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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 19

Deutscher Arbeiterschachbund 1912

Die Reinheit der Klassenbewegung

Schach ist ein Brettspiel ohne Glücksfaktor mit Ausnahme des Anzugsvorteils von "Weiß" (rund die Hälfte der Partien wird mit "Weiß" gewonnen, 30% mit "Schwarz", während 20% "Remis" sind, also unentschieden ausgehen). Die Komplexität des Spiels ist unumstritten, gerade auch im Zeitalter der immer leistungsfähigeren Schachprogramme, die trotz ungeheurer Rechenkapazität der Computer, trotz Speicherung einer riesigen Zahl von Stellungen und trotz raffinierter Einverleibung massenhafter Spielerfahrung und vielfältigen menschlichen Expertenwissens in die Software das Spiel bei weitem nicht erschöpft haben. "Mühle" oder "Dame" sind "ausgerechnete" Spiele, im Schach sind die elektronischen Blechköpfe (seit kurzem) erst so weit, alle optimalen Züge bei verbliebenen beliebigen sechs Spielsteinen angeben zu können — zwischen diesem "Sechssteiner" und dem irgendwann kommenden "Siebensteiner" liegt nochmal eine kleine technische Revolution.
Da Schach mit 32 Steinen gespielt wird und die Zugmöglichkeiten die wissenschaftlich angenommene Zahl der Elementarteilchen im Weltall bei weitem übersteigt (sogar die Zahl der sinnvollen Züge bewegt sich in unwägbar astronomischen Bereichen), sind der Entfaltung menschlicher Kreativität auch auf höchstem Spielniveau in diesem äußerlich so bescheidenen Spiel keine wirklichen Grenzen gesetzt.
Schach steht damit nicht allein auf der Welt, sondern symbolisch für jene Art von Spielen, die Denken, Konzentration und Vorstellungskraft in hohem Maße stimulieren. Von den chinesischen und koreanischen Variationen des Schachs abgesehen, die mindestens so reizvoll und reich an Möglichkeiten sind wie das Westschach nach den Regeln des Weltschachverbands FIDE, ist etwa das japanische Go-Spiel noch viel komplexer als das Schachspiel (und sein Regelwerk noch einfacher). Emmanuel Lasker (Schachweltmeister von 1894 bis 1921), bekannt für seine Vielseitigkeit, pflegte eine Reihe von "Denkspielen", auf Brettern und mit Karten, so auch das Go. Er spielte sogar Go- Partien per Korrespondenz mit führenden japanischen Meistern. Auf die Frage eines Zeitungsjournalisten, inwieweit er das Go-Spiel beherrsche, antwortete der betagte Lasker, er habe nach 50 Jahren Spielpraxis einen guten Einblick in die taktischen Probleme dieses Spiels, während dessen Eröffnungstheorie und Strategie weitgehend ein Buch mit sieben Siegeln für ihn geblieben seien.
Voraussetzung dafür, sich in diese Art von Spielen zu versenken, ist viel freie Zeit. Der edle Müßiggang ist nicht nur aller Laster Anfang, sondern auch aller Tugend. Schachspieler rekrutierten sich also zunächst aus jenen herrschenden Klassen, denen die Verfügung über das gesellschaftliche Mehrprodukt das Privileg verschaffte, ihre wache Zeit nicht mit der Produktion von Lebensmitteln auszufüllen. Im modernen Kapitalismus wurde Schach von einer Sache des Adels samt seiner Hofnarren zu einer Sache des Bürgertums samt seiner Boheme. Die sozialistische Arbeiterbewegung, angetreten im Bestreben, die Früchte der gesellschaftlichen Arbeit allen zugute kommen zu lassen, entwickelte ihrerseits von unten die Ansätze einer proletarischen Gegenwelt, in der zumindest in der kargen Freizeit die künftige freie Selbstentfaltung antizipiert werden sollte. In diesem Rahmen entstand auch eine Arbeiterschachbewegung.
Nach mehreren gescheiterten Anläufen traten am 7. und 8.April 1912 in Nürnberg die Delegierten diverser Arbeiterschachvereine zusammen, um den Deutschen Arbeiterschachbund zu gründen. Diese Konferenz war nicht eitel Harmonie, sondern Schauplatz leidenschaftlicher Kontroversen zum Klassencharakter der Bewegung, die teils mit bürokratischen Haken und Ösen ausgefochten wurden. Um ein Haar wäre die Gründung des Verbands daran gescheitert.

