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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 21

Aufstand der Vernunft

Alan Woods/Ted Grant: Aufstand der Vernunft. Marxistische Philosophie und moderne Wissenschaft, Wien: Promedia, 2002. 512 Seiten, 42,90 Euro

Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Produktivkräfte hat im 19.Jahrhundert zu einer rasanten Entwicklung der Technik und der Naturwissenschaften geführt. Karl Marx und Friedrich Engels schenkten dem Fortschritt und den Errungenschaften dieser Bereiche große Aufmerksamkeit. Friedrich Engels nannte als hervorragendste Meilensteine des Triumphzuges der Naturwissenschaften drei große Entdeckungen: die der organischen Zelle, des Gesetzes von der Erhaltung und Umwandlung der Energie und der biologischen Entwicklungstheorie durch Darwin.
Über das Hauptwerk von Charles Darwin, Der Ursprung der Arten (1859), vermerkte Marx: "Obgleich grob englisch entwickelt, ist dies das Buch, das die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht enthält." In Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und in Anknüpfung an Hegel bemühte sich vor allem der spätere Engels um eine allgemeine Philosophie der Wissenschaften in einer "materialistischen Dialektik".
Die Frage nach der Aktualität der philosophischen Arbeiten Friedrich Engels‘ markiert den Ausgangspunkt des 1995 erstmals im englischen Original erschienenen Buches der britischen Trotzkisten Alan Woods und Ted Grant. Engels hatte Dialektik als "die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens" charakterisiert. In seinen unter dem Titel Dialektik der Natur herausgegebenen Manuskripten stützte er sich auf die fortgeschrittensten wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit, um zu zeigen, "dass es in der Natur in letzter Instanz dialektisch … hergeht". Die Autoren des vorliegenden Buches sind überzeugt, dass die wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen des 20.Jahrhunderts einen schlagenden Beweis dafür liefern.
Aufstand der Vernunft soll daher ein Versuch sein, die grundlegenden Ideen marxistischer Philosophie zu erklären und deren Verhältnis zu den Positionen moderner Wissenschaft und Philosophie darzustellen. Im dialektischen Materialismus sehen Woods/Grant die grundlegende Methode des Marxismus, deren Anwendung auf die Untersuchung der Entwicklung der Gesellschaft den historischen Materialismus und auf den Bereich der Ökonomie die marxsche Arbeitswerttheorie hervorgebracht hätte. Die Darstellung dieser Bereiche soll weiteren Publikationen vorbehalten bleiben.
Die Stärken und Schwächen von Aufstand der Vernunft lassen sich u.a. auf das aktuell-politische Interesse zurückführen, das dieser Arbeit zugrunde liegt: die Kritik reaktionärer Ideologien in den Naturwissenschaften und an den sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Forschung. Das Themenspektrum reicht dabei vom Urknall bis zum Ursprung menschlichen Lebens, von der Religion bis zur Relativitätstheorie, von der Quantenmechanik bis zur Genetik. Im Bereich der Genetik etwa werden (vorgeblich) wissenschaftliche Theorien dazu gebraucht, um zu "beweisen", dass Kriminalität von "kriminellen Genen" und nicht vom sozialen Umfeld abhängig sei; dass bestimmte Minderheiten nicht aufgrund von Diskriminierung, sondern wegen ihres genetischen Aufbaus benachteiligt wären — ähnlich wird die untergeordnete Stellung von Frauen gerechtfertigt, usw. Im Bereich der theoretischen Physik und der Kosmologie werden Modelle der "Urknalltheorie" benutzt, um die Existenz eines Schöpfers zu rechtfertigen. In dieser ideologiekritischen Untersuchung, die das ausdrückliche oder unausdrückliche Einbezogensein wissenschaftlicher Konzeptionen in einen umfassenden theoretisch- praktischen Wirkzusammenhang überprüft, liegt die Stärke des Buches.
In ihrem Anspruch die Philosophie des Marxismus darzustellen, und damit die Methode des dialektischen Materialismus, die für das Verständnis des Marxismus unerlässlich sei, reiht sich die Arbeit von Grant und Woods in die Fülle von Literatur ein, die bis heute nur sehr wenig zur Klärung der vielberufenen dialektischen Methode beigetragen hat. Die Verfasser gehen dabei unkritisch über Probleme der Aufarbeitung der fragmentarisch gebliebenen Gedanken der "Klassiker" hinweg und unterstellen eine verfügbare, (mehr oder weniger) systematische Philosophie des Marxismus. Darüber hinaus wird deren Verständnis der Wissenschaften ihrer Zeit völlig ahistorisch adaptiert. Dabei fallen sowohl Entwicklungen in einzelnen Wissenschaftszweigen und in deren Selbstverständnis, wie auch die historischen Grenzen und theoretischen Defizite der Wissenschaftsauffassungen von Marx, Engels, Lenin u.a. aus dem Betrachtungsrahmen.
Das führt einerseits zum Weiterschleppen von problematischen Theoriebeständen wie z.B. der Übernahme von Plausibilitäts- und Evidenzansprüchen von Beispielen aus der Naturwissenschaft gegenüber ontologischen Annahmen wie: die "wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität" (Engels). Andererseits kommt es zu völlig antiquierten Urteilen über Bereiche der Wissenschaft, denen gegenüber die Dialektik als tiefer gehende, die Realität vollständiger erfassende Methode präsentiert werden soll. So meinen Grant und Woods z.B., die Mathematik habe es nur mit quantitativen Verhältnissen zu tun, oder sie weisen einen vermeintlichen Anspruch der formalen Logik zurück, sie wolle lehren wie Menschen denken (Ansichten, die von Hegel stammen) — und präsentieren zugleich eine psychologistische Auffassung der formalen Logik (gegen eine solche ist bereits Hegel angegangen).
Aufstand der Vernunft enthält keine systematische und kritische Aufarbeitung dessen, was als marxistische Philosophie gelten könnte. Als kritische Bestandsaufnahme von Entwicklungen in den modernen Naturwissenschaften liefert die Arbeit aber einen leicht lesbaren Überblick, dessen Stärke in seiner ideologie- und gesellschaftskritischen Funktion mit einem marxistischen Anspruch liegt.

Karl Grabke

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