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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2003, Seite 15

Arbeit zu jedem Preis

Der britische Arbeitsmarkt gilt als Vorbild für Europa

In Großbritannien liegt die offizielle Arbeitslosenquote bei 5% und ist die niedrigste seit den 70er Jahren. Im Februar 2003 erhielten von 59 Millionen britischen Staatsbürgern knapp 900000 Arbeitslosenunterstützung. Großbritannien gilt damit als europäisches Vorbild im Kampf gegen Erwerbslosigkeit.
»Reinigungskraft, einfacher Dienst in einem Büro oder Kellnern, dass ist mir völlig egal«, sagt Hudson Ereku. Er sucht Arbeit. Kein leichtes Unterfangen mit 64 Jahren. Darum ist er ins Urban Recruitment Centre gekommen, eine Art Jobbörse im Londoner Stadtteil Stockwell. Nun sitzt er vor dem Schreibtisch seiner jungen Beraterin, die sofort anfängt, in ihrem Computer nach geeigneten Stellen zu suchen. Hudson Ereku ist in dieser Woche schon zum dritten Mal im Urban Recruitment Centre. Seit der alte Mann vor einigen Wochen seine Arbeit in einem Postbüro verlor, ist er bereit, jede Arbeit anzunehmen: als Putzkraft, als Kellner, aber am liebsten wieder bei der Post oder der Poststelle eines Unternehmens. Doch die Aussichten, einen Bürojob zu finden, sind gering. Hier gibt es über 11% Arbeitslose, dass sind mehr als doppelt so viele wie im nationalen Durchschnitt. Seit Generationen leben hier Arbeiter- und Einwandererfamilien in zwei- und dreistöckigen Backsteinhäusern.
»Aus diesem Stadtteil sind alle größeren Unternehmen und die Supermarktketten weg und haben die Menschen ohne Arbeit zurückgelassen«, sagt Marc Oysten, Direktor des Urban Recruitment Centre. Außerdem gebe es in Stockwell »große Sprachprobleme, hier leben zum Beispiel viele Portugiesen«. All diese Faktoren zusammengenommen isolierten diesen Stadtteil, meint Marc Oysten, »es gibt keine Arbeit, die meisten Menschen leben von Sozialleistungen.«
Marc Oysten untersteht das action team im Urban Recruitment Centre, das ohne Profitinteressen arbeitet. Dazu gehören 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie sollen den Besuchern bei der Arbeitssuche helfen. Niemand wird zu einem Job gezwungen — eine Seltenheit in Großbritannien. Das Arbeitsministerium finanziert die Arbeit.
Die meisten der im Computer der Beraterin als permanent jobs beschriebenen Angebote sind nicht von langer Dauer. Knapp die Hälfte der 750 registrierten Besucher des Urban Recruitment Centre im letzten Jahr hat eine Anstellung gefunden, viele sogar länger als elf Wochen. Das klingt zunächst nach Erfolg: doch nur 5% konnten ihren Arbeitsplatz dauerhaft behalten. Alle anderen sind früher oder später wieder in der Clapham Road aufgetaucht, um einen neuen Job zu suchen. Viele von ihnen arbeiteten in kleinen und prekären Dienstleistungsunternehmen, die pleite gingen. Andere hielten die Arbeitsbedingungen nicht mehr aus.
Hudson Ereku und seine Beraterin sind mittlerweile im Hotelgewerbe angelangt und haben dort ein Angebot entdeckt. Aber auch für diese Stelle bringt er nicht die richtigen Erfahrungen mit. Dabei ist er hoch qualifiziert. In den 60er Jahren hat er in Großbritannien Politikwissenschaften studiert. Doch mit seiner schwarzen Hautfarbe hatte er damals kaum eine Chance, eine Stelle als Journalist oder Wissenschaftler zu finden.
Hudson Ereku soll schließlich schon am nächsten Tag mit seiner Arbeit in einem chinesischen Restaurant im Stadtteil Soho anfangen, für den gesetzlichen Mindestlohn von 4,20 Pfund die Stunde, das sind etwa 6 Euro. 48 Stunden in der Woche muss er arbeiten, das entspricht der gesetzlichen Höchstarbeitszeit in Großbritannien. Weil es in der Küche sehr betriebsam zugeht, soll Hudson Ereku unter hohem Zeitdruck abwaschen, putzen und die Küchenmaschinen pflegen.
»Economically inactive«, »wirtschaftlich untätige«, werden in Großbritannien alle genannt, die wie Hudson Ereku keine Erwerbsarbeit haben. Das Urban Recruitment Centre in Stockwell ist nur ein Mosaikstein der sog. Arbeitsmarktreform, mit der verschiedene Bevölkerungsgruppen wieder in Arbeit gebracht werden sollen. In den sechs Jahren, in denen New Labour an der Macht ist, hat die Regierung unzählige Programme geschaffen: den New Deal für Alleinerziehende, den für Kranke und Behinderte, den für unter 25-Jährige, den für über 25-Jährige, den für über 50-Jährige und sogar einen New Deal für Musiker, weil Musik doch, so das Arbeitsministerium, eines der wichtigsten Exportprodukte Englands sei. Allein in den nächsten vier Jahren will New Labour 3,5 Milliarden Pfund für diese Programme ausgeben.

Die neuen Jobcenter…

Bei den Gesetzespaketen des britischen New Deal geht es vor allem um eines: Arbeit zu jedem Preis anzunehmen. Der Lohn dieser Jobs entspricht oft nur dem gesetzlichen Mindesteinkommen, der unter dem Existenzminimum liegt. Die sog. Job Centres, die diese Arbeitsstellen vermitteln, werden gerade flächendeckend zu Job Centres Plus umgebaut. Im Klartext: Sie werden mit den benefit agencies, den Sozialämtern, zusammengelegt und können Antragstellern, die eine Arbeitsstelle ablehnen, bis zu sechs Monaten die Sozialleistungen kürzen oder ganz entziehen. Die Tarife für Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe sind auf 53 Pfund pro Woche festgelegt. Zuschüsse gibt es für Alleinerziehende, Rentner und Behinderte. Das Urban Recruitment Centre in Stockwell arbeitet natürlich eng mit den neuen und alten Job Centres zusammen.
Das Job Centre Plus in Streatham, einem anderen Stadtteil im Süden Londons, ist ein Vorzeigeobjekt für die administrative Verschmelzung von Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung. Politiker, Beamte, Journalisten und Besuchergruppen aus dem In- und Ausland werden hier fast täglich durchgeschleust.
Im Eingangsbereich des dreistöckigen Arbeits- und Sozialamts sprechen sog. floorwalkers mit weißem Hemd und einem blauen Anzug die Besucher an. Sie dirigieren diese in die richtige Abteilung: Antragsteller für Sozialleistungen, Arbeitssuchende, Behinderte und Alleinerziehende. Außerdem trifft man Sicherheitspersonal in Uniformen, bestückt mit Funkgeräten und Holzknüppeln.
Überall in Streatham ist leise Musik zu hören. Komfortable Sitzmöbel mit orangefarbenen und blauen Bezügen laden in der Mitte der jeweils 150 Quadratmeter großen Räume zum Verweilen ein. Im Abstand von mehr als zehn Metern sind jeweils drei hüfthohe Computerterminals angebracht, an denen Besucher per Mausklick auf Stellensuche gehen können. Außerdem gibt es Seminarräume für Besuchergruppen, Bewerbungstrainings oder Vertreter von Großunternehmen, die auf Seminaren direkt ihre Beschäftigten anwerben. Die Schreibtische der Mitarbeiter sind entlang der Wände aufgestellt, einer neben dem anderen. Anders als in den alten Arbeits- und Sozialämtern trennen keine Glasscheiben mehr die Arbeitssuchenden und Antragsteller von den Sachbearbeitern.

…und ihre Wirkungen

»Mehr als 90% unserer Besucher haben sehr positiv auf die Veränderung reagiert«, berichtet Dave Ashdown, Leiter des kombinierten Arbeits- und Sozialamts in Streatham. »Sie begrüßten die Verbesserung der Räumlichkeiten, die freundliche und offene Atmosphäre. Viele Leute lächeln hier, unsere Beschäftigten sind gut gelaunt und haben sich ganz unseren Besuchern verschrieben«, lobt er seine Beschäftigten.
Dave Ashdown arbeitet seit seinem Schulabschluss als Beamter in diesem Sektor. Er ist optimistisch, denn in der Erfolgsskala steht Streatham an dritter Stelle von insgesamt 17 Pilotprojekten in Großbritannien. Täglich kommen 500—600 Besucher. Schnell soll es gehen, deshalb haben sie jeweils maximal zehn Minuten Zeit, um mit ihren Beratern zu sprechen. Pro Woche wird 27 von ihnen eine Stelle vermittelt — rund 1300 im Jahr. Dem stehen jährlich 850 Besucher gegenüber, die bestraft werden, weil sie angebotene Jobs abgelehnt haben. Sie bekommen jeweils bis zu sechs Monate lang ihre Arbeitsunfähigkeitsleistungen, die Arbeitslosenunterstützung oder die Sozialhilfe entzogen.
Bisweilen sind auch die Mitarbeiter der Arbeits- und Sozialämter die Leidtragenden. Eine Umfrage der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes belegt, dass fast die Hälfte der Beschäftigten Angst vor körperlichen Angriffen hat. Nur die Beschäftigten im Transportsektor, z.B. Bahnschaffner, haben noch größere Angst vor Attacken durch die Kundschaft. Als die Trennscheiben zwischen Sachbearbeitern und Besuchern abgeschafft wurden, streikten denn auch die Beschäftigten des Arbeitsamts in Streatham. Im April 2002 weitete sich dieser Streik schließlich landesweit aus und wurde in Großbritannien zum längsten Ausstand der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in den vergangenen zwanzig Jahren.
»Das Problem war, dass unser Arbeitgeber die Trennscheiben abgeschafft hat, ohne an die persönliche Sicherheit unserer Mitglieder zu denken«, so Eddie Spence, der in der Gewerkschaft die Beschäftigten der Arbeits- und Sozialämter vertritt. »Es gab Fälle, in denen Mitarbeiter mit Gegenständen attackiert wurden, bspw. mit Messern, oder sie wurden sogar mit Schusswaffen bedroht — ein Arbeits- und Sozialamt ist keine Umgebung, in der man ohne Schutz arbeiten kann.«
Eddie Spence hat eine Liste angelegt. Sie verzeichnet mehrere Dutzend Übergriffe dieser Art für das vergangene Halbjahr. Seine Gewerkschaft wendet sich allerdings nicht nur gegen das Symptom, sondern auch gegen die Ursache der Gewalt.
»Wir wenden uns nachdrücklich dagegen, dass die Regierung Menschen mit Leistungsentzug bestraft, die nicht den Vorgaben und Standards der Arbeitsmarktpolitik entsprechen«, so Eddie Spence. Das verursache Gewalt. »Auch unsere Mitglieder sind der Ansicht, dass die Zwangsmittel ihr Ziel verfehlen.«
Doch der Streik konnte weder die Zwangsmittel verhindern, noch die Trennscheiben zwischen Berater und Beratenen erhalten. Stattdessen sind im kombinierten Arbeits- und Sozialamt in Streatham 33 Überwachungskameras und Alarmknöpfe für alle 85 Beschäftigten installiert worden.

Working poor

Es gibt noch einen weiteren Grund, der den Beschäftigten der Job Centres Plus das angeblich freundliche Lächeln gefrieren lässt. Viele von ihnen machen derzeit die Erfahrung, dass durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors auch ihr eigener Lohn sinkt. Fast 40% der Beschäftigten im öffentlichen Dienst arbeiten inzwischen für einen Bruttolohn von weniger als 15000 Pfund im Jahr. Damit gehören zwei Fünftel der Angestellten und Beamten der britischen Regierung selber zu den working poor, den Armen mit Arbeitsplatz.
»Viele tausend unserer Mitglieder müssen selbst Sozialleistungen beantragen, weil ihr Lohn so niedrig ist«, erklärt der Gewerkschaftsfunktionär. Einige Beschäftigte in den Job Centres Plus verdienten weniger als 10000 Pfund im Jahr. »Das ist kein Lohn, mit dem man einen normalen Lebensstandard erhalten kann.« Eddie Spence erläutert, dass in den kombinierten Arbeits- und Sozialämtern Prämien eingeführt werden, um die Löhne der Beschäftigten zu erhöhen. Im Job Centre Plus in Streatham werden die Mitarbeiter in eine Skala von A bis D eingeteilt und können so bis zu 1000 Pfund zusätzlich im Jahr verdienen. Honoriert wird die Anzahl der Vermittlungen und einige andere Leistungsfaktoren. Das Arbeitsministerium zahlt außerdem einen Teambonus für die Job Centres Plus, die besonders erfolgreich arbeiten, und der sich am Gesamtbudget der jeweiligen Einrichtung orientiert.
In den Job Centres Plus sind Bonuszahlungen für die einzelnen Teams in der Höhe von 7,5% vorgesehen, wenn die Belegschaft entsprechende Ziele erfüllt. Die Regierung will dieses Modell auf das ganze Ministerium ausweiten. Das wird viel Geld kosten. »Nur wenn die Anzahl der Beschäftigten weiter reduziert wird, kann dieses Modell überhaupt finanziert werden«, befürchtet Eddie Spence, »wir werden uns in der unsinnigen Situation wiederfinden, wo Mitarbeiter entlassen werden müssen, um die Bonuszahlungen zu finanzieren. Aber wenn es weniger Beschäftigte gibt, wird es unmöglich sein, die gesetzten Ziele zu erreichen. Das ist ein Teufelskreis.«
Allein im Bezirk Greater London sind Anfang dieses Jahres 500 Beschäftigte entlassen worden, als weitere Arbeits- und Sozialämter zusammengelegt wurden. Der Druck auf die Beschäftigten wird sich wiederum auf Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger auswirken. Denn wie verhält sich ein Angestellter des Arbeitsamts, wenn ein Antragsteller einen Job ablehnt und der Berater sein Vermittlungssoll nicht erfüllt?
Ein Modell, das Schule macht. Die Arbeitsmarktpolitik in Großbritannien wird in den »Beschäftigungspolitischen Leitlinien« der Europäischen Union gerne als Vorbild für andere EU-Länder zitiert. »Bei guter Arbeit gibt es dort mehr Geld«, freute sich auch die hessische Sozialministerin Silke Lautenschläger nach einem Besuch des Job Centre Plus in Streatham im Dezember vergangenen Jahres. Sie kündigte an, auch in Hessen Prämienzahlungen in den dortigen sog. Job-Offensiv- Centern einführen zu wollen.
Zurück nach London. Hudson Ereku aus Stockwell weiß nicht, wie lange er es auf seiner vom Urban Recruitment Centre vermittelten Arbeitsstelle als Reinigungskraft in einem Restaurant aushalten wird. 48 Stunden in der Woche unter hohem Druck zu arbeiten — das ist viel für einen 64-Jährigen. Sollte er aufgeben müssen, hofft er darauf, dass ihn sein Sohn unterstützt, der gerade mit der britischen Armee in Afghanistan stationiert ist.
Auch für das Kriegshandwerk finden sich Angebote in den Computerterminals der Job Centres: »Soldat bei der Infanterie. Durchschnittlich 40 Stunden die Woche. Einsatzort: Vereintes Königreich und Übersee. 10800 Pfund Einstiegsgehalt, unbefristete Anstellung. Sie müssen zwischen 16 und 27 Jahre alt sein. Berufserfahrung ist nicht erforderlich. Wir bieten Ihnen volles militärisches Training, einschließlich friedenstiftender Maßnahmen.« Die »wirtschaftlich Untätigen«, wie man Erwerbslose in Großbritannien diffamierend nennt, sollen auch als Söldner billige Reserve sein.

Gerhard Klas

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