschätzen. Hier werden ja Zeiträume genannt zwischen ein bis drei Jahren mit einer anschließenden Protektoratszeit. Das ist offen und wird natürlich davon abhängen, inwieweit der bereits begonnene Widerstand vereinzelt bleibt oder tatsächlich in der Lage ist, die Mehrheit der Bevölkerung zu mobilisieren und wirkliche Formen der Selbstorganisation zu entwickeln, die sich gegenüber der Besatzungsmacht behaupten können.

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