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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2003, Seite 12

Frankreich

Streiktaktik behindert Erfolg

Sie kamen zu Pferd und mit gehörnten Gallierhelmen: die streikenden Archäologen. Auch sie nehmen derzeit am Ausstand vieler Berufsgruppen teil. Beritten und mit ihren historischen Kostümen stellten sie die Publikumsattraktion der Pariser Demonstration am 3.Juni dar.
Einerseits protestieren auch sie wie viele andere gegen die antisoziale sog. »Reform« des Rentensystems. Daneben haben sie aber, wie andere Berufsgruppen auch, eigene Anliegen. Unter dem Druck der Industrielobby werden derzeit die Bauvorschriften gelockert, die bisher eine Rücksichtnahme auf mögliche historische Fundstätten vorschrieben. Gleichzeitig werden die Archäologen Opfer der allgemeinen Sparpolitik im öffentlichen Dienst — 800 von ihnen wurden jüngst entlassen. Ein Beispiel unter vielen für die »Austerität«, die Frankreichs Regierung unter Premierminister Jean-Pierre Raffarin der Bevölkerung verordnen will.
»Oh Raffarin, wenn du wüsstest, wo wir uns deine Reform hinstecken. In den…, in den… Ah, kein Zögern und kein Zaudern — weg mit dem Reformentwurf!« Auf Französisch, zu einer Melodie vom Altrocker Johnny Halliday, klingt das viel besser.
Mit solchen und anderen Parolen thematisieren Busfahrer, Krankenhausangestellte, Lehrer und Postbedienstete ihre Ablehnung der Rentenpolitik der Regierung, aufgrund derer sie künftig länger Beitrag zahlen und hinterher trotzdem weniger Leistung erhalten sollen. »No raffaran«, meint oder hofft Ecole Emancipée, der linke Flügel der Lehrergewerkschaft FSU.
Es geht um eine jener »Reformen«, wie sie derzeit in der gesamten EU auf der Tagesordnung stehen — hatte doch der Ratsgipfel in Barcelona im März 2002 beschlossen, in den Mitgliedstaaten das Renteneintrittsalter um fünf Jahre anzuheben. In Italien, Frankreich und Österreich wurde im Mai dagegen gestreikt.
Nach dem landesweiten Streiktag am 14.Mai wälzte sich am 3.Juni erneut ein Demonstrationszug von rund 80000 Menschen durch das Zentrum von Paris, und auch in 110 weiteren französischen Städten gab es Demonstrationen — insgesamt war über eine halbe Million Menschen auf den Beinen.
Und auch am 10.Juni legten erneut in Frankreich etwa eine halbe Million Menschen die Arbeit nieder und demonstrierten. Denn an dem Tag begann in der Nationalversammlung die Debatte über den Gesetzentwurf, den der neogaullistische Arbeits- und Sozialminister François Fillon einbrachte. Bereits am 20.Juli sollen die drei parlamentarischen Lesungen in beiden Kammern (Nationalversammlung und Senat) abgeschlossen sein — damit das Kabinett die Wirkung der Sommerpause und den Rückgang der Mobilisierungen voll ausnutzen kann.
Protestzüge und Blockadeaktionen nahmen daher in den ersten beiden Juniwochen überall im Land erheblich zu. Ob die Annahme des Entwurfs damit allerdings verhindert werden kann, erscheint äußerst zweifelhaft. Die konservative Regierung hat klargestellt, dass sie keinen Rückzieher machen und keine größeren Änderungen am Entwurf akzeptieren wird. Sie sieht sonst ihre Glaubwürdigkeit, Reformen umzusetzen zu können, generell aufs Spiel gesetzt — deshalb will sie mit der Durchsetzung der aktuellen Gesetzesvorlage ein Exempel statuieren.
Denn bei der Heraufsetzung des Rentenalters soll es nicht bleiben. Die Agenda für sog. Reformen ist reich bestückt. Im August — mitten im Sommerloch — will die Regierung die Strom- und Gasversorgungsunternehmen EDF- GDF privatisieren. Deren Nationalisierung 1945 war ein Ergebnis der unmittelbar auf die Befreiung vom Faschismus folgenden sozialen Umwälzungen gewesen. EDF und GDF sind für die Arbeiterbewegung daher ein wichtiges Symbol — obgleich ihre Gewerkschaftsvertretungen gerade in diesen Betrieben sehr bürokratisiert und eng mit dem EDF-Nuklearfilz verwoben ist.
Im September soll die gesetzliche Krankenkasse »reformiert« werden. Was von ihr übrig bleibt, soll nur noch für »schwere Krankheiten« aufkommen. Wer Zahnersatz, Brillen oder Hörgeräte erstattet bekommen will, soll sich gefälligst privat versichern. Auch die Sécurité sociale, das noch bestehende gesetzliche Sozialversicherungssystem, ist eine der Errungenschaften der »Libération«, der Zeit nach der Befreiung vom Faschismus.

Nur kein Generalstreik

Die soziale Gegenreaktion ist bisher nicht auf der Höhe der Herausforderungen. Normalerweise bewirkt bei größeren sozialen Konflikten in Frankreich die Arbeitsniederlegung im Transportbereich so etwas wie eine Initialzündung. Wenn die öffentlichen Transportmittel nicht mehr zur Verfügung stehen und sich — wie am 14.Mai dieses Jahres — 330 Kilometer Stau rund um Paris bilden, dann sinkt die Hemmschwelle für andere Beschäftigte, der Arbeit fernzubleiben oder sich gar dem allgemeinen Ausstand auszuschließen. Selbst die Nichtstreikenden zeigen sich dann oft über die Unterbrechung des kapitalistischen Alltags erfreut.
So berichten noch heute viele Menschen, die den Streikherbst der öffentlichen Dienste 1995 mit erlebten, positiv über die damalige Erfahrung: Man nahm unterwegs fünf verschiedene Anhalter mit oder bildete Mitfahrgemeinschaften, kam endlich wieder mit unbekannten Leuten ins Gespräch oder lernte bei der Gelegenheit das Rollschuh- oder Trittrollerfahren.
Doch derzeit bleibt die Ungleichzeitigkeit das bestimmende Element in den Arbeitsniederlegungen. Zwar begann am 2.Juni der von vielen Protestteilnehmern seit längerem erwartete Ausstand in den Transportbetrieben: bei der Bahngesellschaft SNCF und bei den örtlichen Verkehrsbetrieben in 50 Städten. Doch selbst dieser Ausstand war von starken Ungleichheiten in der Mobilisierung geprägt. In Paris etwa waren manche Metrolinien fast gänzlich blockiert, während andere fast normal funktionierten. Stundenweise, vor allem am Abend, war der Verkehr deutlich verlangsamt, zu anderen Zeiten hingegen nur schwach beeinträchtigt.
Einer der Hauptgründe dafür war, dass es der Regierung im Vorfeld gelungen war, einen Teil der Transportarbeitergewerkschaften aus der Streikfront herauszubrechen; vor allem bei der RATP, dem Metro- und Busbetreiber im Großraum Paris, bei dem ein Streik mehrere Millionen Menschen daran hindert, zur Arbeit zu gehen, und damit erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Ökonomie hat. Die Beschäftigten der RATP verfügen, wie auch die Eisenbahner, über eine eigene Rentenkasse.
Die konservative Regierung hatte in den 14 Tagen vor dem Streikbeginn alles daran gesetzt, um diesen Sektor von den anderen zu isolieren, indem man ihn — vorläufig — aus der »Rentenreform« ausklammerte. Bei der RATP ging die Rechnung halbwegs auf. Aufgrund des Altersdurchschnitts der Angestellten liegt hier die Zahl der Pensionsempfänger relativ niedrig, entsprechend schreibt ihre Rentenkasse derzeit dicke schwarze Zahlen.
Die Regierung gab den RATP-Angestellten das schriftliche Versprechen, ihr Rentensystem in den nächsten fünf Jahren nicht anzutasten. Der CFDT sowie den reinen Berufsverbänden genügte diese vorläufige Garantie, um ihren Streikaufruf zurückzuziehen. Allein die CGT und die linke Basisgewerkschaft SUD-Transports riefen zu Anfang letzter Woche noch zum Streik bei der Metro auf. Sie argumentieren, wenn die sog. Rentenreform erst für alle anderen Berufsgruppen greife, dann würde niemand einen späteren Streik bei der RATP in dieser Frage unterstützen — dann stehe man allein da.
Bei der Eisenbahn ging diese Rechnung nicht so gut auf, zumal das Betriebsklima hier stärker politisiert ist. Sieben Bahngewerkschaften riefen gemeinsam zum Ausstand auf — mit Ausnahme einer unpolitisch-korporatistischen Lokführergewerkschaft (der FGAAC). Letztere vertritt zwar nur 3% der Bahnbeschäftigten, aber 30% der Lokführer — daher konnte trotzdem über ein Drittel der Züge, je nach Tag und Region, verkehren.
Ein anderer wichtiger Grund für den mangelnden Erfolg des Transportarbeiterstreiks liegt im Taktieren der Gewerkschaftsapparate, vor allem bei der CGT. Als nach dem — in diesem Ausmaß unerwarteten — Erfolg der Großdemonstration vom 13.Mai die Transportarbeiter die Arbeit vielerorts spontan niederlegten, wurden sie durch die CGT gestoppt. Man wolle nicht die Sympathie der Beschäftigten in der Privatwirtschaft verlieren, argumentierte sie damals.
Der ehemals »realsozialistisch«, jetzt zunehmend sozialdemokratisch orientierte Apparat der CGT bemüht allerdings das Argument des Streiks »zum falschen Zeitpunkt« jedes Mal dann, wenn ihr eine soziale Dynamik außer Kontrolle zu geraten droht; im Mai 1968 war das nicht anders. Sie setzte deshalb den Streik erst ab dem 2. Juni an; diese Verzögerungstaktik stieß nicht überall auf Gegenliebe, manche Beschäftigten fühlten sich verschaukelt oder instrumentalisiert.
Am Pariser Nordbahnhof etwa kam es Anfang Juni zwischen Streikenden, die an einer Streikvollversammlung teilnahmen, und dem Vertrauensmann der CGT zu Auseinandersetzungen. Letzterer widersetzte sich der Gründung eines Streikkomitees mit den Worten: »Was wollt ihr denn — alles, was wir verlangt haben, war ein Streikaufruf unserer Branchengewerkschaft. Den haben wir jetzt, also brauchen wir kein Streikkomitee.«
Doch der Versuch, die Kontrolle des Apparats aufrecht zu erhalten, misslang in diesem Fall. Nach heftigen Wortgefechten verließ der CGT-Delegierte den Raum. Andernorts aber führten die Reibereien mit Gewerkschaftsfunktionären und Streikunwilligen dazu, dass die Arbeitskampffront im Verlauf der ersten Juniwoche abbröckelte. Mittlerweile gilt der Streik in diesem Bereich als gescheitert; die Teilnehmenden an den Streikversammlungen gehen davon aus, dass »am 14.Mai eine Chance verschenkt wurde« und geben der CGT die wesentliche Verantwortung dafür.
»Überall halb und nirgendwo ganz« sei die Streikbeteiligung, meinte vorletzte Woche ein Lehrer am Rande einer Pariser Demonstration. Tatsächlich bietet die Streiklandkarte ein ausgesprochen diffuses Bild: Viele Sektoren sind betroffen, die Post, EDF, die Schulen — hier mit 30% Streikbeteiligung, dort mit 20%, an Spitzentagen auch mal 65%. Aber nirgendwo wurde das Wirtschaftsleben tatsächlich lahmgelegt.

Zersplitterung

Im Gegenzug scheint sich die Protestbewegung, die nicht mehr auf eine erfolgreiche Lähmung des Regierungsapparats hoffen kann, zu radikalisieren. Ende der ersten Juniwoche fanden zahlreiche »Nadelstichaktionen« statt. In Amiens besetzen streikende Lehrer und Eisenbahner gemeinsam die Bahngleise. In der Pariser Vorstadt Bagnolet besetzten Pädagogen ein Busdepot und diskutierten stundenlang mit den dort Arbeitenden.
In der Nähe von Marseille blockierten 600 Streikende aus verschiedenen Bereichen einen halben Tag lang den Industriehafen von Fos-sur-Mer. Andernorts ging man ein wenig weiter: In zehn Städten wurden am 5.Juni die Regionalsitze des Unternehmerverbands Medef zur Zielscheibe von Protesten. In Pau drangen 50 Personen, Mitglieder der CGT und Anarchosyndikalisten, in das Gebäude ein und verarbeiteten einiges Mobiliar zu Kleinholz. Der Medef-Sitz in La Rochelle brannte weitgehend nieder, nachdem Autoreifen, die davor entzündet worden waren, ein außer Kontrolle geratenes Feuer entfachten.
Der Unternehmerverband tobte und sprach öffentlich von »terroristischen Aktionen«. Damit setzt er die Schwelle für den Begriff »Terrorismus« (der sich ja ursprünglich darauf bezog, unter der Bevölkerung werde Schrecken verbreitet) bemerkenswert niedrig an und bezieht den Begriff auf Erscheinungsformen von Klassenkampf, die nun wirklich nichts mit dem Terrorisieren einer Bevölkerung zu tun haben.
In den kommenden Wochen aber wird sich zeigen, ob diese Aktionen ein spektakulärer Showdown waren oder ob die Regierung zu sichtbaren Zugeständnissen gezwungen werden konnte. Denn die Radikalisierung der Aktionsformen droht die Kluft zwischen der Bewegung und verschiedenen Teilen der öffentlichen Meinung zu vertiefen, wenn sie ihr Hauptziel — das Lahmlegen der Wirtschaftsaktivität — verfehlt. Menschen, die trotz des Arbeitskampfs zur Arbeit müssen, weil die Entschuldigung »die Transportmittel sind bestreikt« nicht zieht, die aber sehr viel längere Zeit im Berufsverkehr zubringen, beginnen sich hier und dort allmählich gegen die Ausstände zu wenden.
Zwar hat die Protestbewegung ein breites Sympathiepolster — 65% erklärten Anfang Juni noch ihre Unterstützung. Aber einem Abwenden eines Teils der öffentlichen Meinung und damit vor einer Niederlage ist sie dennoch nicht gefeit.

Bernhard Schmid, Paris

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