SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 18

Ein italienischer Blick auf Johannes Agnoli

‘Stets ironisch, stets scharfsinnig‘

Auch in seiner Heimat Italien sind Leben und Werk Johannes Agnolis gewürdigt worden. Der Nachruf der linken Tageszeitung Il Manifesto bietet biografische Einsichten, zeigt aber auch im ersten Absatz einen besonderen italienischen Blick auf die deutsche Linke.

Johannes Agnoli hat uns verlassen. Am 4.Mai beendete ein Infarkt das Leben des deutschen 68er Philosophen, des einzigen marxistischen Denkers Westdeutschlands, der eine theoretische Reflexion hinterlassen hat. Wie man weiß, waren Adorno und Habermas gegenüber der 68er Bewegung sehr feindselig eingestellt, Dutschke wurde das Opfer eines Attentats, Cohn-Bendit hat nie etwas Relevantes geschrieben, und andere junge Radikale endeten im Strudel des Terrorismus der Rote-Armee-Fraktion, einer Gruppe um Andreas Baader, den Johannes als "Abenteurer" bezeichnete.
Als Professor der Freien Universität Berlin setzte sich Johannes Agnoli stattdessen dafür ein, den Marxismus zur Aufklärung über die zeitgenössische Wirklichkeit zu benutzen, und dies in einer intellektuell kohärenten Weise. In seinen Büchern, wie der Transformation der Demokratie, findet sich nicht eine Spur von Opportunismus oder von der Absicht, die eigenen Analysen dem anzupassen, was als politisch machbar betrachtet wurde. Im Gegenteil, Agnoli gebrauchte den Marxismus, um unbarmherzig die Machtverhältnisse im Nachkriegsdeutschland zu analysieren.
Ein Marxismus, der in den letzten Jahren vielen als "steinzeitlich" vorkam: Der Romantizismus der Grünen bspw. gefiel ihm überhaupt nicht, er sah darin ein theoretisch naives und politisch belangloses Denken. In Wirklichkeit war sein Marxismus Kind der deutschen philosophischen Tradition und somit einer intellektuellen Schule, die Pfuscherei nicht duldet; er war die Frucht einer Bildung, die philosophische Strenge als Voraussetzung betrachtet und nicht als Last, von der es sich zu befreien gilt.
Johannes hatte seine geistigen Waffen an zwei Orten geschärft: im Gefangenenlager und in Tübingen. Diese Geschichte verdient es, mit seinen Worten erzählt zu werden: "Ich war verwundet, und im April 1945 haben mich die Neuseeländer gefangen genommen." Der 17-jährige Südtiroler Agnoli Giovanni hatte sich zur unrechten Zeit freiwillig zur Wehrmacht gemeldet: im Frühjahr 1945. Sein Krieg endete, bevor er recht begonnen hatte, mit der Überführung in ein englisches Gefangenenlager in Ägypten. Dort besorgte sich der an der Philosophie interessierte Schüler auf wunderbare Weise Bücher und gab, um die Zeit totzuschlagen, seinen Mitgefangenen Unterrichtsstunden. "Ich habe Deutsch mit Hegel und Fichte gelernt", erzählte er, "sodass ich, als ich nach meiner Freilassung nach Deutschland ging, große Schwierigkeiten hatte, Brot und Milch zu kaufen…"
Erst 1948 in die Heimat zurückgekehrt, wurde Johannes Arbeiter in Deutschland. "Ich arbeitete in einem Sägewerk und mein Arbeitskollege war ein alter Kommunist, der als einer der ersten im Dritten Reich ins KZ kam. Für mich ist er ein Lehrer gewesen, eine grundlegende politische Erfahrung." Dank der monatlichen 40 Mark, die er als Kriegsheimkehrer erhält, schreibt er sich an der Tübinger Universität ein. "Mittags gab es eine Suppe in der Mensa. Abends machte ich mir auf meinem Zimmer ein Omelett: Wir hatten Eier und Milch in Pulvern von den Amerikanern bekommen."
Das Philosophiestudium sollte eigentlich vier Jahre dauern, aber nach zwei Jahren schreibt Johannes in einem Brief an seine Professoren, dass er alles gelernt habe, was zu lernen sei, und sie ihm bitte doch sofort das Diplom verleihen sollten. Und das geschieht auch. Er findet auch eine Assistentenstelle an der Universität Köln, wo er sofort berühmt wird, weil er die Preisgabe des Marxismus durch die SPD kritisiert und weil er sich, im äußerst katholischen Rheinland, zum Atheismus bekennt. Er wird entlassen und lässt sich nach einigen Widrigkeiten in Berlin an der Freien Universität nieder, die er nicht mehr verlassen wird.
1968 ist "sein" Jahr: In Berlin protestieren die Studenten schon 1967 gegen den Shah- Besuch und gegen den Krieg in Vietnam. Im Verlauf dieser Demonstrationen wird ein Student, Benno Ohnesorg, von der Polizei getötet: die Bewegung radikalisiert sich. Es beginnt die Kampagne gegen die Zeitungen Springers, des deutschen Berlusconi. Johannes und Rudi Dutschke stehen an vorderster Front bei der Organisierung der Proteste. Auf dem Vietnamkongress im Februar 1968 leiten der Dramatiker Peter Weiss und Johannes Agnoli die Arbeiten des Kongresses.
Es erscheint der erste Bucherfolg, Die Transformation der Demokratie, zusammen mit Dutzenden Artikeln in akademischen Zeitschriften, aber auch in Tageszeitungen wie der FAZ oder der Frankfurter Rundschau. 1975 erscheinen Überlegungen zum bürgerlichen Staat zusammen mit zahlreichen Beiträgen in Sammelwerken. In Deutschland ist Johannes eine Berühmtheit, teils wegen der Radikalität seiner Positionen, teils wegen seiner komödiantischen Ader: Nichts amüsiert ihn mehr, als sich nach jeder Verhaftung (und davon gibt es einige) allein zu verteidigen und ständig von den Richtern freigesprochen zu werden, denen er im Gerichtssaal den Text des Grundgesetzes vorliest.
In den letzten Jahren zog er sich mit seinen Büchern in die Toskana zurück. Er hatte nicht mehr viel geschrieben, aber Dutzende Interviews auf deutsch gegeben. Stets ironisch, stets scharfsinnig, stets intelligent. Er wird uns fehlen.

Fabrizio Tonello

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