SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2003, Seite 8

Leere Kassen?

Argumente gegen einen vermeintlichen Sachzwang

Wer auf öffentliche bzw. öffentlich finanzierte Dienstleistungen angewiesen ist, wer im Gesundheitswesen, in Bildungs-und Betreuungseinrichtungen arbeitet oder kommunale Dienstleistungen erbringt, sieht sich tagtäglich mit den Folgen finanzieller Knappheit konfrontiert: »Die Kassen sind leer«, heißt es.

In dieser Situation empfiehlt sich Brechts Turandot oder Der Kongress der Weißwäscher, das in einem fiktiven China spielt. Der größte Teil der Bevölkerung sind Bauern, die sehr viel Baumwolle geerntet haben. Der Kaiserhof, der das Baumwollmonopol hält, hortet die Baumwolle, um die Preise hoch zu halten. Das Volk leidet nun unter Baumwollmangel, die Kleiderfabriken stehen still, die Menschen frieren, obwohl sie eigenhändig Baumwolle gepflückt haben. Am Kaiserhof befürchtet man große Unruhen und beschließt, einen Kongress der TUIs einzuberufen — der Intellektuellen, auch Weißwäscher, Ausredner oder Kopflanger genannt. Sie sollen dem Volk glaubhaft erklären, warum es keine Baumwolle gibt und die kaiserlichen Lager leer sind. Wer die Verteilungsstrategie des Kaiserhauses am besten als Sachzwang darstellen kann, wird mit der Kaisertochter Turandot belohnt, die Verlierer müssen mit dem Leben bezahlen. Den wissenschaftlichen Vorträgen lauscht auch ein alter Bauer, der zwar die TUIs sehr bewundert und seinem Sohn ermöglichen will, ein TUI zu werden, gleichzeitig die weitschweifigen Ausführungen der Sachverständigen mit ungläubigem Kopfschütteln verfolgt, hat er doch selbst Baumwolle geerntet und sie in die Stadt gefahren.
Nun die Aufgabe für die heutigen TUIs: Die Deutschen erwirtschafteten im Jahr 2001 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2063 Milliarden Euro. Obwohl es ein konjunkturell schlechtes Jahr war, lag das BIP um 37,5 Milliarden Euro über dem Wert von 2000, der wiederum 51 Milliarden Euro über dem von 1999 lag. Das reale BIP ist zwischen 1992 und 2001 nur einmal, nämlich 1993, nicht gewachsen (—1,1%).
Die Steigerungsraten sind zwar nicht hoch, doch die absoluten Summen der Zuwächse können sich sehen lassen. Zwischen 1991 und 2001 wuchs das BIP um 560 Milliarden Euro. Warum also haben die öffentlichen Kassen 2001 trotz der Zunahme des BIP weniger eingenommen als im Vorjahr? Wenn der wirtschaftliche Reichtum um 3% (2000) und 0,6% (2001) wächst, müssten dann bei gleich bleibender Verteilung nicht alle öffentlichen und privaten Einnahmen um denselben Satz steigen? Da aber die öffentlichen Kassen und die der meisten privaten Haushalte schrumpfen, muss sich die Verteilung des Reichtums verändert haben.
Im letzten Jahr gingen die Einnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden erneut zurück. Könnte es vielleicht sein, dass die öffentlichen Kassen nicht zwangsläufig leer, sondern leer gemacht sind? In der Tat ist die akute Misere der öffentlichen Finanzen überwiegend politischer Natur und geht vor allem auf drei Ursachenbündel zurück:
♦  Erstens auf die politisch herbeigeführten Einnahmeverzichte des Staates mittels diverser Steuersenkungen, die — zunächst einmal bis 2006 — noch in vollem Gange sind und 2002 zu dramatischen Einnahmeausfällen führten.
♦  Zweitens auf das Fehlen einer aktiven Wachstums- und Beschäftigungspolitik.
♦  Eine dritte Ursache ist die Dämonisierung der Staatsverschuldung als einer verfassungsrechtlich, ethisch und ökonomisch legitimen Möglichkeit, staatliche Zukunftsinvestitionen ohne Steuermehreinnahmen zu finanzieren und konjunkturelle Abschwünge abzufedern.
Die Kombination von politisch durchgesetzten Einnahmeverzichten bei gleichzeitiger Tabuisierung staatlicher Neuverschuldung führt zu geleerten öffentlichen Kassen, mit denen die Erosion des Sozialstaats als Sachzwang erklärt werden kann. Ein ökonomischer Berater des Präsidenten Reagan bezeichnete diese Konstellation zu Beginn der neoliberalen Ära als Politik der »strategischen Defizite«. Man erreicht den Abbau staatlicher Leistungen für die Masse der Bevölkerung praktisch ohne Legitimationsverlust, indem man Steuersenkung fordert und zugleich die Staatsverschuldung bekämpft.
Seit über 20 Jahren werden die neoliberalen Forderungen nach reduzierten Unternehmensteuern, Deregulierung, Privatisierung und Sozialabbau realisiert, zugleich ist das Wachstum rückläufig, die Arbeitslosigkeit steigt und lebenswichtige öffentliche Aufgaben werden gröblich vernachlässigt. Anstatt jedoch aus diesen Erfahrungen zu lernen und die wirtschaftsliberale Rosskur abzubrechen, erhöht man die Dosis.

Schuldenabbau für künftige Generationen?

Die rot-grüne Bundesregierung will durch Kürzungen der Ausgaben und Neuverschuldung bei gleichzeitigen Einnahmeverzichten den Staatshaushalt »konsolidieren«. Sie behauptet, dies sei »im Interesse der künftigen Generationen«, die man nicht mit den Zinsen einer hohen Staatsverschuldung belasten solle.
Was wir den künftigen Generationen hinterlassen, entscheidet sich aber nicht primär an der Verschuldung, sondern an deren realwirtschaftlichem Gegenwert. Wenn, wie das seit Jahren der Fall ist, die sog. Konsolidierung zulasten der öffentlichen Infrastruktur, der Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zur Universität, der ökologischen Sanierung und der Kultur betrieben wird, was bleibt dann den künftigen Generationen? Nutzt man jedoch die Staatsverschuldung für investive Ausgaben, dann stehen den Zinszahlungen verbesserte Lebensqualität und höhere Produktivität gegenüber, mit deren Hilfe sie dann finanziert werden können.
Die Kürzungen der Sozialleistungen führten — bereits vor den neuerlichen Einschnitten — zu Kinderarmut bei jedem siebten Kind, also in bislang nicht gekanntem Ausmaß. Dieser Anteil wird mit der geplanten weiteren Erosion des Sozialstaats dynamisch wachsen. Tatsächlich erleben wir eine Umverteilung nicht zugunsten der künftigen Generationen, sondern zugunsten der Bezieher von Kapital- und Vermögenseinkommen. Der von der heutigen TUI-Kaste behauptete Interessenkonflikt zwischen den Generationen erweist sich tatsächlich als Konflikt zwischen Oben und Unten, zwischen Reich und Arm.
Die Dämonisierung der Staatsverschuldung ist ein finanzpolitisches Kernelement der neoliberalen Glaubenslehre. Tatsächlich werden die künftigen Generationen — soweit sie nicht den sozialen Oberschichten angehören, die auf öffentliche Infrastruktur nur teilweise und auf sozialstaatliche Leistung gar nicht angewiesen sind — gleich in doppelter Weise betroffen sein:
♦  Erstens wird ihnen ironischerweise gerade wegen der Kürzungspolitik eine hohe Staatsverschuldung hinterlassen. Hans Eichel wäre weltweit der erste Finanzminister, dem es gelänge, bei stagnierendem (oder gar rückläufigem) Wachstum den Haushalt durch Kürzungen erfolgreich zu konsolidieren. Das Gegenteil zeigt Großbritannien. Dort hat 1993 die konservative Regierung auf die akute Krise bewusst antizyklisch mit einem für deutsche Verhältnisse unvorstellbaren Defizit von 8% des BIP (EU-Kriterium: 3%)und niedrigen Zinsen gegengesteuert und fünf Jahre später hohes Wachstum und einen Haushaltsüberschuss erreicht.
♦  Zweitens wird dies eine Verschuldung ohne realen Gegenwert sein. Die nächste Generation muss Zinsen bezahlen für unzureichende öffentliche Dienstleistungen, mangelhafte Infrastruktur, schlechte Bildungsvoraussetzungen, ein sozial fragmentiertes Gesundheitswesen, Altersarmut, hohe ökologische Belastungen und millionenfach fehlende Arbeitsplätze. Stünde eine parlamentarische Opposition bereit, um die gescheiterte Regierung mit alternativen Konzepten abzulösen, ginge es noch. Aber deren Kritik am praktizierten rotgrünen Wirtschaftsliberalismus lautet: viel zu wenig, mehr davon!

Fetisch Staatsquote

Die »zu hohe Staatsquote« ist fester Bestandteil des neoliberalen econobabble, jenes Einheitsbreis ökonomischer Stereotypen, wie er gleichlautend von Experten und Journalisten, im akademischen Seminar ebenso wie an den Stammtischen, zu vernehmen ist. Mit dem Hinweis auf die Staatsausgabenquote von 48,4% des BIP wird suggeriert, der Staat kontrolliere die Hälfte der Wirtschaft. Den größten Anteil an der Staatsquote machten jedoch 2001 mit 38% die sozialen Geldleistungen wie Renten, Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe, Wohngeld usw. aus.
Der Staat fungiert hier nicht als Wirtschaftssubjekt, sondern sammelt Geld ein und verteilt es wieder nach demokratisch legitimierten Regeln (bspw. Rentengesetzgebung). Ganze 29% der Staatsquote bzw. 14% des BIP verwendet der Staat als »unmittelbare Staatsausgaben« für Verwaltung, Justiz, Schulen, Krankenhäuser, Feuerwehr, Polizei, Militär usw.
Die um fiktive Größen bereinigte Staatsausgabenquote gibt die OECD für Deutschland mit 44,8% inkl. und 29,5% exkl. Sozialversicherung an, verglichen mit Schweden (55,1 bzw. 36,2%), Frankreich (48,5 bzw. 30,1%), Kanada (42,5 bzw. 29,9%), Italien (44,6 bzw. 27,3%), Großbritannien (37,8 bzw. 24,3%)und USA (32,7 bzw. 20,1%).
Nichts an diesen nationalen Unterschieden weist auf einen positiven Zusammenhang zwischen niedriger Staatsquote und florierender Wirtschaft hin. Die deutsche Staatsausgabenquote liegt nicht nur im internationalen Vergleich recht niedrig, sondern weist auch eine rückläufige Tendenz auf. Und je mehr sie zurückgeht, desto lauter wird ihre Höhe beklagt.
Auch die eigentliche Wirtschaftstätigkeit des Staates ging zurück. Die staatlichen Personal- und Sachausgaben, die 1980 noch 18,3% des BIP ausmachten, sanken bis 1990 auf 15,2% und bis 2001 auf ganze 13,7% . Würden rückläufige Staatsquoten »Wachstumskräfte freisetzen«, dann hätte es in den letzten 20 Jahren mit abnehmender Staatsquote wirtschaftlich bergauf statt bergab gehen müssen.
Ein Inbegriff für die Sorge um die nächste Generation sind öffentliche Bildungsausgaben. Ihr Anteil am deutschen BIP liegt mit 4,2% unter dem OECD-Durchschnitt mit relativ armen Ländern wie die Türkei und Brasilien (4,5%). Vergleichbar reiche Länder wie Dänemark (6,4%), Frankreich (5,8%) und selbst die USA (4,9%), wo die privaten Bildungsaufwendungen hoch sind, geben weit mehr für Bildung aus.
Der international schlechte Bildungsstand der deutschen Schüler geht auch auf die finanzielle Vernachlässigung zurück. Zusammen mit den rückläufigen Umweltausgaben (zwischen 1991 und 2001 um 40% auf 0,6% des BIP) und fehlenden Ausgaben für Kinderbetreuung, preisgünstige Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Naherholungsgebiete, Parks usw. zeigt sich, wie besorgt man wirklich um die künftigen Generationen ist.
Noch deutlicher stellt sich das beim Anteil der öffentlichen Investitionen am BIP dar. Hier liegt Deutschland mit 1,5% mittlerweile an letzter Stelle aller Industrieländer (USA: 3,4%).
Man kann die volkswirtschaftliche Nachfrage danach unterteilen, wie viel Beschäftigung jeweils mit einem Euro »gekauft« wird. Diese Werte sind bei den personenbezogenen Dienstleistungen wie Bildung, Pflege, Beratung usw. am höchsten und bei materiellen Produkten, die weitgehend automatisch hergestellt werden können (wie Zigaretten, Autos) am niedrigsten. Der unmittelbare öffentliche Dienst ist in hohem Maße beschäftigungsintensiv.
Die Politik der leeren Kassen kostete hier in den letzten zehn Jahren über 2 Millionen Stellen. Innerhalb kurzer Zeit schrumpfte die Beschäftigtenzahl von 6,4 auf 4,3 Millionen, ohne dass im privaten Sektor durch die Umlenkung von staatlicher in private Nachfrage ein entsprechender Beschäftigungszuwachs entstanden wäre. Im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung 2002 heißt es stolz: »Nur gut 12% der Beschäftigten sind im öffentlichen Dienst beschäftigt. Zum Vergleich: USA fast 15%, Italien gut 15%.«

Rot-Grüne Steuerpolitik

Die Steuerquote, der Anteil aller Steuerzahlungen am BIP, fiel zwischen 1980 und 2001 von 25,9% auf 23,2%. Wäre sie gleich geblieben, hätten die öffentlichen Kassen allein 2001 über 55 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen können.
Es haben jedoch weder die Lohnsteuer abgenommen noch die Mehrwert- und Verbrauchsteuern, durch die niedrige Einkommen aufgrund ihrer höheren Konsumquote relativ stärker belastet werden. Die tatsächlich realisierte Besteuerung der Gewinn- und Vermögenseinkommen hingegen wurde zwischen 1980 und 2000 fast halbiert.
Die Steuern auf Löhne und Gehälter beliefen sich 1980 auf 15,8% , im Jahr 2000 auf 19,4% , die darauf bezogenen Beiträge zur Sozialversicherung steigen von 12,8% auf 16,1% . Auf Gewinne und Vermögenseinkommen wurden 1980 noch 15,3% Steuern erhoben, 2000 nur noch 6,7% . Die Belastung der Unternehmenseinkommen durch Sozialbeiträge entsprach mit 3% dem Wert von 1980.
Große multinational agierende Unternehmen zahlen heute kaum noch Steuern. Dank rot- grüner Politik können Großunternehmen sowohl Verluste aus früheren Jahren als auch von Tochterunternehmen verrechnen. Zahlreichen Gemeinden mit monoindustriellen Strukturen ist damit in den letzten Jahren die Finanzdecke komplett entzogen worden, weil das üppig verdienende Großunternehmen am Ort die tatsächlichen oder fiktiven Verluste ferner Unternehmenstöchter geltend macht.
An die Steuerbefreiung für Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaften wagte sich zuvor keine Bundesregierung heran. Obgleich sie 1998 auch in keinem Wahlprogramm stand, setzte der Bundeskanzler sie durch — dies dürfte der nachhaltigste Einzelbeitrag zur Verabschiedung des »rheinischen Kapitalismus« sein. Nicht nur verminderte dies die Staatseinnahmen in zweistelliger Euro-Milliardenhöhe, sondern erlaubt seither den großen Banken und institutionellen Kapitalanlegern, ebenso ungehemmt mit Unternehmen und Belegschaften Monopoly zu spielen, wie das in England und den USA der Fall ist.
Hingegen wurde das Versprechen, die unter der Regierung Kohl gestrichene Vermögensteuer wieder einzuführen, nicht gehalten. Die Rede ist auch hier von befürchteter Kapitalflucht. Ein Blick auf die OECD-Statistik zeigt jedoch, dass das fluchtwillige Kapital außer dem kleinen Österreich weit und breit kein Industrieland finden könnte, in dem es nicht deutlicher zur Kasse gebeten würde. Unter den 15 EU-Staaten liegt das deutsche Niveau der Vermögensbesteuerung mit 0,9% des BIP an vorletzter, nach dem Sachverständigenrat sogar mit 0,6% an letzter Stelle. Selbst Großbritannien (3,9%)und die USA (3,1%) besteuern die Vermögen weitaus höher.
Zu den hohen Einnahmeverlusten durch die Körperschaftsteuerreform addieren sich diejenigen der rot-grünen Einkommensteuerreform, die ursprünglich zu mehr Steuergerechtigkeit führen sollte. Man senkt den Eingangssteuersatz von 25,9% (1998) schrittweise bis auf 15% im Jahr 2006.
Zusammen mit dem erhöhten steuerfreien Grundfreibetrag werden damit die unteren Einkommensgruppen entlastet. Da der Eingangssteuersatz ein Grenzsteuersatz ist, also die Belastungsrate für einen zusätzlich verdienten Euro angibt, senkt sich die durchschnittliche Besteuerung aller Einkommen, auch der hohen, die aufgrund der Progression sogar noch mehr entlastet werden. Um diesen Effekt zusätzlich zu verstärken, wird der Spitzensteuersatz von 53% (1998) schrittweise auf 42% (2006) gesenkt.
Wollte man die Belastung nur bei den unteren Einkommen senken und die hoher Einkommen gleich lassen, hätte man den Spitzensteuersatz nicht nur nicht senken, sondern erhöhen müssen. Ab einem Jahreseinkommen von ca. 43000 Euro nehmen nun die Entlastungen absolut und relativ zu, bei den reichsten Einkommensbeziehern erfolgt die stärkste prozentuale Minderung. Eindeutige Verlierer sind die Arbeitnehmer mit mittleren Einkommen und jene Bevölkerungsschichten, die am meisten auf gute öffentliche Sozial- und Dienstleistungen angewiesen sind, denn die Gegenfinanzierung dieser enormen Steuerentlastungsmaßnahme (ca. 47,7 Milliarden Euro) besteht in Ausgabenkürzungen.
Fazit: Was man den Beziehern unterer Einkommen steuerlich gibt, wird ihnen sozialpolitisch wieder abgenommen, zusammen mit den Durchschnittsverdienern finanzieren sie damit die Entlastungen der hohen Einkommen. Zu diesem Geschenk soll nun noch eine Zinsabgeltungsteuer von 25% kommen, ein Steuersatz, der bei hohen Einkommen weit unter dem der Einkommensteuer liegt.

Entlastung des »Faktors Arbeit«

Niemand wird zusätzlich eingestellt, wenn nicht über die Produktivitätssteigerung hinaus zusätzlich produziert werden soll, und zusätzliche Produktion muss durch zusätzliche Nachfrage entweder vom Staat oder den Privaten gekauft werden können. Gegenteiliges kommt zwar einzelwirtschaftlich vor, ist aber gesamt-und binnenwirtschaftlich unmöglich. Würden niedrige Löhne und durchlöcherte Tarifverträge zu mehr Arbeitsplätzen führen, dann müsste die ostdeutsche Arbeitslosenrate weit unterhalb der westdeutschen liegen.
Die Bauern — so sagte einmal ein englischer Ökonom — spannen ihre Pferde nicht häufiger an, weil das Heu billiger wird. Mit der Agenda 2010 soll, gemäß einem weiteren neoliberalen Glaubenssatz, der »Faktor Arbeit » entlastet werden, um mehr Beschäftigung zu schaffen. Das will man zunächst durch harte Kürzungen bei Sozialausgaben (u.a. Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe) erreichen, mit dem Ziel, den »Anreiz« zu steigern, schlechtere Jobs mit niedrigerer Bezahlung anzunehmen.
Woher die Beschäftigungseffekte kommen sollen, ist allerdings rätselhaft: 2002 kamen auf insgesamt 6,15 Millionen Arbeitsuchende (registrierte, ruhende, unsichtbare, verdeckte Arbeitslosigkeit) 450000 offene Stellen. Seither verschlechtert sich diese Relation weiter. Die Frage lautet: Wie kann die Beschäftigung wachsen, wenn durchschnittlich 14 und mehr Konkurrenten um eine Arbeitsstelle stärker finanziell unter Druck gesetzt werden?
Der Agenda 2010 liegt auch die Annahme zugrunde, der Sozialstaat werde zulasten der Gewinn- und Vermögenseinkommen finanziert. Die Probe lässt sich leicht machen: Wäre das der Fall, dann müsste der Anteil der Gewinn- und Vermögenseinkommen am Volkseinkommen nach der Umverteilung kleiner sein als zuvor, und die Bruttolohnquote niedriger als die Quote von Nettolöhnen plus Sozialeinkommen.
Tatsächlich betrug 2001 die Bruttolohnquote einschließlich Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung 73,2%. Das verfügbare Einkommen der Bezieher von Lohn- und Sozialeinkommen nach Abzug der Steuern und Beiträge (43,7% + 25,6%) liegt mit 69,1% deutlich darunter, die Nettoquote der Gewinn- und Vermögenseinkommen aber über der Bruttoquote.
Den Sozialstaat finanzieren also die Arbeitnehmer selbst. Indem auch andere Staaten die hohen Einkommen mit hoher Sparquote steuerlich entlasteten, sorgten sie für Geldkapital im Überfluss und schufen damit die entscheidende Voraussetzung für das Spekulationsfieber an der Börse mit nachfolgendem Zusammenbruch. Gemäß dem Glaubenssatz »Die Gewinne von heute sind die Arbeitsplätze von morgen« wäre das Geldkapital in die Produktion investiert worden und hätte Arbeitsplätze geschaffen.
Professor Bert Rürup sagt in einem Focus-Streitgespräch mit Karl Lauterbach: »3% weniger Lohnnebenkosten bedeuten über eine Dauer von zwei Jahren 550000 Arbeitsplätze mehr … Lauterbach: 450000! Rürup: 550000! Die hohen Sozialausgaben sind die Achillesferse unseres Arbeitsmarkts.« Dazu ein Blick auf die makroökonomischen Größenordnungen der Unternehmensbelastungen durch die Sozialversicherung. Im verarbeitenden Gewerbe betrug 1998 der Personalkostenanteil am Bruttoproduktionswert 22,8% (mit abnehmender Tendenz). Die gesamten gesetzlichen Sozialkosten machen 3,5% des Bruttoproduktionswerts aus. Würden diese um 3 Prozentpunkte sinken, gäbe es keine Sozialversicherung mehr. Sänken sie aber tatsächlich um 3%, dann reduzierte sich die Belastung um 3% von 3,5%, d.h. um 1,17‰. Bei voller Überwälzung auf den Preis würde ein Produkt, das 1000 Euro kostet, nur noch 999 Euro kosten. Wie können hiervon Beschäftigungseffekte ausgehen, gar »über eine Dauer von zwei Jahren« mehr als eine halbe Million neue Arbeitsplätze entstehen?
Die tatsächliche Entlastung der Unternehmen von Personalkosten wird durch die Lohnstückkosten angezeigt. Darin sind sämtliche Lohnkosten berücksichtigt, ebenso wie die Arbeitszeit und die Arbeitsproduktivität. Die Lohnstückkosten sind laut Sachverständigenrat in einheitlicher Währung berechnet von 1995 bis 2001 um durchschnittlich (!) 2,4% gesunken und damit um mehr als das Zehnfache des Wertes der G7-Länder insgesamt (—0,2%). Das sind unvergleichlich gewichtigere Entlastungen als die von Rürup genannten »3% weniger Lohnnebenkosten« (was immer damit gemeint sein mag) — ohne dass in diesem Zeitraum auch nur ein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz zustande gekommen ist.
In der rot-grünen Umverteilung zugunsten der Vermögen und Gewinne könnte man vielleicht noch einen Sinn erkennen, wenn ein weiterer neoliberaler Glaubenssatz zuträfe, wonach größere Ungleichheit zu mehr Investitionen und Wachstum und somit zu mehr Beschäftigung führt. Seit 1980 polarisiert sich die Verteilung, der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung (Lohnquote) zeigt — mit einzelnen zyklusbedingten Ausnahmejahren — seit 1980 eine sinkende Tendenz, doch Wachstum und Beschäftigung sind ebenfalls gesunken.
Da die Bruttolöhne die Finanzierungsbasis der Sozialversicherung sind, führte die rückläufige Lohnquote zu steigenden Beitragssätzen der Sozialversicherungen. Wäre die Einkommensverteilung seit 1980 gleich geblieben, so hätte 2000 rechnerisch der Beitragssatz für die Sozialversicherungen nicht 41% sondern nur 32,4% betragen. Diese enorme Differenz resultiert allein aus den Verteilungsverlusten der abhängig Arbeitenden. Die modernen TUIs erklären ihn mit Anspruchshaltung und fehlender Eigenverantwortung. Wären die rund 240 Milliarden Mark vereinigungsbedingte Transfers durch die Sozialversicherungen von allen Bürgern über Steuern finanziert worden, könnten die Beiträge um weitere 2,5 Prozentpunkte niedriger liegen.
Die Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zeigen zum empirischen Zusammenhang von Verteilungsungleichheit, Wachstum und Beschäftigung für die letzten 30 Jahre folgendes: Von 1970 bis 1979 wuchsen die Arbeitseinkommen stärker als die Gewinn- und Vermögenseinkommen (98% zu 63,8%), das BIP wies die höchsten Wachstumsraten auf (105,6%), und die Arbeitslosenquote lag am Ende (1979) bei 3,8% . Von 1980 bis 1989 kehrten sich die Verteilungszuwächse zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen um (32,7% zu 98,6%), das Wachstum halbierte (51,1%)und die Arbeitslosenquote verdoppelte sich auf 7,9% . Die beiden Jahre 1990 und 1991 müssen wegen der Besonderheiten des Vereinigungsprozesses ausgeklammert werden. Im dritten Jahrzehnt von 1992 bis 2001 wuchs die Ungleichheit nach der Umverteilung weiter (14,9% zu 34,6%), das Wachstum des BIP halbierte sich ein weiteres Mal (27,9%) und die Arbeitslosenquote stieg auf 10,3% (2001).
Fazit: Die vom Expertenmainstream und den Medien verbreitete, von den Parteien, Finanzministern und Stammtischen nachgebetete neoliberale Glaubenslehre ist in einem Großversuch an zunächst 60, dann 80 Millionen lebenden Bürgern über einen Zeitraum von 30 Jahren empirisch widerlegt worden.
Die finanzpolitische Umverteilung zugunsten der Gewinn- und Vermögenseinkommen wird seit über 20 Jahren realisiert, der sog. Faktor Arbeit wird permanent entlastet — die Wachstumsraten schrumpfen, die Beschäftigung sinkt, öffentliche Einrichtungen werden bis zur Verwahrlosung vernachlässigt und die soziale Sicherheit nimmt ab. Das geht in erster Linie auf politisch-ökonomische Kräfteverschiebungen in der Gesellschaft zurück. Die rot-grüne Regierung hat die Politik der konservativ- liberalen Koalition weitergeführt und ist nun mit der »Agenda 2010« dabei, sie noch zu übertreffen. Der Vorwurf sozialer Ungerechtigkeit trifft zwar zu, ist aber nicht das Hauptproblem. Das besteht darin, dass mit dieser »realistischen« Politik Wachstum und Beschäftigung und damit auch die Staatsfinanzen weiter zerrüttet werden.
Die »leeren Kassen« sind kein Sachzwang. Ein Umsteuern staatlicher Haushaltspolitik ließe sich aus vier Quellen finanzieren: durch Kredite (bei Investitionen), durch Steuermehreinnahmen aus Einkommen mit hoher Sparquote, durch effektive Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung sowie durch verbesserte Effizienz in den Sektoren öffentlicher und öffentlich finanzierter Dienstleistungen.

Umsteuern

Was sich mit leeren Kassen nicht legitimieren lässt, ist die Fortsetzung des generellen Personalabbaus in den staatlichen oder staatlich finanzierten Sektoren. Für jede Stelle, die bei öffentlichen oder öffentlich finanzierten Diensten durch Einsparungen bei mindestens gleichbleibender Qualität überflüssig gemacht werden kann, gibt es nützliche und zukunftsträchtige Arbeit, die von den privatwirtschaftlichen Sektoren entweder nicht oder nicht für die ganze Bevölkerung geleistet werden kann.
Nach Mehrbedarf muss man wahrlich nicht lange suchen: Zahlreiche Dienste und Güter werden heute zwar als gesellschaftlich notwendig und nützlich angesehen, aber nur wohlhabende Bevölkerungskreise können sie kaufen (bspw. Pflege, betreutes Wohnen im Alter), oder die öffentlichen Güter können keine Warenform annehmen (Rechtssicherheit, gesundheitliche Chancengleichheit usw.). Privatisierung bedeutet im ersten Fall, solche Dienste und Güter einem weiten Personenkreis vorzuenthalten und im zweiten, die Lebensqualität des Gemeinwesens und nicht zuletzt die Funktionsfähigkeit der Ökonomie erheblich zu schädigen.
In vielen öffentlichen Sektoren sind Mehraufwendungen nötig, damit die Arbeit effizienter werden kann. So sind Teile der Justiz, der Polizei, der Finanzämter in erschreckendem Maße technisch, räumlich und personell unterausgestattet. Systematisch vernachlässigt sind Bereiche, die entweder Dienstleistungen für die Normalbürger erbringen (wie Zivilverfahren mit relativ geringem Streitwert, Lohnsteuerrückzahlung) oder solche, in denen Effizienz und gute Ausstattung einflussreichen gesellschaftlichen Gruppen nicht wünschenswert sind — bspw. würde die effiziente Bekämpfung von Delikten wie Steuerhinterziehung, Korruption, Wirtschaftskriminalität, illegale Beschäftigung usw. jede in Finanzämtern und Staatsanwaltschaften zusätzlich eingesetzte qualifizierte Arbeitskraft zur lohnenden Investition machen.
Andere Bereiche beschäftigen zu wenig Personal mit zu geringem Qualifikationsniveau. So arbeiten in den Betreuungseinrichtungen für Vorschulkinder die am schlechtesten bezahlten und wenig qualifizierten Arbeitskräfte des gesamten Bildungsbereichs. Der finanzielle Niedergang der Kommunen schafft enorme Defizite bei öffentlichen Investitionen. Der öffentliche Nah- und Regionalverkehr, die Wasserversorgung und Wasserentsorgung, Energieeinsparung und Energieforschung sind zukunftsträchtige öffentliche Tätigkeitsfelder, die auch privaten Unternehmen zusätzliche Märkte verschaffen und die Beschäftigung fördern würden.

Hagen Kühn

Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.6, 2003.



Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang