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Die IG Metall steckt in einer schweren Führungskrise. Der verlorene Streik um die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche
in Ostdeutschland hat die schon länger bestehenden Spannungen in den Leitungsgremien schlagartig offenbart. Der vorzeitige Rücktritt des
1.Vorsitzenden Zwickel, der aus Altersgründen zum nächsten ordentlichen Gewerkschaftstag im Oktober ohnehin nicht mehr angetreten
wäre, ist ein weiteres Manöver im innerorganisatorischen Strömungskampf, symbolisiert aber auch dessen persönliches Scheitern.
Vordergründig geht es um die Verantwortung für die Streikniederlage und auf dieser Basis um den Versuch eines Rollbacks bei den
Entscheidungen um die Vorstandsnachfolge. Noch im Frühjahr hatte der Vorstand sich auf den stellvertretenden Vorsitzenden Jürgen Peters
(»Traditionalist«) als Zwickel-Nachfolger und den Stuttgarter Bezirksleiter Berthold Huber (»Reformer«) als Stellvertreter
verständigt. Dieser Strömungskompromiss sollte dem Gewerkschaftstag vorgeschlagen werden.
Nachdem es bisher so aussah, als ob diese sog. Tandemlösung hinfällig
wäre, wurde sie auf der ersten erweiterten Vorstandssitzung nach Zwickels Rücktritt wiederbelebt. Im Kern steht die größte, bisher
relativ kritische und kampfstarke Einzelgewerkschaft der Welt vor einer Richtungsentscheidung. Es geht um nichts weniger als das Verhältnis der IG
Metall zur neoliberalen »Politik der Mitte« und imperialen Standortlogik. Die Entscheidung wird Folgen für den gesamten DGB und das
allgemeine Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit haben.
Scheitern des »Bündnis für Arbeit«, mäßige Tariferfolge in den letzten Jahren, Erosion der
Flächentarifverträge, innerdeutsches West-Ost-Gefälle, antisoziale Offensive der Schröder-Regierung (»Agenda 2010«),
gewerkschaftsfeindliches Trommelfeuer aus Unternehmertum und Politik sowie massive Mitgliederverluste das sind die eigentlich bestimmenden
Faktoren des Streits in den Führungsgremien der IG Metall.
Dort existieren zwei Hauptrichtungen, die durchaus ihre Unterströmungen und
Überschneidungen haben: Einerseits wirtschaftspolitische Linkskeynesianer, die auf eine relative Eigenständigkeit gegenüber der SPD-
Grüne-Regierung pochen, Mobilisierungen und Streiks noch einzusetzen bereit sind, um Lohnverluste zu begrenzen, soziale Errungenschaften zu
verteidigen und Steuerpolitik für die Reichen zu kritisieren, sowie auf der anderen Seite diejenigen, die sich den neoliberalen Dogmen unterworfen haben
und der »Standort«logik folgen. Ihre Markenzeichen: Weitgehender Verzicht auf Verteilungskämpfe, »Begleitung« und
»Mitgestaltung« des Abbaus der Sozialsysteme.
In der gleichgeschalteten Meinungsmache von FAZ bis Taz und sekundiert von hochbezahlten
und interessenbewussten Auto-Betriebsratsfürsten stellt sich diese Auseinandersetzung als eine zwischen
»Betonköpfen«/»Blockierern« und »Reformern« dar. Zahlreiche anderslautende Stellungnahmen von der Basis
werden schlicht wegzensiert. Heuchlerisch machen sich Politiker und Verbandsvertreter über die »Handlungsfähigkeit« der IGM
Sorgen.
Dem Kanzler, der ebenfalls gegen den Streik war und im Hintergrund massiv auf
Streikeinstellung gedrängt hatte, bevor es zu einem neuen Treffen mit den Gewerkschaftsoberen in Sachen Agenda 2010 kam, ist sehr daran gelegen, die
bisher kritische Haltung der IG Metall los zu werden. In den nächsten Wochen über die Personalentscheidungen auf dem teilweise
vorgezogenen Gewerkschaftstag Ende August bis zur Fortsetzung im Oktober entscheiden sich der künftige Weg und das künftige Profil der
IG Metall zwischen Widerstand und Anpassung.
Einstimmig hatte der Vorstand im Frühjahr die Kündigung der Arbeitszeitbestimmungen für die ostdeutschen Tarifgebiete und die
Urabstimmung beschlossen. Immerhin waren die zuständigen Arbeitgeberverbände noch vor Jahresfrist zu neuen Verhandlungen über die
Arbeitzeitangleichung Ost-West bereit. Was einstimmig beschlossen wurde, war aber nicht einstimmig gewollt.
Das zeigte sich bereits auf der Arbeitszeitkonferenz vom letzten Oktober, aber auch am
Streikkonzept, das offensichtlich nur ein Kompromiss war. Kein Betrieb sollte länger als zwei Tage bestreikt werden, um Fernwirkungen weitgehend zu
vermeiden. Wenig realitätstauglich, wie sich später zeigen sollte, da wichtige Streikbetriebe sich nicht auf ein kaum wirksames Stop and go
beschränken lassen wollten und die Gefahr der Demoralisierung deutlich wurde.
Dem Streik ging aber auch eine falsche Einschätzung der politischen Lage voraus. Nach
den Bundestagswahlen vom September 2002 begann die feindselige Kampagne gegen den angeblichen »Gewerkschaftsstaat«, mit Westerwelle
(FDP) und Merz (CDU) an der Spitze und gefüttert von entsprechenden Einflussdossiers im Spiegel. Angesichts der zersplitterten und schwachen
Mobilisierungen gegen die Agenda 2010 konnte der süffisante Kanzler Schröder dem DGB und hier vor allem den Gewerkschaften IG
Metall und Ver.di die kalte Schulter zeigen. Das bereits 1995 erstmals von Zwickel propagierte »Bündnis für Arbeit«, die
»sozialpartnerschaftliche« Veranstaltung für Sozialabbau, Lohnverzicht und arbeitsrechtlichen Rückschritt, war längst tot.
Gescheitert war es allerdings nicht am rechten DGB-Flügel.
Die Ergebnisse der regierungsamtlich eingesetzten »Hartz-Kommission«
die wieder einmal die Arbeitslosen, nicht aber die Arbeitslosigkeit zum Ziel hatte wurden vom rechten DGB-Flügel ebenso begrüßt,
vom linken Flügel jedoch nicht ernsthaft bekämpft. Durch die Ablösung des »glücklosen« früheren IG-Metall-Vize,
Arbeitsminister Riester, durch Clement war ein weiterer wichtiger Transmissionsriemen ins Kabinett gerissen.
Voraussetzung für den Erfolg mit der »35« im Osten wäre eine
bundesweite, langfristige Kampagne für die Angleichung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse gewesen. Dazu war der Flügel um Zwickel aber
nicht bereit. Die Notwendigkeit bestand objektiv nicht nur wegen des Widerstands aus Politik und Unternehmerlager, die sich durch immer neue
Vorstöße zur Arbeitszeitverlängerung hervortun, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass kollektive Arbeitszeitverkürzung auch
durch eigene Schuld der Gewerkschaften kaum mehr populär ist.
Dass die IG Metall zu solchen Kampagnen grundsätzlich in der Lage ist, hat sie im
Vorfeld der Tarifbewegung 1984 bewiesen, bei der es um die Einführung der 35-Stunden-Woche in Westdeutschland ging. Sie zeigte sich damals in der
Lage, Arbeitszeitverkürzung als Instrument gegen Arbeitslosigkeit und zur Verbesserung der Lebensqualität zu popularisieren.
Abgesehen von Flugblättern aus der Frankfurter IG-Metall-Zentrale, betrieblichen
Solidaritätsadressen, wenigen organisierten Westbesuchen bei den Streikenden, der einen oder anderen Betriebsversammlung (v.a. bei VW) und ab der
dritten Woche der Entsendung von Streikposten, war die Auseinandersetzung in Sachsen und Berlin/ Brandenburg kein großes Thema in Betrieben und
Gewerkschaftsversammlungen im Westen.
Die scheinbar guten Ergebnisse der Urabstimmung in der Stahl- und metallverarbeitenden
Industrie wirkten ebenso »beruhigend« wie der relativ schnelle Abschluss für die ostdeutsche Stahlindustrie, wobei dieser über eine
stufenweise Einführung der 35-Stunden-Woche schon so viele Hintertüren offen lässt, dass er kaum noch als Erfolg abgebucht werden kann.
Außerdem darf nicht übersehen werden, dass der gewerkschaftliche
Organisationsgrad und die Kampfkraft in der faktischen »Sonderwirtschaftszone Ost« nach wie vor prekär sind. Interviews aus
Metallbetrieben vor dem Streik zeigten die zwiespältige Haltung der Beschäftigten: Man war sich des »Standortvorteils« aufgrund
geringerer Einkommen und längerer Arbeitszeiten ebenso »bewusst« wie der lahmenden Konjunktur. Dagegen stand ein Gefühl der
»Gerechtigkeitslücke« gegenüber dem Westen und gegenüber anderen Sektoren im Osten, wo einkommensmäßige
Angleichungsschritte schon erfolgt waren.
Andererseits gab es aber auch Loyalität gegenüber der IG Metall nach dem Motto:
»Wenn schon, denn schon«. In dieser Lage, täglich zugespitzt durch Anpöbeleien, Streikbruch, Entsolidarisierung und Hetze gegen den
»Wahnsinnsstreik«, wurde dem Kampf durch neun Haustarifverträge zusätzlich Stoßkraft entzogen und das Prinzip
Flächentarifvertrag beschädigt.
Der eigentliche Wendepunkt kam allerdings im Gefolge der Betriebsräte- und
Vertrauenskörperleiterkonferenz der Automobilbranche zu Beginn der vierten Streikwoche. Inzwischen waren Autokonzerne aufgrund ihrer Just-in-time-
Strukturen und der Weigerung, ihre Vorratshaltung zu ändern, massiv durch Fernwirkungen betroffen. Tausende mussten in Kurzarbeit, das Murren in den
betroffenen Belegschaften wurde unüberhörbar und die Kapitalseite unternahm einen wahren Sturmlauf gegen den Streik.
Einer Solidaritätserklärung folgte zwei Tage später die öffentliche
Forderung nach Beendigung des Streiks durch den Konzernbetriebsratsvorsitzenden von Opel, Franz, der wenige Tage später von dem Bochumer IGM-
Bevollmächtigten Hinse mit einer Rücktrittsforderung an das für die Tarifpolitik verantwortliche Vorstandsmitglied Jürgen Peters noch
getoppt wurde. Statt die Folgewirkungen des Streiks bei BMW, Opel und VW für Solidaritätsaktionen im Automobilbereich zu nutzen, griffen sie
die antigewerkschaftliche Hetze von der angeblich arbeitsplatzgefährdenden Wirkung des Streiks auf. Eine Steilvorlage für Kapital und
Gewerkschaftsgegner!
Die Kaltschnäuzigkeit des sächsischen Arbeitgeberverbands VMSE, mit der dieser
am 28.Juni einen zwischen Peters, Zwickel und Kannegießer von Gesamtmetall ins Auge gefassten Tarifkompromiss ablehnte und auch weitere
gewerkschaftliche Zugeständnisse mit neuen Forderungen konterte, zeigt, wie genau dieser Verband die Spaltungslinien in der IG Metall
einschätzte.
Vorbei an den Entscheidungsgremien erklärte Zwickel dann den Streik für
beendet. Die Sitzung der regionalen Großen Tarifkomission konnte am nächsten Tag nur noch Vollzug melden. Das Debakel war komplett, das
Ergebnis ein tarifloser Zustand. Wieder einmal mussten sich die Menschen im Osten als vom Westen instrumentalisiert fühlen. Viele Streikaktivisten
machten ihrer Empörung über die Kampagne der westlichen Hausbetriebsrätelobby und den Streikabbruch öffentlich Luft.
Während in der Woche nach dem Streikabbruch vor allem im Westen schnelle Urteile über die persönliche Verantwortung des IGM-
Bezirksleiters Hasso Düvel und Jürgen Peters gefällt wurden, einige Bezirksleiter und Konzernbetriebsratsvorsitzende (KBR), aller Art
Kanzlergetreue und letztlich auch Zwickel selbst den Rücktritt beider forderten, formierte sich Widerstand.
Die gemeinsame Tarifkommission von Sachsen, Brandenburg und Berlin kritisierte die
öffentlichen Aufrufe zum Streikabbruch als völlig unakzeptabel und warnte davor, auf dem Rücken der Streikenden die Personaldebatte
über die Nachfolge von Zwickel wieder in Gang zu setzen. Zahlreiche Vertrauenskörper und Einzelmitglieder forderten ein Ende der
Selbstzerfleischung und eine sachliche Aufarbeitung der Streikniederlage.
Die Gefahr einer Ost-West-Spaltung wurde beschworen. So forderte die VKL der Thyssen-
Krupp-Tochter Eisenbahn und Häfen GmbH in Duisburg eine »für die Mitgliedschaft und die Funktionsträger transparente
Aufarbeitung der gescheiterten Auseinandersetzung«, warnte vor weiterer Entsolidarisierung und kritisierte die Haltung der KBR-Vorsitzenden von Opel,
Daimler Chrysler, dem bayerischen Bezirksleiter Neugebauer und dem Bochumer Bevollmächtigten Hinse. Dessen Positionierung, ausgegeben als die der
IG Metall Bochum, wurde von der Opel-VKL scharf angegriffen. Außerordentliche Delegierten- und Funktionärsversammlungen in Gera und
Zwickau stellten sich hinter Peters und Düvel. Peters sprach unter Beifall auf einer Betriebsversammlung des VW-Werks in Mosel.
Mit dem Vorwurf an Peters, er hätte mit einem veränderten Streikkonzept den
Vorstand »getäuscht« und nicht gewollte Fernwirkungen des Streiks zugelassen, leitete Zwickel seine Kampagne für den
Rücktritt von Peters ein. Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Thyssen-Krupp Stahl, Willy Segerath, forderte noch auf der Sitzung den Rücktritt
von Peters und seinen Verzicht auf eine Kandidatur zum Vorsitzenden. Auch die ganztägige Vorstandssitzung am 8.7., auf der kontrovers über die
Streikbilanz diskutiert wurde, brachte keine Konfliktlösung. Jede Variante individueller oder kollektiver Rücktritte hätte für Peters das
Aus bedeutet, für alle anderen jedoch nicht. Huber, der noch im Frühjahr von Zwickel persönlich zu seinem Nachfolger vorgeschlagen, aber
aufgrund der Mehrheitsverhältnisse schließlich »im Tandem« mit Peters aufgestellt worden war, zog seine Kandidatur zurück.
Der kurze Zeit später einstimmig vom geschäftsführenden Vorstand
gewollte, teilweise vorgezogene Gewerkschaftstag Ende August soll nicht mit einer allgemeinen Strategiediskussion verbunden werden. Dies und das nach dem
Zwickel-Rücktritt am 22.7. erfolgte Wiederaufleben des Strömungskompromisses Peters/Huber beweisen, wo die Hacke am Stiel sitzt: Der
Organisation mangelt es an Demokratie.
Zu vieles ist nach wie vor durch eine Mischung aus überzentralisierten und
undurchsichtigen, formellen und informellen Strukturen geprägt. Wesentliche Entscheidungen und Vorentscheidungen fallen weit weg und oft nicht
nachvollziehbar von der Mitgliederbasis. Das muss als erstes thematisiert und geändert werden.
Hermann Dierkes/Udo Bonn
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