"Edelste Unterhaltung"

Robert Oehlschläger aus Berlin war Autor des Statutenentwurfs und designierter Präsident des Verbands. Anderen Schachfreunden erschienen seine Positionen als zu eng, und daher wurde ein kontroverses Ko-Referat zu seinem einleitenden Beitrag verlangt. Doch gelang es dem Genossen Oehlschläger, dieses aufmüpfige Ansinnen zu Beginn der Veranstaltung niederstimmen zu lassen. Stattdessen hielt er das einzige einleitende Referat, das zum Ausgleich dafür zwei Stunden dauerte. Natürlich fing er bei Adam und Eva an, bei den Anfängen des Schachspiels überhaupt und bei den Ursprüngen der Arbeiterschachbewegung im Besonderen. Über die von ihm dargelegten allgemeinen Motive für die Schaffung einer Arbeiterschachbewegung waren sich alle einig. Schachspielen sei für die Proletarier die edelste und zugleich billigste Unterhaltung. Damit könne das geisttötende Glücksspiel ebenso wie der Alkoholgenuss zurück gedrängt werden.
Ein Anschluss an die "bürgerlichen" Vereine komme nicht in Frage. Auch das war nicht umstritten. Oehlschläger verlangte aber nicht nur gleichzeitige Mitgliedschaft jedes Mitglieds eines dem Arbeiterschachbund angeschlossenen Vereins in Gewerkschaft und sozialdemokratischer Partei, sondern auch die Verabschiedung eines Passus in den Statuten, der die Mitgliedschaft von Kleinbürgern und Kleingewerbetreibenden ausschließt. Nicht nur sei die genaue Grenze zwischen kleinem und größerem Bürger schwer zu ziehen, vor allem seien es doch gerade die Krämer und Kleingewerbetreibenden, die immer gegen Streiks und gegen die Arbeiterbewegung im Klassenkampf hetzen. Wenn, so fügte er hinzu, die Delegierten nicht bereit seien, sich klar und eindeutig auf den Standpunkt der modernen Arbeiterbewegung zu stellen, dann stehe die Gründung des Verbands selbst in Frage.
Schachfreund Deininger aus München, dem ein Koreferat versagt geblieben war, sprach doch nach dieser Einleitung als erster zur Diskussion. Er wies darauf hin, dass ein ganzer Teil der SPD-Mitglieder nicht gewerkschaftlich organisiert sei. Warum soll der Arbeiterschachverband engherziger konstituiert sein als die Arbeiterpartei selbst? Und sei es nicht gut, wenn Kleinbürger eher von den Arbeiterschachvereinen angezogen würden als von den bürgerlichen Schachvereinen? Auch die proletarischen Turn- und Gesangvereine hätten schließlich nicht so eng gefasste Statuten. Als Sozialdemokrat werde niemand geboren, man könne es in der Bewegung werden. Darum gehe es erst recht nicht an, einen Kleinbürger von der Mitgliedschaft auszuschließen, der die sozialdemokratischen Anschauungen teile, von seiner sozialen Lage her aber nicht gewerkschaftlich organisationsfähig sei.
Die Gemüter waren erhitzt, oh ja! Oehlschläger war drauf und dran, die ganze Versammlung ergebnislos hochgehen zu lassen. In einer Probeabstimmung sprachen sich aber alle Delegierten dafür aus, den Verband auf jeden Fall hier und heute zu gründen. Eine Mehrheit folgte aber im Wesentlichen den Ausführungen des Genossen Deininger zu den Mitgliedschaftskriterien. Doch konnte ein so wichtiger Genosse wie Oehlschläger nicht einfach überstimmt werden. Die streitenden Parteien zogen sich daher zur Verhandlung zurück, und als Ergebnis der Beratung diverser Kommissionen und Unterkommissionen wurde den Delegierten schließlich ein Kompromissvorschlag präsentiert, der am zweiten Tag dann auch mit Mehrheit verabschiedet wurde. Oehlschläger konnte durchsetzen, dass Mitgliedschaft in Gewerkschaft und SPD Voraussetzung für die Mitgliedschaft in Arbeiterschachvereinen wurde. Die ausdrückliche Ausgrenzung des kleinbürgerlichen Elements jedoch wurde durch einen Passus ersetzt, der nun wie folgt lautete: "Von der Aufnahme ausgeschlossen sind Personen und Vereine, die Gegner der Ziele und Bestrebungen der modernen Arbeiterbewegung sind." Die Gründung des Deutschen Arbeiterschachbunds war am 8.April 1912 jedenfalls glücklich vollzogen.
Wir so sehr spät Geborenen lesen derlei mit Schmunzeln und Melancholie zugleich. So hart haben diese Männer der deutschen Sozialdemokratie um die Klassenreinheit der proletarischen Schachbewegung gerungen! Und dies, vergessen wir es nicht, bevor die Sozialdemokratie zwei Jahre später mit Sack und Pack ins Lager nicht etwa bloß des Klein-, sondern gar des Großbürgertums übergegangen ist. Das weitgehend sublimierte Kriegsspiel nach dem Bild antiker indischer Heere mit Elefanten, Streitwagen, Reitern und besonders bedauernswerten Infanteristen musste klassenrein proletarisch gepflegt werden, während im wirklichen Krieg die Proletarier aller Länder sich gegenseitig umbringen mussten im Interesse der "eigenen" imperialistischen Bourgeoisie!
Und heute? Eine Arbeiterschachbewegung gibt es nicht mehr, wie überhaupt die ganze "Gegenwelt" der traditionellen Arbeiterbewegung verschwunden ist — in Deutschland übrigens aufgrund einer bewussten Entscheidung der sozialdemokratischen Führung nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Unterscheidung zwischen bürgerlichen und proletarischen Schachvereinen gibt es nicht mehr, wie ja auch die Unterschiede der Politik von CDU und SPD bis zur Unkenntlichkeit eingeebnet sind. Mein eigener Verein übrigens, der Deutz-Kalker Schachverein, leitet sich von seinem älteren Zweig her mit dem Kalker Arbeiterschachverein von der Arbeiterschachbewegung ab. Was nicht heißen soll, es würde bei den Vereinsabenden keinerlei Bier getrunken.
Das heutige Schach steht, wie alle Bereiche des Lebens, unter dem entzivilisierenden Druck der neoliberalen bürgerlichen Offensive. Sponsorentum ist an die Stelle durchsichtiger und vernünftiger Finanzierung getreten. Im Bemühen, die aufgrund kommerzieller Extravaganzen gespaltene offizielle Schachwelt wieder zu vereinen (die Garri Kasparow durch Gründung des Unternehmens "Braingames" zertrümmert hatte), olympische Disziplin zu werden und an mehr Geld heranzukommen, sind sogar die Spielregeln bereits geändert worden. Das betrifft vor allem die Bedenkzeit. Auch und gerade im Spitzenschach wird die Bedenkzeit verkürzt, weil man sich davon mehr angebliche "Spannung", sprich mediale Wirkung und pekuniäre Verwurstbarkeit erhofft.
Uneingeweihte werden entgegnen, es sei dies alles egal, denn man könne, Besitz eines Brettes, Spielsatzes und einer Schachuhr vorausgesetzt, spielen wie man wolle. Diese Leute ahnen nicht, was das Schaffen der Spitzenspieler für die breite Masse des schachlichen Fußvolks bedeutet, zu der ich selbst mich rechnen darf. Die Partien der Großen des Schachs werden nachgespielt und sind in einem Erziehungsmittel, Quelle der Inspiration und der Unterhaltung auf höchstem Niveau für uns.
Die verkürzte Bedenkzeit bei der jüngsten FIDE-Weltmeisterschaft, die der erst 18-jährige Ponomarjow gewann, führte dazu, dass Partien durch "Überseher" und taktische Fehler verloren gingen, die auf niedrigerem Niveau zum Alltag gehören. Wenn es nur noch um die sportliche Form geht, verlieren die Partien an schachlichem Reiz, an schachtheoretischer und schachpädagogischer Bedeutung.
Im Übrigen färbt der Spielstil im Spitzenschach stets auf das Breitenschach ab, und die verschiedenen Ebenen schachlichen Treibens unterliegen in mancherlei Hinsicht ähnlichen Trends (auch in der Kreisklasse ist die Bedenkzeit um eine halbe Stunde gekürzt worden). Eine Schachpartie auf egal welchem Niveau bedeutet, wenn sie das Können der Beteiligten ausdrücken soll, einen ganzen Abend oder einen Tag. Doch im heutigen Vereinsalltag spielen Kurz- und Blitzpartien eine große Rolle. Man "erlebt" auf diese Weise sehr viel mehr, entwickelt sich aber nicht weiter, weil man die Erfahrungen einer Partie, die nur wenige Minuten dauert, nicht verarbeiten kann.

Männerdomäne?

Wer über Schach schreibt darf über Sexismus nicht schweigen. Es gibt eine Bundesliga für Frauen, Titel wie WGM (Weibliche Großmeister) und Weltmeisterinnen, während "gemischte" Wettbewerbe von Männern dominiert werden. Kruder Maskulinismus äußerte lange Zeit offen die Ansicht, Frauen spielten schlechter Schach als Männer, vielleicht weil sie kleinere Köpfe haben. Doch Elefanten haben größere Köpfe als Menschen und doch im Schach bislang nicht viel zuwege gebracht. Es bedurfte nicht des "Experiments" von Papa Polgar, der seinen drei Töchtern vom zartesten Alter an Schach eingebimst hat, wodurch sie alle zu Spitzenspielerinnen wurden, wobei Judit Polgar sogar auf dem Niveau der Top Ten spielt.
Der wirkliche Grund dafür, warum Schach wesentlich Männerdomäne geblieben ist, liegt einfach darin, dass Männer und Jungs der verschiedenen Kulturkreise und Klassen stundenlang herumhängen und spielen (z.B. eben Schach), während Frauen und Mädchen dies nicht tun, sei es, weil es "sich nicht schickt", sei es, dass sie anderes zu tun haben. Dahinter steckt also bloß die geschlechtsspezifische soziale Arbeitsteilung zuungunsten der Frauen.
In einer befreiten Gesellschaft wird das anders sein, und so ist dem Schach wie anderen "zweckfreien" und überdies materiell unaufwendigen wundervollen (weil uns ganze Welten erschließenden) Tätigkeiten eine große Zukunft jenseits von kapitalistischer Klassengesellschaft und Patriarchat sicher. Der gegenwärtig oft zum Schach gehörende technische Schnickschnack ist in hohem Maße der kapitalistischen Unart geschuldet, alles zur Ware und zum Mittel des Geldscheffelns zu machen. Und was den Kampf betrifft, das Gewinnen wollen, so ist er nur ein Aspekt dieses Spiels, das zugleich Kunst und Wissenschaft, sportlichen Wettkampf und selbstvergessene Versenkung bedeutet.
Außer einem Wettkampf ist Schach auch die "Suche nach der Wahrheit" auf dem Brett. Das hält auch philosophisch gesehen zu einer gewissen Demut an. Immerhin handelt es sich nur um 64 Felder, 32 Klötzchen und ein Regelwerk, das sich auf wenigen Seiten formulieren lässt. Und doch ist für uns schon diese kleine Kunstwelt unerschöpflich. Wieviel mehr die wirkliche Welt!

Manuel Kellner

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