SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 21

25 Stunden — 25th hour

USA 2002, Regie: Spike Lee. Mit Edward Norton, Philipp Seymour Hoffman, Barry Pepper, Rosario Dawson, Anna Paquin, Brian Cox u.a. — Start in der BRD: 15.Mai 2003

New York im Jahr 2002, nach den Anschlägen des 11.September 2001. Die berühmte Skyline der Stadt wird gezeigt, anstelle der Türme des World Trade Center sind zwei Lichtkegel zu sehen. Später sehen wir Ground Zero aus der Perspektive der Wohnung einer der Hauptpersonen. Es sieht in der Tat wie eine offene Wunde aus.
Die Handlung des Films dreht sich um einen sehr merkwürdigen "Helden": Einen zu sieben Jahren Gefängnis verurteilten Drogendealer. Die Hauptperson ist — im Unterschied zu allen anderen Filmen von Lee — kein Afroamerikaner. Monty Brogan ist ein "Weißer" irischer Herkunft aus der Unterschicht, sog. "white trash". Trotzdem konnte er eine private Eliteschule besuchen, von der er allerdings verwiesen wurde, weil er schon als Schüler mit Drogen handelte. Jetzt wurde er wegen Drogenhandels zu sieben Jahren Haft verurteilt. Der Film schildert die letzten 24 Stunden vor dem Haftantritt und in Rückblenden, wie es zu der Verurteilung kam. Dabei legt der englische Titel (25th hour, wörtlich: 25.Stunde) mehr Wert auf den Übergang von der Freiheit ins Gefängnis, während der deutsche Titel (25 Stunden) mehr Wert auf den Verlauf der gesamten Vorgeschichte legt.
Der Film bezieht seine Spannung aus verschiedenen Aspekten: Wer hat Monty verraten? Wird er seine Strafe tatsächlich antreten? Ist er wirklich "schlechter" als seine beiden Kumpels, die "anständige" Jobs haben? Ist die Welt im Allgemeinen und New York im Besonderen so korrupt, dass ein Drogendealer schon gar nicht mehr auffällt?
Die eindrucksvollste Szene im Film ist ein Monolog, den Monty vor einem Spiegel in einer Toilette hält, auf den jemand "Fuck you" geschrieben hat. Die Szene ist eine im Stil des Rap-Sprechgesangs vorgetragene Hassliebeserklärung an die Stadt New York und ihre unterschiedlichen BewohnerInnen. Dabei wird der Mythos vom Schmelztiegel USA, den Lee in seinen Filme immer angreift, überzeugend demontiert. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen leben eher neben- als miteinander. Montys Äußerungen sind zwar nicht "politisch korrekt", aber er ist nur der Verzweifelte, der seinen Frust hinausschreit, kein Propagandist einer Ideologie.
Ein Drogenhändler kann natürlich keine Identifikationsfigur sein. Er rettete zwar einem Hund das Leben, weil er von dem Überlebenswillen des Tieres fasziniert war. Aber wie viele Menschenleben hat er zerstört? So begleitet man Monty distanziert auf seiner letzten Tour in New York für sieben Jahre. Seine "anständigen" Kumpels sind aber auch nicht zur Identifizierung geeignet: Der verklemmte Lehrer Elinsky, dem die Reize seiner Schülerinnen sehr zu schaffen machen. Der Börsenmakler Slaughtery, dessen Geschäfte ziemlich windig sind. Beide sind nicht unsympathisch, aber doch reichlich kaputt. Hat Monty wirklich die schlechtere Wahl getroffen?
Der Film wirkt wie eine Odyssee durch die US-amerikanische Gesellschaft der Gegenwart. Er bietet mehr Fragen als Antworten. Auch die zahlreichen US-Flaggen am Ende des Films bedeuten nicht, dass Lee den Patriotismus als Antwort auf die Probleme des Landes akzeptieren würde. Es ist nur ein weiteres Stimmungsbild: Patriotismus hat nach dem 11.September eben Konjunktur. Montys Vater, ein ehemaliger Feuerwehrmann, der mit einer großen US-Flagge an der Autoantenne spazieren fährt, fantasiert gleichzeitig, wie er seinen Sohn vor dem immer größer werdenden US-Gefängnissystem retten kann. In dieser Fantasie wird der Patriotismus von Montys Vater gleich mehrfach gebrochen. Einerseits beinhaltet sie eine Kritik am Gefängnissystem der USA, wo es mittlerweile den höchsten Anteil an Strafgefangenen an der Gesamtbevölkerung weltweit gibt.
Die Zustände in dem Gefängnis, in dem Monty seine Strafe antreten soll, werden auch an anderen Stellen des Films abschreckend geschildert. Andererseits beschwört die Fantasie den alten Mythos von der Erschließung der USA durch unerschrockene Pioniere, von denen viele auf der Flucht vor staatlicher Verfolgung waren. Dabei werden die USA, lange Zeit ein Asyl für Verfolgte, selber zum Verfolger. Allerdings wird das "freie Leben" im Westen als so spießig dargestellt, dass es schon wieder wie eine Parodie auf den Pioniermythos wirkt.
So hinterlässt der Film das Publikum mit vielen zwiespältigen Eindrücken und offenen Fragen und mit wenigen Antworten. Fast könnte man meinen, Lee hätte den berühmten Spruch des Subcomandante Marcos "Fragend gehen wir" filmisch umgesetzt. Zur Überheblichkeit besteht für die BewohnerInnen des "Alten Europa" kein Anlass, denn bei einer realistischen Betrachtung der Zustände hierzulande, hätten auch wir mehr Fragen als Antworten.
Noch ein Tipp: Trotz des nervigen inflationären Gebrauchs des Vierbuchstabenworts "f…" ist es auf jeden Fall lohnenswert, sich den Film im Original (mit Untertiteln) anzugucken, wenn man der englischen Sprache einigermaßen mächtig ist. Sonst entgeht einem nämlich einiges.

Andreas Bodden

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang