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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2003, Seite 12

»Wir sind heute nicht mehr isoliert«

Annick Coupé zieht Bilanz der Streiks in Frankreich

Annick Coupé ist Sprecherin der Gewerkschaftsverbands G10-Solidaires, der u.a. die SUD-Gewerkschaften umfasst. Das Interview führte Angela Klein.

Worum ging es bei eurem Streik?

Die sog. Renten»reform« zielt darauf ab, dass alle abhängig Beschäftigten, im öffentlichen wie im privaten Sektor, länger arbeiten. Wer künftig den vollen Rentenanspruch will, muss mehr Jahre Beitrag zahlen: von 2004 an braucht man im öffentlichen Dienst 40 Beitragsjahre, von 2011 an braucht man überall 41 Jahre, von 2020 an 42 Jahre.
Die »Reform« setzt einen Mechanismus in Gang, die Lebensarbeitszeit allmählich zu erhöhen und zwar in dem Maße, wie die Lebenserwartung steigt! 1993 hatte der damalige Ministerpräsident Balladur schon einmal die Renten im Privatsektor angegriffen und das Rentenniveau hier um 20% gesenkt.
Im Endeffekt läuft es darauf hinaus, dass die Renten stark gekürzt werden: Wer Geld hat, kann sich eine private Zusatzversorgung leisten, die anderen müssen in Armut leben, über das Alter von 65 Jahren hinaus arbeiten oder sich neben der Rente noch ein Zubrot verdienen. Die »Reform« geht vor allem auf Kosten der Frauen, die zumeist keine geschlossene Erwerbsbiografie haben (wegen Teilzeit, Erwerbslosigkeit, Erziehungsurlaub usw.). Die Reform ist ein großer Erfolg für die französischen Unternehmer, die seit Antritt der Rechtsregierung vor einem Jahr darauf gedrungen haben.

Wie beurteilst du die Streiks?

Wir haben die größte soziale Bewegung seit 1995 erlebt. Fast 2 Millionen Menschen waren am 13.Mai auf dem Höhepunkt der Streiks auf der Straße. Trotzdem ist es der Bewegung nicht gelungen, die Regierung zum Einlenken zu zwingen. Die massiven Lehrerstreiks haben die Regierung allerdings zum Rückzug in der Frage der Dezentralisierung in der schulischen Bildung genötigt. Das ist ein Dämpfer auf den Versuch, das Bildungssystem zu demontieren, wenngleich sicherlich nur ein vorübergehender. Eine der Stärken der Bewegung war es, dass sie grundsätzliche Fragen aufgeworfen hat, die weit über die Rente hinausgingen. Die Bewegung hat auch gezeigt, dass es zu den neoliberalen Vorhaben der Regierung und der Unternehmer Alternativen gibt. Es wurden Fragen nach den »öffentlichen Gütern« (Altersversorgung, öffentliche Dienste, Bildung usw.) und nach der Umverteilung des Reichtums thematisiert.
Es ist möglich geworden, über den Weg örtlicher Mobilisierungskomitees Kontakte zwischen verschiedenen Berufsgruppen zu knüpfen und Beziehungen zwischen abhängig Beschäftigten im öffentlichen Sektor und im Privatsektor herzustellen. Die Bewegung hatte starken Rückhalt in der Bevölkerung und bis zuletzt die Mehrheit der öffentlichen Meinung hinter sich. Es war möglich, auf örtlicher Ebene gemeinsame Kampfstrukturen aufzubauen und Gewerkschafter wie Nichtgewerkschafter zusammenzubringen.
Trotz alledem ist die Regierung hart geblieben und hat sich von Anfang bis Ende des Konflikts nicht einen Millimeter bewegt. Sie hat ihre Linie mit großem Propagandaaufwand durchgeboxt und zum Schluss auch zu Repressalien gegriffen (Anrechnung der Streiktage, Polizeieinsatz und Klagen gegen Demonstrierende…).

Hättet ihr mehr erreichen können und wenn ja, warum ist euch das nicht gelungen?

Zunächst muss man die extrem negative Rolle der CFDT unterstreichen. Ummittelbar nach dem Höhepunkt der Streikaktionen (13.Mai) unterzeichnete sie eine getrennte Vereinbarung mit der Regierung und ist damit aus der gemeinsamen Gewerkschaftsfront ausgeschert. Wie 1995 hat sie ausdrücklich eine liberale Reform der Regierung unterstützt.
Das Ziel der CFDT ist es, sich eine Position als obligater Partner für die Akzeptanz liberaler Reformen aufzubauen, die sie für unvermeidlich, gar wünschenswert hält. Diesem Ziel wird alles untergeordnet. Aktive Funktionsträger und Mitglieder der CFDT haben darauf mit Empörung reagiert und einzelne Belegschaften (vor allem im Transportsektor) haben ihren Austritt aus der Gewerkschaft erklärt.
Sodann muss man eine Bilanz der Streikstrategien ziehen, vor allem bei der CGT. Die CGT war bereit, eine »maßvolle« Verlängerung der Beitragsjahre in Kauf zu nehmen. Sie hoffte, dadurch einen eigenen Verhandlungsspielraum mit der Regierung zu gewinnen und die CFDT im Gewerkschaftsbündnis zu blocken. Dafür musste die CGT natürlich zu Mobilisierungen aufrufen, es gehörte jedoch nicht zu ihrer Orientierung, eine zentrale Auseinandersetzung mit der Regierung vorzubereiten, die vielleicht die Verhandlungen, ganz sicher aber die Einheit mit der CFDT in Frage gestellt hätte.
Deshalb orientierte die CGT auf eine Reihe von Aktionstagen — am 1.Februar, 3.April und 25.Mai — die von langer Hand vorbereitet und angekündigt wurden; der 13.Mai wurde ihr durch den Druck der Bewegung mehr oder weniger aufgenötigt.
Gleichzeitig hat sich die CGT systematisch geweigert, die Bedingungen für einen unbefristeten Streik zu schaffen; das gehört nicht zu ihren Traditionen und sie hat immer Angst davor, bei solchen Gelegenheiten die Kontrolle über die Bewegung zu verlieren.
Diese Strategie ist zusammengebrochen, als die CFDT am 15.Mai unterzeichnete und die Regierung sich weigerte, mit der CGT in irgendeine Verhandlung zu treten. Danach stand die CGT ohne Strategie da, zumal sie keine Kraftprobe mit der Regierung wollte. Die Fortsetzung der Aktionstage am 3., 10. und 19.Juni diente nur dazu, das zu kaschieren. Sie wurden auch immer weniger befolgt und waren kein Instrument mehr, um ein Kräfteverhältnis aufzubauen. Keine andere Gewerkschaftsorganisation war in der Lage, ein Gewicht in die Waagschale zu werfen, das einen anderen Druck hätte aufbauen können.
Der Gewerkschaftsverband Solidaires (in dem die linken SUD-Gewerkschaften zusammengeschlossen sind) verfügt nicht über eine ausreichende Verankerung in allen Sektoren und ist zahlenmäßig zu schwach, um auf nationaler Ebene anderen Gewerkschaftsverbänden, vor allem der CGT, eine Debatte aufzwingen zu können.
Die CGT steht am Ende des Streiks vor den Augen der breiten Öffentlichkeit als die Gewerkschaft da, die bis zum Schluss gegen die Reformvorhaben der Regierung gekämpft hat. Doch die engagierten Aktiven in der Bewegung stellen sich Fragen, vor allem hinsichtlich der Aktionsstrategie und der Blockade, die von einzelnen Sektoren gekommen ist.
Bei den Lehrern ist klar, dass die Nichtbeteiligung der CGT am Generalstreik an den Schulen für Kritik sorgen wird.

n Wird es im Herbst wieder Mobilisierungen geben?

Es ist noch zu früh zu ermessen, welche Auswirkungen die Niederlage gegen die Rentenkürzungen auf das gesamte Kräfteverhältnis und die künftigen Mobilisierungen haben wird. Es gibt im Großen und Ganzen zwei Möglichkeiten, und dazwischen natürlich zahllose Varianten: entweder macht sich Demoralisierung breit, oder der Zorn hält an und bricht bei irgendeiner Gelegenheit wieder aus.
Ein wichtiger Maßstab für die weitere Entwicklung ist die Analyse der Rahmenbedingungen. Die Regierung hat bewusst die Kraftprobe gesucht, um der sozialen Bewegung eine Niederlage beizubringen und damit die Tür für weitere liberale Gegenreformen zu öffnen; ihr Vorbild ist Thatcher und ihre Rolle im Bergarbeiterstreik 1984. Die Lage ist heute aber gänzlich anders als damals.
Die Niederlage der britischen Bergleute fand in einer Situation ihrer totalen Isolation statt, die Regierung hatte die Unterstützung der Bevölkerung. Heute aber ist die soziale Bewegung überhaupt nicht isoliert, sondern wird massiv von der öffentlichen Meinung unterstützt. Das Bestreben der Regierung, den öffentlichen gegen den privaten Sektor auszuspielen, ist weitgehend gescheitert. Das grenzt den Handlungsspielraum der Regierung ein, auch wenn einige Vertreter der Regierungskoalition die Meinung vertreten, dass die Niederlage gegen die Rentenkürzungen sie nun stark genug macht, weitere Gegenreformen durchzusetzen: Privatisierungen, die Schleifung der sozialen Sicherungssysteme usw.

Wie könnt ihr jetzt weitermachen?

Wenn wir neue Angriffe der Regierungen und der Unternehmer verhindern wollen, müssen wir uns auf die Stärken der Bewegung stützen: die neu geschaffenen Verbindungen zwischen den einzelnen Sektoren auf örtlicher Ebene, der starke Wille zur Einheit an der Basis, die Unterstützung durch die Bevölkerung, die Vorstellung von Alternativen zur liberalen Politik, vor allem die stark verbreitete Idee, dass der Reichtum »anders verteilt werden« muss. Andererseits müssen wir versuchen, wirklich ein Kräfteverhältnis für eine Streikbewegung aufzubauen, die einen unbefristeten und branchenübergreifenden Generalstreik durchstehen kann — das ist das einzige Mittel, die Regierung in die Knie zu zwingen.
Das zweite Europäische Sozialforum in Paris im kommenden November wird eine Gelegenheit sein, den sozialen Abwehrkämpfen eine europäische Dimension zu geben und eine reale europäische Kampagne aufzubauen, die die Entscheidungen der EU zugunsten der abhängig Beschäftigten, der prekär Beschäftigten und der Erwerbslosen beeinflussen kann.

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