SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2003, Seite 4

Nach dem SPD-Sonderparteitag

Vom Ende und Anfang der Politik

von CHRISTOPH JÜNKE

Selten war das schleichende Gift der Ideologie der vermeintlichen Alternativlosigkeit so mächtig wie heute. Und selten erwies es sich so offen als Lüge.
Es hatte schon etwas Kurioses, wie die SPD-Strategen ihre Radikalisierung des Klassenkampfs von oben — polittechnokratisch »Agenda 2010« genannt — durchgeboxt haben. Mehrfach musste Kanzler Schröder mit seinem Rücktritt drohen und trotzdem war das noch nicht genug. Er bot mit Erhard Eppler und Hans-Jochen Vogel angesehene Vertreter der sozialdemokratischen Vergangenheit auf, die sich mit Verve für Schröder in die Bütt warfen. Eppler gab sogar freimütig zu, dass er die Agenda 2010 für in vielem problematisch halte. Aber: Er sehe einfach keine Alternativen. Kunststück, wenn der, der in der SPD für Alternativen steht, Oskar Lafontaine, weder zum Sonderparteitag, noch zum kurz zuvor veranstalteten Feierkongress »140 Jahre Sozialdemokratie« eingeladen wurde. Wäre er es geworden, er hätte den versammelten Großkopfeten die Leviten gelesen. Anstatt immer weiter bei den Armen und Arbeitenden zu kürzen, bräuchte man nur sämtliche Einkommensbezieher, also auch Selbstständige und Beamte, in die Finanzierung der Sozialsysteme einzubeziehen, dann wäre man schon einen ordentlichen Schritt weiter. Progressive Steuertarife für alle Einkommen und zusätzliche Abschöpfung der Reichen, bspw. durch die Wiedereinführung einer Vermögensteuer, würden weitere Entlastungen bringen — von radikaler Kürzung der Rüstungsetats und Arbeitszeitverkürzung mal ganz zu schweigen.
Da jedoch nicht sein kann, was unter neoliberaler Hegemonie nicht sein darf, glänzte Lafontaine durch (erzwungene) Abwesenheit. Und das, was sich die SPD-Linke nennt, hatte nicht mal versucht, das Rederecht des ihren durchzusetzen. Die SPD-Linke stellt keine Alternative zum Schröderkurs dar, auch dies machte die Diskussion vor, auf und nach dem Sonderparteitag deutlich. Alle erklärten großspurig, dass es keinen Zweifel an der Notwendigkeit der sozialen Einschnitte gebe — nur eben »gerecht« solle es zugehen. In derselben Diskursfalle wie die ehemaligen, regierungsamtlichen Gegner des Irakkriegs argumentierten sie nicht gegen den Krieg, sondern nur gegen die brutale »unzivilisierte« Form seiner Durchführung. Hat man jedoch einmal die Legitimität des in Frage stehenden Ansinnens akzeptiert — dort die vermeintliche Kriegsgefahr durch einen Dritte-Welt-Diktator und hier der vermeintliche Kollaps der Gesellschaft, weil die Arbeitskraft zu teuer sei —, dann ist die Frage der Tischmanieren eine nachrangige. Jedenfalls eine, für die keine wirkliche politische Infragestellung dessen, was zur Abstimmung steht, sich lohnt.
Aus Angst vor einem politischen Kampf, der mit seinen Alternativkonzepten notfalls auch den Wechsel des Führungspersonals fordert, hat die SPD-Linke schon einmal, 1999, ihre Galionsfigur allein im Regen stehen lassen. Aus der dadurch bedingten Subordination unter die Imperative des Parteiapparats hat sie sich seitdem nicht lösen können. Die Mitgliederbefragung wäre eine Möglichkeit gewesen, erneut in die breite politische Debatte mit den eigenen Mitgliedern zu kommen. Ein Sonderparteitag von delegierten Funktionären war dagegen ein erstklassiges Begräbnis dieses Versuchs. Er erlaubte es Schröder, Müntefering, Scholz und Co., gekonnt auf der Klaviatur jener opportunistischen Instinkte zu spielen, die politischen Funktionsträgern nun einmal eigen sind, wenn sie nichts zu verlieren haben außer ihren Beruf.
