SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 24

Um den 17.Juni 1953

Erinnerungen eines Berliner ABF-Studenten

Im März 1953 trauerten wir um J.W.Stalin. Was sich drei Monate später auch seines vormaligen Wirkens wegen in der DDR ereignen würde, ahnten wir nicht. Wir, das waren Studentinnen und Studenten der Berliner Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF), einer Institution, die jungen Menschen zur Hochschulreife verhalf, die aus sozialen und politischen Gründen nicht an eine höhere Lehranstalt gelangt waren. Alle gehörten der FDJ, viele der SED an. Im engeren Sinne gilt das "Wir" den Mitgliedern der gesellschaftswissenschaftlich orientierten ABF- Arbeitsgruppe CGS1, die das Abitur nach zwei statt drei Jahren ablegten.
Von dem, das sich damals in der DDR zusammenbraute, bekamen wir wenig mit. Das lag an einer gewissen Exklusivität, die uns von der Umwelt abschirmte. Durch intensives Studium oft überfordert, nahmen wir aktuelle Vorgänge durch die Brille streng zensurierter Presseorgane wahr. Einige, darunter zu meiner Schande ich, lasen keine Zeitung. Die uns zuteil werdende Lebensqualität war bescheiden, aber ausreichend. Das Stipendium langte in der Regel hin. Möblierte Zimmer und Plätze in Studentenheimen kosteten wenig. Mittag aßen viele wohlfeil in der Mensa. Bücher ließen sich leicht ausleihen. Die ernsten Versorgungs- und politischen Probleme, mit denen Arbeiter, Bauern, Gewerbetreibende und Intellektuelle sich herumschlugen, berührten uns höchstens am Rande.
Das Kommuniqué des SED-Politbüros vom 9. und der darauf basierende Ministerratsbeschluss vom 11.Juni 1953 wirkten sensationell. Sie annullierten Repressionsakte sowie Sparmaßnahmen zulasten der Bevölkerungsmehrheit, die im Namen eines 1952 dekretierten "Aufbaus des Sozialismus" verhängt worden waren. Wir wussten nicht, dass Moskau die Beschlüsse und mit ihnen den "Neuen Kurs" diktiert hatte, hielten sie stattdessen für ein Resultat politischer Weisheit unserer Partei- und Staatsführung. Die Brisanz der am 28.5. verkündeten Erhöhung industrieller Arbeitsnormen um mindestens 10%, eines Geschenks zum 60.Geburtstag Walter Ulbrichts am 30.6., blieb uns verborgen. Diese Verordnung wurde erst am 16.Juni zurückgenommen, als es zu spät war, Unheil abzuwenden. Absolut nichts wussten wir von Konflikten im SED-Politbüro, die kurzzeitig Ulbrichts Thron ins Wanken brachten.
Etwas mulmig muss mir doch gewesen sein. In einem Brief an das Neue Deutschland, der nie beantwortet wurde, erinnerte ich vor dem 16.6. an Stalins Rede im Januar 1925, worin er unter Hinweis auf vorangegangene Insurrektionen in Georgien, Tambow und Kronstadt festgestellt hatte: "Entweder wir hören auf, nach Beamtenmanier alles in Ordnung zu finden und nach Beamtenmanier an die Sache heranzugehen, fürchten keine Kritik und lassen uns von den parteilosen Arbeitern und Bauern kritisieren, die doch die Auswirkungen unserer Fehler an ihrem eigenen Leibe spüren; oder wir tun das nicht, und dann wird sich die Unzufriedenheit ansammeln, wird anwachsen, und dann erfolgt die Kritik in Form von Aufständen." Mein falscher Schluss lautete: Zum Glück ist uns das erspart geblieben. Später war zu erfahren, dass nach dem 17.Juni auch andere Genossen, sowjetische wie deutsche, auf das Zitat verwiesen.
Am 15.6. begann eine Woche von Abiturprüfungen. Nach einer Klausur am 16. hörte ich in der Straßenbahn einen Fahrgast zum anderen sagen: "Morgen machen wir weiter." Ich wusste nicht, dass er damit Streiks und Demonstrationen gegen die DDR-Regierung meinte.
