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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2003, Seite 19

Fünf Tage am Genfer See

100000 demonstrierten gegen G8-Gipfel

Fünf Tage lang, vom 29.Mai bis 2.Juni, waren die Städte rund um den Genfer See — Genf, Annemasse und Lausanne — Bühne der größten Mobilisierungen, die es hier jemals gegeben hat.
Der G8-Gipfel, gegen den sich die Mobilisierungen richteten, fand zwei Monate nach der Einnahme von Bagdad statt. Er wurde zum Symbol der »Versöhnung« zwischen den großen Staaten, wenige Tage nachdem der UN- Sicherheitsrat einstimmig der britisch-amerikanische Besatzung seine Unterstützung ausgesprochen hatte.
Hinter der förmlichen Fassade der Versöhnung erbrachte der Gipfel jedoch nur sehr schwache Ergebnisse. Das Schlusskommuniqué besteht vor allem auf der Wichtigkeit, auf der Ministerkonferenz der WTO in Cancún im September einen Konsens zu finden.
Die Mobilisierung war mit 100000 Teilnehmenden ein voller Erfolg, der nicht von vornherein ausgemacht war. Die Städte sind klein: 250000 Einwohner in Genf, 120000 in Lausanne, in Annemasse noch viel weniger. Die Kampagne der Polizei und der örtlichen Medien gegen die anrückenden »Horden von Randalierern« war gewaltig. Vor allem aber gab es im benachbarten Frankreich, dem Gastgeberland des Gipfels, eine sehr große soziale Bewegung zur Verteidigung der Rente und der öffentlichen Dienste; die Lehrer waren seit Wochen im unbefristeten Streik.
Die Demonstrationen am 13. und 15.Mai hatten Millionen Menschen auf die Straße gebracht, und die Aktivisten bereiteten einen branchenübergreifenden Streik für den 3.Juni vor. Für die Streikenden und Demonstrierenden aus Frankreich bestand eine sehr starke Verbindung zwischen ihrem Kampf und der liberalen Globalisierung: die Infragestellung der gesetzlichen Altersversorgung und die Angriffe auf den öffentlichen Dienst stehen im Mittelpunkt der neoliberalen Politik, die von den internationalen Institutionen empfohlen und in der ganzen Welt umgesetzt wird.
In der Praxis war es also durchaus schwer, gleichzeitig eine nationale Demonstration in Paris am 25.Mai, eine europäische Demonstration in Genf und Annemasse am 1.Juni und einen unbefristeten Streik vorzubereiten, der am Abend des 2.Juni beginnen sollte. Umso mehr kann die Beteiligung als ein voller Erfolg gelten, aber die Masse war es nicht allein, die den Erfolg von Evian ausgemacht hat.

Strukturierung

Als vor einigen Monaten eine gemeinsame Koordination auf die Beine gestellt wurde, beschloss man eine flexible und minimalistische Funktionsweise, die den verschiedenen Gruppen, die gegen den G8-Gipfel mobilisierten, vollständige Autonomie gewähren sollte. Das war der einzig mögliche Weg, ein breites Spektrum von Aktiven zusammenzuführen, dessen Bandbreite von anarchistischen Strömungen bis zur Sozialistischen Partei reichte, inkl. zahlreicher Gewerkschaften, NGOs, Bewegungen und Initiativen.
Diese Verschiedenheit hat sich auch geografisch abgebildet. Von Anfang an hatte man beschlossen, auf europäischer Ebene zusammenzuarbeiten, mit Vertretern von Bewegungen aus Italien, Deutschland, Großbritannien, aber vor allem der Schweiz und Frankreich. In den beiden letztgenannten Ländern haben regionale und örtliche Bündnisse eine zentrale Rolle gespielt: das Genfer Sozialforum für den Kanton Genf, das Komitee Anti-G8 für Lausanne und den Kanton Waadt, Chargé in Annemasse und Hochsavoyen.
Die Demonstration vom 1.Juni zwischen Genf und Annemasse war die einzige Initiative, die von allen Gruppen gemeinsam getragen wurde; die anderen Initiativen wurden von einzelnen Gruppen oder Bündnissen getragen. Die europäische Koordination hatte sich am 1. und 2.März darauf geeinigt, dass alle untereinander mit den verschiedenen Aktionen solidarisch sein würden, solange sie friedlich und gewaltfrei wären.
Der Erfolg der Mobilisierung ist also zunächst ein Erfolg dieses Ansatzes und der Initiativen, die in den fünf Tagen an Genfer See ergriffen wurden.

Alternativcamps

Es gab vier solcher Camps: das VAAAG, das hauptsächlich von libertären und anarchistischen Strömungen geführt war und etwa 3000 Menschen umfasste; das VIG, das politisch bunter zusammengesetzt war und 5000 Menschen umfasste; ein »G-Punkt« — ein Frauendorf; und ein Camp von Fans der Technomusik.
Die Idee dazu speiste sich wesentlich aus zwei Motiven: die positive Erfahrung mit dem »No-Border«-Camp in Straßburg im Sommer 2002, die viele auf größerer Skala wiederholen wollten, und die Absicht, sich nicht in Aktionen hineinziehen zu lassen — z.B. Versuche, so nah wie möglich an die rote Zone heranzukommen —, die eine Spirale der Gewalt hätten auslösen können. Die Camps boten die Möglichkeit, einige Tage lange Lebensformen zu erproben, die mit den Regeln des Systems brachen.
Teilnehmenden wie auch Besucher der Camps haben eine enthusiastische Bilanz dieser Erfahrung gezogen — wegen der Fähigkeit jedes dieser Camps zur Selbstverwaltung, wegen des Austauschs und der Koordination untereinander und wegen der zahlreichen Debatten und Initiativen, die es vor Ort gab.

Gegengipfel

Straßenaktionen und Debatten wechselten sich rege ab; insofern stand diese Mobilisierung in der Tradition des ESF-Treffens in Florenz, wo es einen doppelten Erfolg gab: der der Debatten und Kontakte und der der Demonstration gegen Krieg und Neoliberalismus.
Es gab zwei Sorten von Diskussionsveranstaltungen:
♦  Konferenzen, in denen Standpunkte und Analysen vorgetragen und diskutiert wurden — organisiert von Attac/ Genf, das belgische Kollektiv für die Schuldenstreichung CADTM und ein Bündnis von NGOs »Gipfel für eine andere Welt«;
♦  Bündnisse von Aktivisten, die in Annemasse, Genf oder Annecy die Möglichkeit boten, sich über den Stand von Kampagnen und Mobilisierungen auszutauschen: so die Antikriegskampagne oder die Mobilisierung zur Verteidigung der Rente und der öffentlichen Dienste. Sie ermöglichten auch, kommende Initiativen wie die zum WTO-Ministertreffen in Cancún im September vorzubereiten.

Blockaden

Die Blockaden am Sonntag morgen dienten nicht dem Zweck, den G8-Gipfel zu verhindern. Dessen Ablauf sollte behindert und das gesamte Begleitpersonal genötigt werden, entweder den Hubschrauber oder das Schiff zu nehmen, um von ihren Hotels in Lausanne oder Genf zum Gipfel nach Evian zu kommen. Damit wollten man zeigen, dass die schweizerische und französische Bevölkerung den G8-Gipfel als illegitim betrachtete.
In Genf wurden um 6 Uhr morgens die Brücken besetzt; trotz einiger Spannnungen mit der Polizei, die massiv präsent war, gab es keinen ernsthaften Zwischenfall.
Auf der Straße von Annemasse nach Evian besetzten 2000 Aktivisten aus den umliegenden Orten strategische Kreuzungen mit der Absicht, sie zu blockieren. Dies gelang, mehrere hundert von ihnen konnten Stunden lang die Straße friedlich besetzt halten, obwohl mehrfach Tränengasgranaten abgeschossen wurden.
Am härtesten war die Situation in Lausanne, wegen des brutalen Eingreifens der Polizei. Ein britischer Umweltaktivist fiel 20 Meter tief, weil ein Polizist das Seil durchtrennt hatte, an dem er sich festgemacht hatte, das den Verkehr auf der Autobrücke zwischen Genf und Lausanne behinderte. Die Polizei hatte Alternativcamps in Lausanne gestürmt und Hunderte junger Demonstranten festgenommen.

Gewalt

Sowohl auf französischer wie auf Schweizer Seite gab es eine gewaltige Mobilisierung der Polizei; die Schweizer hatten sogar Einheiten des Bundesgrenzschutzes aus Deutschland angefordert. Die Zusammenstöße waren am Ende weitaus geringer als in Genua, und sie wären noch geringer gewesen, hätte die Polizei die Situation nicht verschärft.
Auf französischer Seite gab es nur einen Zwischenfall Samstag vor dem Saal, in dem die Sozialistische Partei eine Versammlung durchführen wollte.
Auf Schweizer Seite waren die Zwischenfälle bedeutender. In der Nacht zum Sonntag schlug eine Gruppe von etwa hundert nicht identifizierbaren Menschen — es gab von ihnen weder Forderungen noch Verhaftungen — zahlreiche Schaufensterscheiben ein und setzte mehrere Brände, die Menschenleben gefährdet haben; eine Garage mitten in einem Wohnblock wurde vollständig abgebrannt.
Die Polizei reagierte in dieser Nacht kaum, dafür ging sie in Genf umso härter nach dem Ende der Demonstration am 1.Juni vor, aber auch am Abend vom 2.Juni, als die letzten abreisten. Während dieser Prügelorgien wurde ein Journalist schwer verletzt und das alternative Zentrum »L‘Usine« in der Stadt brutal geräumt. Damit nicht zufrieden, haben die Genfer Behörden »auf unabsehbare Zeit« jede Demonstration und Versammlung verboten!
Die Demonstration am 1.Juni hatte gezeigt, dass die Bewegung an Reife gewinnt. Die Situation in der Bewegung ist in der romanischen Schweiz (v.a. im Kanton Genf) ganz anders als in der deutschen Schweiz (in den Kantonen Bern und Zürich). In Genf war die Protestbewegung gegen den G8-Gipfel — ähnlich wie in Frankreich und Italien — sehr breit: alle Gewerkschaften und alle Linksparteien hatten zur Demonstration aufgerufen. Radikale Protestierende konnten sich als Teil einer breiteren Bewegung fühlen, die ein Maximum an Menschen für ein politisches Ziel mobilisieren wollte: die Ablehnung der G8, des Krieges und des Neoliberalismus. Solche Bezüge sind in Zürich oder Bern viel schwächer, und radikale, meist sehr junge Aktivisten, suchten in der Gewalt eine Form, ihre Ablehnung einer ungerechten Gesellschaft auszudrücken.

Die große Breite der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel hat es ermöglicht, den Bruch zwischen diesen beiden Teilen nicht zu tief werden zu lassen; so haben sich die jungen Radikalen aus Zürich und Bern am 1.Juni der Demonstration bis nach Annemasse angeschlossen.
Auf dem Bilanztreffen in Paris wurde der Vorschlag gemacht, auf dem ESF im November ein Seminar durchzuführen, auf dem die Erfahrungen mit den großen Mobilisierungen der letzten Jahre ausgetauscht und ausgewertet werden können.

Christophe Aguiton

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