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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 16

Lula und die Arbeiterbewegung

Kompliziertes Neuland

Der Wahlsieg und Regierungsantritt der PT (Arbeiterpartei) stellt die brasilianische Arbeiterbewegung vor große Herausforderungen, die sicherlich auch die Debatte über das Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und linken Regierungen belebt. Zum ersten Mal macht die brasilianische Arbeiterbewegung die Erfahrung einer linken Regierung unter Führung einer Partei, die aus ihr selbst hervorgegangen ist. Was kann die Arbeiterbewegung von dieser Regierung erwarten und wie sollte sie mit ihr umgehen?

Die Arbeiterbewegung hat eine lange Geschichte in Brasilien, die ihren Höhepunkt Ende der 70er Jahre erreichte. Die Generalstreiks gegen Ende der Militärdiktatur trugen dazu bei, dass 1982 die CUT, der größte Gewerkschaftsdachverband Lateinamerikas, gebildet wurde. Auch die Landlosen (MST) und Kleinbauern verstärkten ihre Organisation in der Periode, die durch den Niedergang der Diktatur und das Wiederaufleben der Linken gekennzeichnet war.
Die PT entstand 1980 und wurde von diesem sozialen Zustand geprägt, wobei Gewerkschaftsaktive, Teile des fortschrittlichen Flügels der Kirchen und verschiedene marxistische Gruppen sich am Aufbau der Partei beteiligten. In den 80er Jahren war der Politisierungsgrad in Brasilien sehr hoch, und die Arbeiterbewegung erkämpfte bedeutende Errungenschaften, die teils in der Bundesverfassung von 1988 offiziell anerkannt wurden.

Arbeiterbewegung in der Defensive

Die 90er Jahre waren im Gegensatz dazu die Periode der politischen Verluste für die Arbeiterbewegung. Die neoliberale Politik, die von Fernando Collor de Mello und Fernando Henrique Cardoso durchgeführt wurde, veränderte die Lage der Arbeitenden so sehr, dass fast nur noch die Erhaltung der Arbeitsplätze im Mittelpunkt der Kämpfe stand. Durch die Privatisierung öffentlicher Güter, die zunehmende Erwerbslosigkeit und den Rückgang der Reallöhne wurden die meisten Gewerkschaften demobilisiert und die Zahl der Streiks allmählich reduziert.
In diesem Kontext entstand parallel zur CUT die Força Sindical (FS) als Gewerkschaftsbund, die ein neues Konzept gewerkschaftlicher Orientierung in Brasilien einführte: die sog. auf Ergebnisse bezogene Gewerkschaftspolitik. Die FS kritisierte die politische Beziehung der CUT zur PT, unterstützte die Privatisierungspolitik von Collor (sogar der Arbeitsminister dieser Regierung war ein Anhänger der FS) und Cardoso und erreichte im Einverständnis mit der Unternehmerseite Erfolge, die den abhängig Beschäftigten als Ergebnisse eines auf Konsens basierenden modernen Handelns verkauft wurden.
Die CUT wurde konzeptionell und in ihrer Organisationskraft schwächer. Unschlüssige Haltungen des Vorstands bei verschiedenen Gelegenheiten, eine Entpolitisierung der Arbeitenden und die fortgesetzte Kapitaloffensive führten zur Krise der Arbeiterbewegung. Viele Organisationen verzichteten auf Grundsätze, die in den 80er Jahren noch als entscheidender Fortschritt galten. Basisdemokratie, Erneuerung des Vorstands, Einheitsstruktur, strategische Planung, Generalstreiks und politisches Bewusstsein wurden immer unbedeutender. Die meisten Kämpfe wurden isoliert voneinander isoliert geführt. Die Ergebnisse waren entsprechend bescheidener und demotivierte viele Arbeiter, sich an diesen Bewegungen zu beteiligen. Trotzdem gibt es in Brasilien 20000 offiziell registrierte Gewerkschaften, und die CUT war nach wie vor der wichtigste gewerkschaftliche Dachverband Lateinamerikas geblieben.
Die enttäuschende Entwicklung der Arbeiterbewegung in den 90er Jahren hatte auch Auswirkungen auf die Politik und die PT. Während die Partei Wahlerfolge besonders auf kommunaler Ebene erzielte, erlitt sie zugleich eine politisch- programmatische Rückentwicklung. Die Mehrheit der PT legte ihre ursprünglichen sozialistischen Konzeptionen ab und stellte im letzten Wahlkampf (2002) einen Sozialpakt mit Teilen des kapitalistischen Bürgertums für die brasilianische Gesellschaft vor, mit dem proklamierten Ziel, damit das Land produktiv und sozial zu entwickeln.
Wegen der fast totalen Abhängigkeit von den ausländischen Krediten sind die Spielräume der Lula-Regierung sehr gering. Um ein Chaos zu verhindern, hat sich die Regierung gedrängt gefühlt (bereits während des Wahlkampfs liefen entsprechende Verhandlungen), Verträge mit dem IWF abzuschließen, um danach schrittweise unabhängige Alternativen zu entwickeln.
Die Entwicklung der PT und der Arbeiterbewegung ist also parallel verlaufen, sowohl in ihrem Aufstieg als auch in ihrer Krise. Neu ist nun, dass die PT nach drei vergeblichen Anläufen endlich führende Partei in der brasilianischen Bundesregierung geworden ist, während die Arbeiterbewegung weiter in einer Krise steckt. Der Wahlsieg darf deswegen nicht mit einer Übernahme der Macht durch die Arbeiterbewegung verwechselt werden.

Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse

Die Wahlen wurden zwar gewonnen, doch wurden dadurch noch nicht die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft entscheidend zugunsten der Arbeitenden geändert. Eine solche Veränderung kann eine gewählte Regierung allein überhaupt nicht bewirken. Es handelt sich auch nicht einfach um den Willen dieser Regierung oder der Parteimehrheit, weil das Problem tiefer liegt: Wieweit hat die Lula-Regierung soziale Unterstützung in der Gesellschaft, damit sie die wichtigsten anstehenden Veränderungen umsetzen kann?
Es scheint so, dass bedeutende Fortschritte wie die Landreform, die Umkehrung der Prioritäten bei den öffentlichen Ausgaben, die Wiederverstaatlichung wichtiger Unternehmen und ein Zahlungsstopp bei den längst mehrfach zurückgezahlten Auslandschulden nur durch eine Mobilisierung breiter Teile der Bevölkerung durchgesetzt werden können. Und in dieser Hinsicht spielt die Arbeiterbewegung gegenüber dieser Regierung eine wichtige Rolle, sowohl um sie politisch zu unterstützen als auch um sozialen Druck auszuüben, damit sie diesen historischen Positionen der PT gerecht wird, die im Wahlprogramm kaum vorkommen.
Die Lula-Regierung vertritt die Interessen der Arbeiter und wurde deshalb von den linken Bewegungen und Organisationen im Wahlkampf unterstützt. Auch nach der Wahl änderte sich im Wesentlichen nichts an dieser Position. Trotzdem besteht die Gefahr, dass eine Regierung ihre Richtung wechseln kann. Und das Komplizierte an der Lula-Regierung ist eigentlich ihre Zusammensetzung, die ein breites ideologisches Spektrum umfasst und sie als widersprüchlich erscheinen lässt. Aber so, wie die Positionen in der Arbeiterbewegung und in der PT auch immer gegensätzlicher geworden sind, muss auch um den Kurs der Lula-Regierung gekämpft werden.
Es bestehen zwei große Risiken: Erstens kann die Lula-Regierung die Erwartungen der Bevölkerung enttäuschen und damit die Niederlage der Linken vorbereiten, wenn sie nicht fähig ist, die versprochenen Veränderungen in der brasilianischen Gesellschaft durchzuführen. Zweitens kann sie von der neoliberalen Politik in eine Sackgasse geführt werden, sodass sie von den Interessen des Kapitals erfasst wird und keine andere Alternative hat als in dessem Sinne zu regieren.
Um beides zu verhindern, kommt der Arbeiterbewegung eine entscheidende Rolle zu. Eine intelligente, beharrliche und verantwortungsvolle Kritik von links unten kann die Tendenz zur Bürokratisierung eindämmen, sodass die Gefahr der kapitalistischen Vereinnahmung geringer wird. Auf der anderen Seite ist die Mobilisierung der Zivilgesellschaft für diese Regierung sehr wichtig, da nur mit ihr die Regierung fähig ist, die Erwartungen der Bevölkerungsmehrheit zu erfüllen. In dieser Hinsicht ist die Verantwortung gegenüber dieser Regierung enorm. Sektierisch "links" orientierte Aktionen können genauso gefährlich sein wie die nur auf die Verteidigung der Regierung gegen "rechts" gegründeten Aktionen, denn beides kann dazu führen, dass die Regierung sozial isoliert wird und sich ausschließlich von der Popularität Lulas abhängig macht.
Die große Herausforderung besteht darin, die Erwartungen jeder Bewegung mit dem Aufbau einer neuen Machtperspektive der Linken zu kombinieren, wofür sowohl die Regierung als auch die soziale Basis der organisierten Arbeiterbewegung sich einsetzen müssen. Der Ausgang dieses Prozesses bleibt jedoch weiter offen.

Antônio Inácio Andrioli

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