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Fünf Tage lang, vom 29.Mai bis 2.Juni, waren die Städte rund um den Genfer See Genf, Annemasse und
Lausanne Bühne der größten Mobilisierungen, die es hier jemals gegeben hat.
Der G8-Gipfel, gegen den sich die Mobilisierungen richteten, fand zwei Monate nach der
Einnahme von Bagdad statt. Er wurde zum Symbol der »Versöhnung« zwischen den großen Staaten, wenige Tage nachdem der UN-
Sicherheitsrat einstimmig der britisch-amerikanische Besatzung seine Unterstützung ausgesprochen hatte.
Hinter der förmlichen Fassade der Versöhnung erbrachte der Gipfel jedoch nur
sehr schwache Ergebnisse. Das Schlusskommuniqué besteht vor allem auf der Wichtigkeit, auf der Ministerkonferenz der WTO in Cancún im
September einen Konsens zu finden.
Die Mobilisierung war mit 100000 Teilnehmenden ein voller Erfolg, der nicht von vornherein
ausgemacht war. Die Städte sind klein: 250000 Einwohner in Genf, 120000 in Lausanne, in Annemasse noch viel weniger. Die Kampagne der Polizei und
der örtlichen Medien gegen die anrückenden »Horden von Randalierern« war gewaltig. Vor allem aber gab es im benachbarten
Frankreich, dem Gastgeberland des Gipfels, eine sehr große soziale Bewegung zur Verteidigung der Rente und der öffentlichen Dienste; die Lehrer
waren seit Wochen im unbefristeten Streik.
Die Demonstrationen am 13. und 15.Mai hatten Millionen Menschen auf die Straße
gebracht, und die Aktivisten bereiteten einen branchenübergreifenden Streik für den 3.Juni vor. Für die Streikenden und Demonstrierenden
aus Frankreich bestand eine sehr starke Verbindung zwischen ihrem Kampf und der liberalen Globalisierung: die Infragestellung der gesetzlichen
Altersversorgung und die Angriffe auf den öffentlichen Dienst stehen im Mittelpunkt der neoliberalen Politik, die von den internationalen Institutionen
empfohlen und in der ganzen Welt umgesetzt wird.
In der Praxis war es also durchaus schwer, gleichzeitig eine nationale Demonstration in Paris
am 25.Mai, eine europäische Demonstration in Genf und Annemasse am 1.Juni und einen unbefristeten Streik vorzubereiten, der am Abend des 2.Juni
beginnen sollte. Umso mehr kann die Beteiligung als ein voller Erfolg gelten, aber die Masse war es nicht allein, die den Erfolg von Evian ausgemacht hat.
Als vor einigen Monaten eine gemeinsame Koordination auf die Beine gestellt wurde, beschloss man eine flexible und minimalistische Funktionsweise, die
den verschiedenen Gruppen, die gegen den G8-Gipfel mobilisierten, vollständige Autonomie gewähren sollte. Das war der einzig mögliche
Weg, ein breites Spektrum von Aktiven zusammenzuführen, dessen Bandbreite von anarchistischen Strömungen bis zur Sozialistischen Partei
reichte, inkl. zahlreicher Gewerkschaften, NGOs, Bewegungen und Initiativen.
Diese Verschiedenheit hat sich auch geografisch abgebildet. Von Anfang an hatte man
beschlossen, auf europäischer Ebene zusammenzuarbeiten, mit Vertretern von Bewegungen aus Italien, Deutschland, Großbritannien, aber vor allem
der Schweiz und Frankreich. In den beiden letztgenannten Ländern haben regionale und örtliche Bündnisse eine zentrale Rolle gespielt: das
Genfer Sozialforum für den Kanton Genf, das Komitee Anti-G8 für Lausanne und den Kanton Waadt, Chargé in Annemasse und
Hochsavoyen.
Die Demonstration vom 1.Juni zwischen Genf und Annemasse war die einzige Initiative, die
von allen Gruppen gemeinsam getragen wurde; die anderen Initiativen wurden von einzelnen Gruppen oder Bündnissen getragen. Die europäische
Koordination hatte sich am 1. und 2.März darauf geeinigt, dass alle untereinander mit den verschiedenen Aktionen solidarisch sein würden, solange
sie friedlich und gewaltfrei wären.
Der Erfolg der Mobilisierung ist also zunächst ein Erfolg dieses Ansatzes und der
Initiativen, die in den fünf Tagen an Genfer See ergriffen wurden.
Es gab vier solcher Camps: das VAAAG, das hauptsächlich von libertären und anarchistischen Strömungen geführt war und etwa
3000 Menschen umfasste; das VIG, das politisch bunter zusammengesetzt war und 5000 Menschen umfasste; ein »G-Punkt« ein
Frauendorf; und ein Camp von Fans der Technomusik.
Die Idee dazu speiste sich wesentlich aus zwei Motiven: die positive Erfahrung mit dem
»No-Border«-Camp in Straßburg im Sommer 2002, die viele auf größerer Skala wiederholen wollten, und die Absicht, sich nicht
in Aktionen hineinziehen zu lassen z.B. Versuche, so nah wie möglich an die rote Zone heranzukommen , die eine Spirale der Gewalt
hätten auslösen können. Die Camps boten die Möglichkeit, einige Tage lange Lebensformen zu erproben, die mit den Regeln des
Systems brachen.
Teilnehmenden wie auch Besucher der Camps haben eine enthusiastische Bilanz dieser
Erfahrung gezogen wegen der Fähigkeit jedes dieser Camps zur Selbstverwaltung, wegen des Austauschs und der Koordination untereinander und
wegen der zahlreichen Debatten und Initiativen, die es vor Ort gab.
Straßenaktionen und Debatten wechselten sich rege ab; insofern stand diese Mobilisierung in der Tradition des ESF-Treffens in Florenz, wo es einen
doppelten Erfolg gab: der der Debatten und Kontakte und der der Demonstration gegen Krieg und Neoliberalismus.
Es gab zwei Sorten von Diskussionsveranstaltungen:
♦ Konferenzen, in denen Standpunkte und Analysen vorgetragen und
diskutiert wurden organisiert von Attac/ Genf, das belgische Kollektiv für die Schuldenstreichung CADTM und ein Bündnis von NGOs
»Gipfel für eine andere Welt«;
♦ Bündnisse von Aktivisten, die in Annemasse, Genf oder Annecy
die Möglichkeit boten, sich über den Stand von Kampagnen und Mobilisierungen auszutauschen: so die Antikriegskampagne oder die Mobilisierung
zur Verteidigung der Rente und der öffentlichen Dienste. Sie ermöglichten auch, kommende Initiativen wie die zum WTO-Ministertreffen in
Cancún im September vorzubereiten.
Die Blockaden am Sonntag morgen dienten nicht dem Zweck, den G8-Gipfel zu verhindern. Dessen Ablauf sollte behindert und das gesamte Begleitpersonal
genötigt werden, entweder den Hubschrauber oder das Schiff zu nehmen, um von ihren Hotels in Lausanne oder Genf zum Gipfel nach Evian zu kommen.
Damit wollten man zeigen, dass die schweizerische und französische Bevölkerung den G8-Gipfel als illegitim betrachtete.
In Genf wurden um 6 Uhr morgens die Brücken besetzt; trotz einiger Spannnungen mit
der Polizei, die massiv präsent war, gab es keinen ernsthaften Zwischenfall.
Auf der Straße von Annemasse nach Evian besetzten 2000 Aktivisten aus den
umliegenden Orten strategische Kreuzungen mit der Absicht, sie zu blockieren. Dies gelang, mehrere hundert von ihnen konnten Stunden lang die Straße
friedlich besetzt halten, obwohl mehrfach Tränengasgranaten abgeschossen wurden.
Am härtesten war die Situation in Lausanne, wegen des brutalen Eingreifens der Polizei.
Ein britischer Umweltaktivist fiel 20 Meter tief, weil ein Polizist das Seil durchtrennt hatte, an dem er sich festgemacht hatte, das den Verkehr auf der
Autobrücke zwischen Genf und Lausanne behinderte. Die Polizei hatte Alternativcamps in Lausanne gestürmt und Hunderte junger Demonstranten
festgenommen.
Sowohl auf französischer wie auf Schweizer Seite gab es eine gewaltige Mobilisierung der Polizei; die Schweizer hatten sogar Einheiten des
Bundesgrenzschutzes aus Deutschland angefordert. Die Zusammenstöße waren am Ende weitaus geringer als in Genua, und sie wären noch
geringer gewesen, hätte die Polizei die Situation nicht verschärft.
Auf französischer Seite gab es nur einen Zwischenfall Samstag vor dem Saal, in dem die
Sozialistische Partei eine Versammlung durchführen wollte.
Auf Schweizer Seite waren die Zwischenfälle bedeutender. In der Nacht zum Sonntag
schlug eine Gruppe von etwa hundert nicht identifizierbaren Menschen es gab von ihnen weder Forderungen noch Verhaftungen zahlreiche
Schaufensterscheiben ein und setzte mehrere Brände, die Menschenleben gefährdet haben; eine Garage mitten in einem Wohnblock wurde
vollständig abgebrannt.
Die Polizei reagierte in dieser Nacht kaum, dafür ging sie in Genf umso härter
nach dem Ende der Demonstration am 1.Juni vor, aber auch am Abend vom 2.Juni, als die letzten abreisten. Während dieser Prügelorgien wurde ein
Journalist schwer verletzt und das alternative Zentrum »LUsine« in der Stadt brutal geräumt. Damit nicht zufrieden, haben die Genfer
Behörden »auf unabsehbare Zeit« jede Demonstration und Versammlung verboten!
Die Demonstration am 1.Juni hatte gezeigt, dass die Bewegung an Reife gewinnt. Die
Situation in der Bewegung ist in der romanischen Schweiz (v.a. im Kanton Genf) ganz anders als in der deutschen Schweiz (in den Kantonen Bern und
Zürich). In Genf war die Protestbewegung gegen den G8-Gipfel ähnlich wie in Frankreich und Italien sehr breit: alle
Gewerkschaften und alle Linksparteien hatten zur Demonstration aufgerufen. Radikale Protestierende konnten sich als Teil einer breiteren Bewegung
fühlen, die ein Maximum an Menschen für ein politisches Ziel mobilisieren wollte: die Ablehnung der G8, des Krieges und des Neoliberalismus.
Solche Bezüge sind in Zürich oder Bern viel schwächer, und radikale, meist sehr junge Aktivisten, suchten in der Gewalt eine Form, ihre
Ablehnung einer ungerechten Gesellschaft auszudrücken.
Die große Breite der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel hat es ermöglicht, den Bruch zwischen diesen beiden Teilen nicht zu tief werden
zu lassen; so haben sich die jungen Radikalen aus Zürich und Bern am 1.Juni der Demonstration bis nach Annemasse angeschlossen.
Auf dem Bilanztreffen in Paris wurde der Vorschlag gemacht, auf dem ESF im November ein
Seminar durchzuführen, auf dem die Erfahrungen mit den großen Mobilisierungen der letzten Jahre ausgetauscht und ausgewertet werden
können.
Christophe Aguiton
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