Der 17.Juni 1953 war ein prüfungsfreier Mittwoch. Ich war auf dem Weg zur Mensa, als die Bahn plötzlich nicht mehr weiterfuhr. Beim Weg zu Fuß kamen mir Hunderte meist schweigender Frauen und Männer in Arbeitskluft entgegen, die aus der Innenstadt in ihre Betriebe zurückkehrten. Hinterm Weidendamm traf ich Geschichtsdozent Manfred Klinner, der fragte, ob ich "schon diskutiert habe". Wie weltfremd das war, wurde mir nachher auf der Straße Unter den Linden klar. Sie war inzwischen weitgehend von Demonstranten geräumt. Sowjetpanzer rasselten vorüber, zu meiner Verblüffung mit weißen statt roten Sternen auf den Türmen. Später fielen Schüsse. Nahe der Neuen Wache stand ein Holzkreuz in einer Blutlache. Es kündete vom Tod eines Mannes, der sich den Panzern entgegengestellt hatte. Volkspolizei war keine auf der Straße. Auch die blau Uniformierten in der Kaserne gegenüber der ABF hatten Befehl, nicht einzugreifen.
Einige von uns trafen sich auf dem Gelände der ABF beim Studentenheim "Philipp Müller". Draußen wurde gerade der von Stadtkommandant Dibrowa verhängte Ausnahmezustand bekannt gegeben. Die Grenzen nach Westberlin waren gesperrt, der S- und U-Bahn-Verkehr unterbrochen. Trupps vornehmlich jüngerer Westberliner, die wegen der im amerikanischen Sender RIAS angekündigten Demonstration in den Ostsektor gekommen waren, um "mitzumischen", kampierten vor dem Eingang zum Bahnhof Friedrichstraße, bis Kasernierte Volkspolizei in khakifarbener Uniform sie vertrieb. Zuvor schlugen einige Randalierer Genossen Zimmermann aus der ABF auf den Kopf, der mit Parteiabzeichen am Revers vorbeigekommen war. Er hatte Glück, da ein Autofahrer stoppte und ihn zur Rettungsstelle schaffte.
Inzwischen waren wir vergattert worden, in der ABF zu bleiben. Kommilitonen berichteten über ihre Eindrücke einesteils von der SED-Funktionärskonferenz mit Grotewohl und Ulbricht am Vorabend, anderenteils von der Arbeiterdemonstration am 17. Die Konferenz hatte dazu gedient, die Partei auf einen "Neuen Kurs" mit alter Spitzenbesetzung einzuschwören. Protestumzüge und die Massenkundgebung vor dem Haus der Ministerien am 16.6. wurden bagatellisiert.
Entsprechend groß war der Schock, als am Tag darauf wesentlich mehr Arbeiter streikten und auf die Straße gingen, wie später zu erfahren war nicht nur in Berlin, sondern in allen großen Industrierevieren, und der deutsche Arbeiter-und- Bauern-Staat durch die sowjetische Besatzungsmacht gerettet werden musste. Hochkommissar Semjonow und nach ihm die SED-Spitze gingen sogleich daran, unerfreuliche Tatsachen zu verdrängen und umzulügen. Sie gaben die Parole aus, ein durch USA und Bundesrepublik gesteuerter "faschistischer Putsch" habe sich ereignet. Dies wurde als verbindlich festgeschrieben, ebenso wie auf westdeutscher Seite jene andere Legende, es habe einen reinen, unverfälschten Arbeiteraufstand wesentlich für die Einheit Deutschlands gegeben.
In Demonstrationsberichten erwähnten unsere Augenzeugen sowohl die Arbeitermassen als auch, dass sich, vielfach aus Westberlin kommend, Randalierer unter sie gemischt hatten. Mitgeführte und skandierte Parolen richteten sich ursprünglich gegen sozialreaktionäre Maßnahmen, so die administrative Normerhöhung, deren Rücknahme am 17.6. weithin noch nicht bekannt war. Während der Demonstration kamen Forderungen nach Sturz der Regierung, besonders des "Spitzbarts" Ulbricht, und nach Wiedervereinigung dazu. Bis heute ist unklar, wer sie aufbrachte. Die meisten Ostberliner Teilnehmer gingen in die Betriebe zurück oder nach Hause. Einer von uns hatte in aller Unschuld Demonstranten fotografiert. Er büßte fast seinen Apparat ein. Doch trat ein Arbeiter dazu, riss den Film heraus und gab ihm den Fotoapparat wieder.
Die in der ABF und im Philipp-Müller-Heim angelangten Kommilitonen versammelten sich erstmals am Nachmittag. Dabei wurde mitgeteilt, Genosse Peter Langhof habe einem anderen die "provokatorische Frage" gestellt: Was denn, einfach so weiter mit der deutsch-sowjetischen Freundschaft? Ich kannte Peter, hatte mit ihm stundenlang über Gott, die Welt, unsere Parteiführer und Stalin diskutiert, wobei er mir gegenüber den realistischeren Standpunkt vertrat, auch bei weiterem Vorhandensein der vielen kleinen Stalins wäre es besser, gäbe es den großen nicht mehr. Nun dachte ich, Langhof habe sich politisch das Genick gebrochen. Er war aber, wie sich herausstellte, mit seinem Ausspruch nur einem Widerling übers Maul gefahren, der mit einem neu erworbenen Komsomolabzeichen prahlte. Dank sachgerechter Beurteilung ging der Vorfall glimpflich für Peter aus.
An der Straßenecke zum Philipp-Müller-Heim parkte abends ein Sowjetpanzer. Drinnen im Saal aber gab es eine Szene, die mir die Fassung raubte. Fast alle anwesenden Kommilitonen stimmten das Lied "Die Partei hat immer Recht" von Louis Fürnberg an. Sie sangen es von der ersten bis zur letzten Strophe, ausgerechnet nach der größten Pleite der SED seit 1945, die deren Führung gemeinsam mit der sowjetischen selbst verschuldet hatte.
Im Rundfunk wurden ein Kommentar Karl-Eduard von Schnitzlers und der Artikel Rudolf Herrnstadts für das nächste ND verlesen. Chefredakteur Herrnstadt, der wohl bedeutendste Journalist der DDR, den Ulbricht bald mit sowjetischer Rückendeckung abservierte, äußerte sich differenziert und sachlich über das Tagesereignis. Schnitzler triumphierte darüber, dass der "Putsch" unterdrückt worden war. Er endete mit dem Satz, das erste Todesurteil gegen einen Provokateur sei vollstreckt.
Erwähnenswert scheint mir das Abenteuer eines Genossen aus der CGS1 zu sein, der am "Tag X" verschütt ging. Er hielt sich abends in der Nähe einer sowjetischen Einheit auf, die einen Spion in ihm sah und ihn einsperrte. Zum Glück kam er bald wieder frei.
Noch nach Jahresfrist wurden wir indessen damit beauftragt, mit der S-Bahn fahrend darüber zu wachen, dass kein Agent zur Feier des 17.Juni die DDR angreife.
Für viele von uns sind die Geschehnisse jenes Tages, ihre Ursachen und Folgen gravierend gewesen. Ein Urlaub mit Charly Mahnke von der CGS1 im Sommer 1953 im Harz gab uns Gelegenheit, ungehemmt historische und politische Vorgänge zu erörtern. Jahre danach haben wir das fortgesetzt, nun von der Staatssicherheit überwacht.
Deprimierend war die erste Parteiversammlung an der Fachrichtung Geschichte der Berliner Humboldt-Universität im Herbstsemester 1953. Mitarbeiter des Instituts für Geschichte des deutschen Volkes hatten am 19.6. eine Resolution verabschiedet, in der sie gegen die von der SED übernommene Darstellung der sowjetamtlichen Täglichen Rundschau protestierten, "die große Masse der ‚Demonstranten‘" am 16. und 17.Juni wären "mehrere tausend von Westberlin geschickte faschistische Unruhestifter und Rowdies" gewesen, nicht für berechtigte Forderungen eintretende Arbeiter, die sich von Provokateuren distanzierten. Die Institutsmitarbeiter verlangten wahrheitsgetreue Berichte und ein selbstkritisches Verhalten der Partei- und Regierungsspitze. Für die Resolution mitverantwortliche Genossen mussten nun ans Pult treten und sich kasteien.
Eines anderen Delikts wegen war ich im November ebenfalls dran. Ich hatte an die Parteiwandzeitung einen Artikel zum Jahrestag der Oktoberrevolution geheftet, der statt sonst üblicher Lobhudeleien darauf hinwies, dass es auch bei uns "Personenkult" gebe, wie der Stalinismus beschönigend umschrieben wurde. Parteileitung und Grundorganisation nahmen mich ins Gebet, bis der fällige Kotau vor einer Partei, die immer Recht hat, absolviert war.
Die nächste große Auseinandersetzung begann nach dem 20.Parteitag der KPdSU im Februar 1956. Wie in allen Konflikten bis 1989 siegten Apparatschiks und nicht die kritischen Kräfte, auch deshalb nicht, weil letztere immer wieder die notwendige Kampfentschlossenheit vermissen ließen. Doch zeigten die Vorgänge zugleich, dass der vom 17.Juni 1953 ausgehende Anstoß fortwirkte.

Manfred Behrend
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Aufgewärmte Uralt-Enten

Hans Bentzien: Was geschah am 17.Juni? Vorgeschichte — Verlauf — Hintergründe, Berlin: edition ost, 2003, 214 S., 12,90 Euro

Der Autor, einst SED-Funktionär, Kulturminister und Fernsehintendant, wartet damit auf, dass der Passus im KPD-Aufruf von 1945, es brauche eine parlamentarisch-demokratische Republik, weil das Sowjetsystem "nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland" entspreche, von Stalin stammt. Prinzipiell richtig gibt Bentzien Vorgänge wieder, die ab 1952 zum Anwachsen regierungsfeindlicher Stimmungen in der DDR führten. Seine Ansicht, Ulbricht habe nur "der Ordnung halber" in Moskau angefragt, ob er "den Sozialismus aufbauen" dürfe, durch den Aufruf dazu aber die SED "aus der Rolle eines Bauernopfers in der Deutschlandpolitik der Sowjetunion befreit", reizt zum Lachen.
Die Ereignisse vom 16./17.6.1953 und danach schildert der Verfasser mittels Erinnerungen z.T. treffend, jedoch stets nur aus der Sicht der Herrschenden. Dass es westliche Rollback-Pläne gab, sich Randalierer einmischten, reaktionäre Scharfmacher Arbeiterproteste gegen asoziale Politik in Sozialismusfeindschaft ummünzten, ist bekannt und nicht das Wesen der Sache. Bentzien wärmt die Uralt-Ente vom 17.Juni als außengesteuertem "faschistischen Putsch" wieder auf, die einst der Selbstrechtfertigung der Politbürokraten diente.
Relativ, aber nicht ganz neu ist sein Verfahren, Beria für die Pleite verantwortlich zu machen: NKWD-Agenten hätten die DDR ins Wanken gebracht, weil ihr Chef sie an den Westen verkaufen wollte. Das beabsichtigte der Fiesling — nach Stalin und vor Gorbatschow — in der Tat. Ein aktives Gegeneinanderarbeiten von Geheimdienst und Sowjetarmee in der DDR gehört ins Reich der Fabel. Bentzien diffamiert ND-Chefredakteur Herrnstadt und Staatssicherheitsminister Zaisser wegen ihrer Konterposition zum DDR-Diktator als Agenten Berias. Herrnstadts Vorschläge indes entsprachen DDR-Interessen. Der Verfasser gründet seine Darstellung aber nicht auf sie, sondern auf Fälschungen Ulbrichts. Zu bemängeln sind z.T. unexakte Quellenangaben, fehlende Quellenkritik und sachliche Schnitzer.
M.B.

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