SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2003, Seite 16

Selbstorganisation I: Argentinien

Arbeiterkontrolle macht Mut

Als ich am 21.November 2002 mein mehrstündiges Interview mit drei Frauen von Brukman Confecciones, einer von Arbeitern kontrollierten Textilfabrik in der Nähe von Buenos Aires, beendet hatte, verstand ich die Herausforderung, die ihr Beispiel für das kapitalistische System darstellt und fragte sie: »Habt ihr Angst?« »Nein«, sagten sie mit einem breiten Grinsen.
»Anfangs hatte ich Angst«, fügte eine hinzu und erinnerte an die unheimliche Nacht des 18.Dezember 2001, als sie und 19 andere ihrer 115-Personen-Belegschaft, zumeist Frauen, in der enteigneten Fabrik übernachteten, um ihre Jobs zu verteidigen. »Doch nachdem wir die Selbstverwaltung gefestigt hatten, war ich nicht länger ängstlich.« Vor dieser Nacht waren die Brukman-Brüder abgehauen, mit den Löhnen der Beschäftigten von drei Monaten, mit ihren Pensionsgeldern und den Arbeitslosigkeits- und Gesundheitsfonds, die sie auf ausländische Banken und in Immobilien beiseite schoben. Dies ist während der gegenwärtigen ökonomischen Depression üblich geworden bei Argentiniens einstmals wohlhabenden Kapitalisten.
Die Beschäftigten, deren Zahl bald auf 54 wuchs (10 davon Männer), hatten der Textilarbeitergewerkschaft nicht getraut, die die Forderungen der Brukmans nach einer Konkursabwicklung unterstützten. Durch interne demokratische Versammlungen organisierten sie eine Arbeiterkontrolle — vom Einkauf über Investitionen bis zu Löhnen und Verkauf -, die innerhalb eines Monats ins Laufen kam. Sie gaben sogar Kurse, um arbeitslose Arbeiter in gelernte Fachkräfte zu verwandeln, und begannen, sie zu gleichen Löhnen einzustellen.
Zwölfhundert Kilometer südwestlich ist vergleichbares Standardpraxis von 300 Arbeitern der arbeiterkontrollierten Keramikfabrik Zanón geworden, einer modernen Fabrik, die Porzellanprodukte für den nationalen und internationalen Markt herstellt.
Unterstützt von linken Parteien und mehreren anderen Organisationen, wurden die Arbeiter bei Zanón, Brukman und anderen besetzten Fabriken die Speerspitze einer landesweiten antikapitalistischen Bewegung, die von Arbeitern unterstützt werden, die brachliegenden städtischen und ländlichen Boden besetzt halten.
Diese Arbeiter haben die Produktion für den sozialen Gebrauch über die »normalen« Ziele der Marktproduktion ihrer ehemaligen Bosse gesetzt. Wie eine Frau mir erklärte, »ist es das kapitalistische System, das uns ruiniert hat. Wir bevorzugen, hier in unserem eigenen Laden zu verkaufen. Die Leute aus der Nachbarschaft und andere kommen her, um Kleidung zu kaufen, die wir gemacht haben. Wir wollen auch Bettlaken für die Krankenhäuser, für die Menschen, produzieren, verstehst du?«
Etwa 150 der 1200 sich im Konkursverfahren befindenden Fabriken sind durch 13000 ihrer Arbeiter »genesen« und produzieren wieder, entweder als Kooperativen oder als vollständig von den Arbeitern kontrollierte Firmen wie Zanón und Brukman. Laut dem Wall Street Journal haben manche pleite gegangenen Provinzregierungen beschlossen, diesen Trend zu befördern, um das von der ökonomischen Krise zerstörte Geschäft zu reaktivieren. In manchen Fällen bezahlt die Landesregierung sogar die Miete der besetzten Fabriken und verspricht, die Arbeiter in den nächsten ein bis zwei Jahren nicht zu räumen.

Keine Angst, nur Wut

Das Wall Street Journal hat nicht erwähnt, dass die Regierungen versuchen, die wachsende Arbeiterbewegung zu vereinahmen, während sie gleichzeitig deren antikapitalistischen, von Zanón-, Brukman- und anderen Arbeitern geführten Flügel angreifen.
Ich besuchte auch eine Metall- und Plastikfabrik, in der 300 Arbeiter die Arbeiterkontrolle einführten, sowie die Grissinópoli-Bäckerei, die seit Juni 2002 von 16 Arbeitern besetzt wird, und interviewte eine Anführerin und einen Zanón-Arbeiter, der anwesend war, um Solidaritätsarbeit zu leisten. Ein typisches Plakat verkündet: »Jaque al patrón, todo el poder al peón« — »Nehmt die Bosse in die Mangel (bildlich gesprochen), alle Macht den Arbeitern.«
Die wirtschaftliche Schrumpfung Argentiniens ist zweimal so heftig wie jene während der Großen Depression, und das Wall Street Journal schreibt: »Weder die Regierung noch die Bush-Administration haben nennenswerte Ideen geliefert, wie man Lateinamerikas drittgrößte Ökonomie wiederbeleben kann. Stattdessen wurde Argentinien bisher nur durch den Einflussreichtum von Hunderten von Basisaktivisten in Schulen, Fabriken und Nachbarschaftsorganisationen gerettet.
Ich fragte die Frau bei Brukman: »Und wenn ihr von den Repressionskräften angegriffen werdet?« Sie brach draufhin in ein kurzes, selbstsicheres Lachen aus. »Keine Angst«, antwortete eine andere, »wir sind selbstorganisiert.« Drei Tage später, in einer nächtlichen Sonntagsrazzia hatten Hunderte Bundespolizisten, manche in Uniform, manche maskiert, ohne rechtliche Grundlage Äxte benutzt, um die Brukman-Türen einzuschlagen. Mit Maschinengewehren und Funktelefonen bewaffnet und durch Sicherheitsfahrzeuge, Feuerwehren und andere Autos geschützt, verprügelten sie die die reduzierte Nachtbelegschaft und verschleppten sechs von ihnen ins Gefängnis, u.a. die neunjährige Tochter eines Arbeiters.
Von der Straße hatten Jacobo und Mario Brukman anerkennend geguckt, unterstützt von einigen anderen ihrer ehemaligen Beschäftigten. Arbeiterkinder, inkl. eines Dreijährigen, versuchten ein Lager vor der Fabrik zu errichten. Hunderte von Arbeitern, Studierenden, Arbeitslosen und Nachbarn erhoben sich, um die Fabrik zu verteidigen und die Polizei zu vertreiben. So wie sie es schon einmal getan hatten — am 16.März 2002, als sie den ersten Räumungsversuch der Polizei vereitelten. Um halb Zwölf waren die Arbeiter zurück in ihrer Fabrik und räumten die zertrümmerten Maschinen und Räume wieder auf. Am frühen Nachmittag hatten die Anwälte der Bewegung auch die Freilassung der Gefangenen erreicht. Die Neunjährige sagte: »Ich hatte keine Angst, ich war nur wütend.«

»Ist das nicht links?«

Celia, die Sprecherin der Arbeitenden, verlangte auf einer Pressekonferenz die komplette Enteignung der Firma, ein Mindestgehalt für die Arbeiterinnen und Arbeiter und staatliche Subventionen. »Ist das nicht links?«, fragte jemand. »Wenn es links ist, ein anständiges Gehalt für echte Arbeit zu verlangen, um seine Arbeitskraft zu erhalten und für viele andere zu sichern, die nach uns kommen, dann sind mehr als die Hälfte Argentiniens links.« Gefragt, ob sie immer so gesprochen habe, antwortete Celia mit »Nein« und dass vor der Übernahme von Brukmann ihre normale Sprache eher »Was soll ich kochen?« war.
Frauen wie die von Brukman haben eine zentrale Rolle im Kampf um ein »neues Argentinien« gespielt, vor und nach dem Aufstand vom Dezember 2001. Seit 1995 waren Frauen in vorderster Linie der Piquetero-Bewegung — Bewegungen, die frisch Entlassene und Millionen von bereits Arbeitslosen aus den urbanen Slums repräsentieren und durch ihre Straßenblockaden bekannt geworden sind. Ohne diese piqueteros hätte es keinen Aufstand gegeben.
Nachbarschaftsfrauen der arbeitenden und Mittelklassen waren in jenen Bevölkerungsversammlungen sehr aktiv, die materielle Hilfe für Arbeitslose und arbeiterkontrollierte Firmen organisierten. Diese Bevölkerungsversammlungen repräsentieren eine bemerkenswerte Kontinuität menschlicher Solidarität über Klassengrenzen hinweg. Und die Angstlosigkeit der Frauen ist ansteckend. Seit der Zeit der von den USA gestützten Militärdiktatur 1976—83, während der geschätzte 30000 Männer, Frauen und Kinder gefoltert wurden und verschwanden, halten sie die Menschenrechte im Vordergrund aller sozialen Kämpfe.
Frauengruppen und -kommissionen sind in diversen sozialen Sektoren entstanden und die dreitägige 17. nationale Frauenkonferenz, die im August 2002 Frauen aus allen Lebenslagen zusammenbrachte, u.a. Brukman-Frauen, proklamierte:
»Wir Frauen sind die mit einem doppelten Arbeitstag … Wir bekommen geringere Löhne für die gleiche Arbeit, die Männer tun, wir erleiden sexuelle Belästigung … und haben geringeren Zugang zur Bildung. Wir sind diejenigen, die an illegalen Abtreibungen sterben oder wegen unzureichender Hygiene während der Schwangerschaft und nach der Geburt, diejenigen, die am meisten an Unterernährung und AIDS leiden. Seit Dezember 2001 hat sich, wie auch immer, etwas in unserem Land verändert und trotz unserer Situation haben wir gezeigt, dass wir die Macht und den Mut haben, entschiedene Kämpfe zu führen. Mit derselben Entschiedenheit wollen wir die Aufgabe der Koordinierung der verschiedenen Kampfsektoren angehen.«

James Cockcroft

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang