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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2003, Seite 16

Selbstorganisation II: Venezuela

Worte und Taten im »Barrio 23 de Enero«

»Aqua Salud«, sauberes Wasser, heißt die Metrostation, die von vielen Menschen in der venezolanischen Hauptstadt Caracas bei Einbruch der Dunkelheit gemieden wird. Denn nur wenige Meter weiter beginnt das »Barrio 23 de Enero«, das Viertel des 23.Januar.
Von den wohlhabenden Schichten der venezolanischen Metropole ist das Stadtviertel wegen seiner kämpferischen Tradition mit Recht gefürchtet. Schließlich wurden die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts erbauten Wohnblocks nach dem Sturz des Diktators Marco Jiménez im Jahre 1959 von ärmeren Teilen der Bevölkerung einfach besetzt. Seitdem war das Viertel immer eine Hochburg der venezolanischen Linken.
Für die Hauptstadtpolizei ist das Barrio 23 de Enero noch immer der Hort der Subversion. Das zeigte sich erst am 11.April 2002, als die venezolanische Finanzwelt im Verein mit rechten Militärs gegen die linke Chávez- Regierung putschte. An diesem Tag erschoss die Polizei im Barrio den bekannten linken Basisaktivisten Alexis González. Nach seinem Tod haben sich weder die städtischen Behörden noch die Regierungsvertreter um seine Witwe gekümmert. Es waren Mitglieder der Coordinadora Simon Bolívar, die für den Unterhalt der Hinterbliebenen sorgten.
Die linke Stadtteilinitiative wurde nach dem Aufstand von 1989, dem sog. Caracasso, von einer kleinen Gruppe von Leuten gegründet, die schon länger in der Kultur- und Stadtteilarbeit aktiv waren. Ihr erklärtes Ziel ist die Verbindung von revolutionärer Politik mit den Alltagsinteressen der Barriobewohner. Ob es um die Reparatur eines nicht funktionierenden Aufzugs geht, um die Realisierung von ökologischen Projekten oder um die Durchführung von Sport- und Spielaktivitäten für die Kinder im Barrio. Die Stadtteilinitiative ist immer an vorderster Stelle involviert.
Dabei wird das politische Ziel hinter der Beschäftigung mit den Alltagssorgen vom Coordinadora-Aktivisten Juan Contreras gar nicht verschwiegen: »Das Einsetzen für die unmittelbaren Belange ist Teil der politischen Strategie. Es geht um Selbstorganisierung und um die politische Bewusstwerdung der Menschen im Stadtteil.« Regelmäßig werden Vollversammlungen im Veranstaltungshaus im Barrio einberufen.
Dass Kiezarbeit und große Politik keine Widersprüche sein müssen, sieht der Besucher des Barrios 23 de Enero schon an den Wänden. Befreiungskämpfe aus verschiedenen Teilen der Welt sind dort verewigt. Einen besonderen Stellenwert hat die Solidarität mit dem baskischen Befreiungskampf. Die drückte sich vor einigen Monaten auch praktisch aus. Aus Protest gegen die von der venezolanischen Regierung verfügte Ausweisung mehrerer baskischer Aktivisten, die jahrelang im Exil in Caracas lebten, traten Bewohner des Barrios in den Hungerstreik — allerdings erfolglos. Der Druck der spanischen Regierung war so stark, dass die Chávez-Regierung dem Auslieferungswunsch aus Madrid stattgegeben hat.
Es ist nicht der einzige Fall, dass ein politischer Dissens zwischen der Chávez-Regierung und den politischen Aktivisten der Coordinadora Simon Bolívar deutlich wird. Dabei machen die Mitglieder der Stadtteilinitiative allerdings immer wieder deutlich, dass sie mit den Vorwürfen gegen einen angeblichen Diktator Chávez, wie sie auch in deutschen Medien zunehmend verbreitet werden, nichts anfangen können. »Früher standen wir mit unserer Arbeit immer am Rande der Kriminalisierung. Seit Chávez an der Macht ist, wird unsere Arbeit toleriert und teilweise unterstützt«, meint ein Mitglied der Stadtteilinitiative.
Anders als Chávez, dem persönliche Integrität und Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Basisinitiativen zugestanden wird, kommen die meisten seiner Mitarbeiter nicht so gut weg. Ihnen wird administrative Politik im alten Stil und Ignoranz der Basisaktivitäten vorgeworfen. Doch auch der Präsident selbst bleibt von Kritik nicht verschont. Der Geschichtslehrer Carreras bringt sie auf den Punkt: »Wir unterstützen Chávez weniger für das, was er macht, als für das, was er sagt.«
Bei aller Kritik machen die Coordinadora-Aktivisten ihre Entschlossenheit deutlich, die Regierung Chávez gegen Angriffe von Rechts zu verteidigen. Schließlich war sie schon bei der Abwehr des rechten Putschversuchs im April 2002 an vorderster Front dabei. Doch wie man reagiert, wenn statt eines Militärschlags eine Abwahl des Präsidenten mittels eines in der Verfassung verankerten Referendums erfolgt, ist unklar.

Peter Nowak

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