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Jeder Dritte hat Onkel, Schwester, Kinder oder sogar die Frau in Deutschland arbeiten: in Recklinghausen, Dortmund,
Wuppertal, Mönchengladbach, Bocholt, seltener außerhalb von NRW. Wir sind in Kaschubien, wo am 1.Juli das 1.Pommersche Sozialforum
stattgefunden hat, nachdem es im vergangenen Jahr eines in Schlesien (Kattowitz) und Anfang des Jahres eines in Masuren gegeben hat.
In Kaschubien hat man eigene Traditionen, die sind nicht richtig polnisch, auch nicht richtig
deutsch, ein bisschen von beidem vor allem aber hat man einen eigenen Kopf. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass das Sozialforum hier stattfand, in
der 20000-Seelen-Gemeinde Miastko, die früher einmal Rummelsburg hieß und heute in Mittelpommern liegt. Hier ist die aktivste und
organisationsstärkste Erwerbslosengruppe von Polen angesiedelt, das Komitee zur Verteidigung der Erwerbslosen. Es vereint die örtlichen
Erwerbslosengruppen aus fünf Wojwodschaften. Daneben gibt es als Verband nur noch das Komitee der Wojwodschaft Lubuski. Der Rest der
Erwerbslosengruppen ist lokal zersplittert.
Die Mehrzahl der etwa 80 Teilnehmenden, die sich im Kulturhaus von Miastko einfinden, ist
erwerbslos. In diesem Teil Polens beträgt die Arbeitslosenquote 36%, in Masuren sogar 50%; landesweit offiziell 17,6%. Die anwesenden Männer
und Frauen, mehrheitlich im mittleren Alter, waren vor der Wende meist auf den großen Staatsfarmen und in der angegliederten Nahrungsmittelindustrie
beschäftigt. Ihre Geschichte ähnelt fatal der Ostdeutschlands. Überall trifft man auf Industriebrachen. Gerade die gutlaufenden, produktiven
Betriebe wurden dicht gemacht, nur wenige von ausländischen Besitzern übernommen. Miastko war einmal ein bedeutendes Lederzentrum, in dem
30004000 Menschen Arbeit fanden. Die besseren Zeiten sieht man der Kleinstadt an. Heute ist das Unternehmen in italienischem Besitz und zählt
gerade noch 200 Beschäftigte.
Wie viele andere haben sich Ewa Hinca und Ryszard Dul, die Sprecher des
Erwerbslosenkomitees, in den 90er Jahren mit Saisonarbeit über Wasser gehalten Ryszard als Illegaler bei Toulouse, Ewa in der Nähe von
Baden-Baden. Das Pflücken von Kohlköpfen ist Schwerstarbeit, so etwas macht man nicht lang; hinzu kommt, dass sie nach zwei Monaten wieder
zurückgeschickt wurden. In Polen haben sie Arbeitslosengeld beantragt, das bekommt man aber nur für ein Jahr. Allerdings kann das Komitee, das
auch ein Wirtschaftsbetrieb ist, Erwerbslose einstellen, dafür gibt es Geld aus der Staatskasse. Nach einem Jahr Arbeit hat man dann erneut Anspruch auf
Arbeitslosengeld. Trotzdem finden die meisten keine Arbeit und es gibt keine Sozialhilfe, welche diejenigen auffängt, die gar nichts haben.
Die beiden Vertreterinnen der Euromärsche, die zum Sozialforum eingeladen wurden,
haben Frauen mit mehreren Kleinkindern angetroffen, die seit längerem erwerbslos sind (das nennen sie so, sie sagen nicht: ich bin Hausfrau, sie sagen:
ich bin arbeitslos) und bei deren Männern das Arbeitslosengeld ausläuft. Sie stehen vor der nackten Existenznot. Trotz jahrzehntelanger
Massenarbeitslosigkeit können wir uns von dieser Armut in Westeuropa keinen Begriff mehr machen. Man muss schon in die Vorkriegszeit
zurückgehen, um die Attribute zu finden, die diesen Grad von Armut auszeichnen: fehlende Zähne, keine weiterführenden Schulen für
die Kinder (d.h. Bildungsbarrieren und fehlende soziale Aufstiegsmöglichkeiten), Hunger und ein gedrücktes, scheues Verhalten, das Menschen
charakterisiert, die sich permanent als rechtlos und als unterste Schicht der Gesellschaft erfahren.
Das Schicksal ereilt im Übrigen nicht nur Erwerbslose. Als wir auf der Rückreise
einen Abstecher zur Danziger Werft machen, ist das Tor verschlossen, das Gelände so gut wie ausgestorben, und davor sitzt ein einsamer Wärter,
ein junger Mann, der nach unserem Begehr fragt. Unser Dolmetscher stellt uns als Gewerkschafterinnen vor, die 1980/81 die Betriebsbesetzungen
unterstützt haben. Der Wärter bemüht sich um Höflichkeit: »Danke. Aber heute hungern wir. Von den 20000
Beschäftigten sind 2000 übrig geblieben; und die warten seit Mai auf ihren Lohn.«
Die Werft ist in eine Vielzahl von Kleinunternehmen zerschlagen worden. Von der heroischen
Tradition wollten weder die alten Machthaber noch die neuen Eigentümer etwas wissen. Am Tor hängt ein verblichenes Transparent mit der
Aufschrift: »Hier wurde Polen ermordet am 16.12.1970 und am 16.12.1981.«
Der Beitritt zur Europäischen Union wird nochmals verheerende Konsequenzen haben
diesmal für die Kleinbauern und die Zechen. Ewa und Ryszard waren deshalb beim Europäischen Sozialforum in Florenz. Sie wissen, sie
müssen aus ihrem Ort raus und nach neuen Möglichkeiten suchen, um für sich daheim wieder eine Perspektive entwickeln zu können.
Auf die »Politik« können sie nicht setzen. »Die Politiker hier sind arrogant und fühlen sich alle als etwas Besseres«, klagt
Ewa.
Davon nimmt sie auch den Bürgermeister von Miastko nicht aus, obwohl er doch den
Tagungsraum zur Verfügung gestellt und zusammen mit anderen Behördenvertretern am Sozialforum teilgenommen hat. In der Öffentlichkeit
hat er die beispielhafte Arbeit des Komitees in höchsten Tönen gelobt, aber Ewa weiß genau, wie lange sie Klinken putzen musste, bis sie ein
paar Groschen für das Sozialforum locker machen konnte.
Ewa kann stundenlang erzählen; z.B. wie sie Lech Walesa einmal 20 Zloty geschenkt
hat. Sie wollte ein Benefizfest für Kinder organisieren und brauchte Mittel. Und weil sie überall abgewiesen wurde, wandte sie sich
schließlich an Walesa, der damals Staatspräsident war und immer noch das Image eines Mannes aus dem Volke genoss. Sie rief ihn in seinem
Präsidentenbüro an, aber er jammerte herum, er würde selbst kaum etwas verdienen. Das empörte sie so, dass sie ihm 20 Zloty in den
Briefumschlag steckte. Die Sache ging damals mächtig durch den Blätterwald, und der Präsident ließ schließlich
großzügig 500 Zloty anweisen, das sind etwa 130 Euro.
Auch auf dem Sozialforum haben die Institutionen ihr Fett abgekriegt, z.B. die Vizedirektorin
des Arbeitsamts: Sie ließ es sich nicht nehmen, den beiden Vertreterinnen der Euromärsche ausdrücklich zu widersprechen, die von der
Notwendigkeit der europäischen Zusammenarbeit zur Verteidigung der sozialen Rechte gesprochen hatten. »Die nationalen Verhältnisse sind
zu unterschiedlich, wir können keine gemeinsamen Lösungen gegen die Arbeitslosigkeit entwickeln.« Das kam nicht gut an; auch nicht die
Redebeiträge anderer Behördenvertreter, die nur eine Lösung kannten, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden: Geld, Geld und nochmal
Geld. Das ist anscheinend alles, was sie sich von der EU erhoffen: Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds.
Zum Tumult kam es schließlich, als sich ein junger Vertreter des Bürgermeisters
von Slupsk, einer Küstenstadt an der Ostsee, erdreistete, die Erwerbslosen als faules Pack, Alkoholiker und Drogensüchtige zu beschimpfen. Der
Starost von Miastko musste einschreiten.
Anders als im vergangenen Jahr in Schlesien waren in Miastko nicht viele andere
gesellschaftliche Organisationen vertreten. Herausragend unter ihnen allerdings der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft OPZZ (früher die
Staatsgewerkschaft) von der Gdingener Werft, der lebhaftes Interesse am Forum gewonnen hat. Wie in Deutschland wird auch in Polen die landesweite
Konstituierung des Sozialforums erst nach Paris möglich sein.
Doch unter Aktiven in Polen ist das Sozialforum bereits ein Begriff. Die Delegation nach Paris
wird um eine Reihe von Vertretern kämpferischer Belegschaften erweitert werden. Ein Zusammengehen von Erwerbslosen, kämpferischen
Gewerkschaftern und Kleinbauern liegt in der Luft. Auch in Polen könnte die Oberhoheit des neoliberalen Einheitsdenkens gebrochen werden und linke
Kritik wieder Gehör bekommen.
Angela Klein
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