Der Unterschied zwischen Lafontaine und den SPD-Linken ist wohl gerade dieser: Lafontaine muss keine Rücksichten mehr nehmen und hat ein gesichertes Einkommen auch jenseits der Parteipolitik. Ein Ottmar Schreiner und eine Andrea Nahles sähen in solcher Lage ziemlich alt, sprich arm aus. Dürfen letztere sich nicht allzu weit aus dem Fenster hängen, um denkbare Abspaltungsprozesse zu verhindern, kann der erste verbal vom Leder ziehen unter der Bedingung, dass er keine eigenen parteipolitischen Wege geht.
Dass die im bürgerlichen Parlamentsbetrieb sich tummelnden Parteien — das gilt von der CDU bis zur PDS — durchweg nicht in der Lage sind, alternative politische Strömungen/Linien innerhalb ihrer Organisation zu dulden und eine Debatten- und Streitkultur zu entwickeln, die einen solchen demokratischen Willensbildungsprozess befördern, wirft die klassische Frage nach den Integrationsmechanismen bürgerlicher Politik auf.
Schon vor 35 Jahren schrieb bspw. ein Rudi Dutschke: »Die Parteien lassen sich nur noch als Instrumente der Exekutive benutzen. Wie steht es um die innerparteiliche Demokratie bei CDU und SPD? Wo ist da noch Selbsttätigkeit der Parteimitglieder? Worin drückt sich die aus? Was geschieht auf den Parteitagen? … keine Selbsttätigkeit von unten, nur noch Manipulation von oben; Führer, die keinen Dialog mit ihrer Basis führen; verselbständigte Führungselite, die es gar nicht mehr will, dass eine Diskussion stattfindet — weil nämlich die praktisch-kritische Diskussion Ausgangspunkt der Infragestellung der bürokratischen Institutionen wäre.«
Mit der zunehmenden Durchsetzung des Neoliberalismus hat dieser Befund eine neue Note bekommen. Während der letzten 20 Jahre haben sich die bürgerlichen Medien weitgehend verselbstständigt und »ökonomisiert« und die bürgerlichen Parteien »professionalisiert«. D.h. sie haben sich zu Wahlmaschinen transformiert, die finanziell abhängig sind nicht von ihren Mitgliedern, sondern vom Staatssäckel und den Spenden aus »der Wirtschaft«. Eine Zeitlang ist dieser Prozess überlagert gewesen von neuen Möglichkeiten politischer Einflussnahme über »zivilgesellschaftlicher« Bewegungen. Doch mit deren Versanden setzen sich die Formierungsprozesse technokratischer Politik nur um so schneller durch.
Das Gerede von der vermeintlichen Alternativlosigkeit hat durchaus einen materiellen Kern. Dass die Weltwirtschaftskrise der letzten 30 Jahre und die politischen und ideologischen Offensiven der Herrschenden den existenziellen Druck auf den Alltag der Bevölkerungsmehrheit so stark vermehrt und die Kräfte und Ideologen der potentiellen Opposition so stark in die Defensive getrieben haben, hat nicht zur Folge, dass es keine alternativen Konzepte mehr gibt. Sie gelten bloss zunehmend als »unrealistisch«, »sektiererisch«, »nicht finanzierbar«.
Gerade dies ist jedoch pure Ideologie. Das Bruttsozialprodukt Deutschlands wächst von Jahr zu Jahr. Und wenn die öffentlichen Kassen leer sind, so deswegen, weil die Politik den Reichen und Kapitalisten Jahr für Jahr mehr Steuern erlässt und das Geld statt in die Sozialsysteme in Rüstungs- und andere Großtechnologieprojekte steckt.
Jede denkbare Alternative zu solcher Politik ist mehr denn je genötigt, die Logik des gesamten Systems in Frage zu stellen und mit ihm auch jene bürokratischen Institutionen, von denen bereits Dutschke sprach. So erfreulich es deswegen auch ist, wenn Deutschlands Linksreformisten — bspw. um die Wochenzeitung Freitag — bereits über die Gründung einer neuen linken Partei nachdenken, auf politisch gescheiterte Existenzen — heißen sie nun Lafontaine, Ströbele oder Gysi — sollten sie dabei keine Hoffnungen setzen. Stattdessen sollten sie sich Rechenschaft ablegen über die Organisationsprinzipen und politischen Zielvorstellungen neuer Parteiformen. Denn keine politisch eingreifende Bewegung wird neue Wege gehen, wenn sie nicht von Beginn an und in erster Linie eine soziale Bewegung ist.
Sicher, Bewegung ist nicht alles. Aber ohne Bewegung ist alles nichts!

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang