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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2003, Seite 16

Eine Reise nach Kaschubien

Das Erste Sozialforum in Pommern

Jeder Dritte hat Onkel, Schwester, Kinder oder sogar die Frau in Deutschland arbeiten: in Recklinghausen, Dortmund, Wuppertal, Mönchengladbach, Bocholt, seltener außerhalb von NRW. Wir sind in Kaschubien, wo am 1.Juli das 1.Pommersche Sozialforum stattgefunden hat, nachdem es im vergangenen Jahr eines in Schlesien (Kattowitz) und Anfang des Jahres eines in Masuren gegeben hat.
In Kaschubien hat man eigene Traditionen, die sind nicht richtig polnisch, auch nicht richtig deutsch, ein bisschen von beidem — vor allem aber hat man einen eigenen Kopf. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass das Sozialforum hier stattfand, in der 20000-Seelen-Gemeinde Miastko, die früher einmal Rummelsburg hieß und heute in Mittelpommern liegt. Hier ist die aktivste und organisationsstärkste Erwerbslosengruppe von Polen angesiedelt, das Komitee zur Verteidigung der Erwerbslosen. Es vereint die örtlichen Erwerbslosengruppen aus fünf Wojwodschaften. Daneben gibt es als Verband nur noch das Komitee der Wojwodschaft Lubuski. Der Rest der Erwerbslosengruppen ist lokal zersplittert.
Die Mehrzahl der etwa 80 Teilnehmenden, die sich im Kulturhaus von Miastko einfinden, ist erwerbslos. In diesem Teil Polens beträgt die Arbeitslosenquote 36%, in Masuren sogar 50%; landesweit offiziell 17,6%. Die anwesenden Männer und Frauen, mehrheitlich im mittleren Alter, waren vor der Wende meist auf den großen Staatsfarmen und in der angegliederten Nahrungsmittelindustrie beschäftigt. Ihre Geschichte ähnelt fatal der Ostdeutschlands. Überall trifft man auf Industriebrachen. Gerade die gutlaufenden, produktiven Betriebe wurden dicht gemacht, nur wenige von ausländischen Besitzern übernommen. Miastko war einmal ein bedeutendes Lederzentrum, in dem 3000—4000 Menschen Arbeit fanden. Die besseren Zeiten sieht man der Kleinstadt an. Heute ist das Unternehmen in italienischem Besitz und zählt gerade noch 200 Beschäftigte.
Wie viele andere haben sich Ewa Hinca und Ryszard Dul, die Sprecher des Erwerbslosenkomitees, in den 90er Jahren mit Saisonarbeit über Wasser gehalten — Ryszard als Illegaler bei Toulouse, Ewa in der Nähe von Baden-Baden. Das Pflücken von Kohlköpfen ist Schwerstarbeit, so etwas macht man nicht lang; hinzu kommt, dass sie nach zwei Monaten wieder zurückgeschickt wurden. In Polen haben sie Arbeitslosengeld beantragt, das bekommt man aber nur für ein Jahr. Allerdings kann das Komitee, das auch ein Wirtschaftsbetrieb ist, Erwerbslose einstellen, dafür gibt es Geld aus der Staatskasse. Nach einem Jahr Arbeit hat man dann erneut Anspruch auf Arbeitslosengeld. Trotzdem finden die meisten keine Arbeit — und es gibt keine Sozialhilfe, welche diejenigen auffängt, die gar nichts haben.
Die beiden Vertreterinnen der Euromärsche, die zum Sozialforum eingeladen wurden, haben Frauen mit mehreren Kleinkindern angetroffen, die seit längerem erwerbslos sind (das nennen sie so, sie sagen nicht: ich bin Hausfrau, sie sagen: ich bin arbeitslos) und bei deren Männern das Arbeitslosengeld ausläuft. Sie stehen vor der nackten Existenznot. Trotz jahrzehntelanger Massenarbeitslosigkeit können wir uns von dieser Armut in Westeuropa keinen Begriff mehr machen. Man muss schon in die Vorkriegszeit zurückgehen, um die Attribute zu finden, die diesen Grad von Armut auszeichnen: fehlende Zähne, keine weiterführenden Schulen für die Kinder (d.h. Bildungsbarrieren und fehlende soziale Aufstiegsmöglichkeiten), Hunger und ein gedrücktes, scheues Verhalten, das Menschen charakterisiert, die sich permanent als rechtlos und als unterste Schicht der Gesellschaft erfahren.
Das Schicksal ereilt im Übrigen nicht nur Erwerbslose. Als wir auf der Rückreise einen Abstecher zur Danziger Werft machen, ist das Tor verschlossen, das Gelände so gut wie ausgestorben, und davor sitzt ein einsamer Wärter, ein junger Mann, der nach unserem Begehr fragt. Unser Dolmetscher stellt uns als Gewerkschafterinnen vor, die 1980/81 die Betriebsbesetzungen unterstützt haben. Der Wärter bemüht sich um Höflichkeit: »Danke. Aber heute hungern wir. Von den 20000 Beschäftigten sind 2000 übrig geblieben; und die warten seit Mai auf ihren Lohn.«
Die Werft ist in eine Vielzahl von Kleinunternehmen zerschlagen worden. Von der heroischen Tradition wollten weder die alten Machthaber noch die neuen Eigentümer etwas wissen. Am Tor hängt ein verblichenes Transparent mit der Aufschrift: »Hier wurde Polen ermordet — am 16.12.1970 und am 16.12.1981.«
Der Beitritt zur Europäischen Union wird nochmals verheerende Konsequenzen haben — diesmal für die Kleinbauern und die Zechen. Ewa und Ryszard waren deshalb beim Europäischen Sozialforum in Florenz. Sie wissen, sie müssen aus ihrem Ort raus und nach neuen Möglichkeiten suchen, um für sich daheim wieder eine Perspektive entwickeln zu können. Auf die »Politik« können sie nicht setzen. »Die Politiker hier sind arrogant und fühlen sich alle als etwas Besseres«, klagt Ewa.
Davon nimmt sie auch den Bürgermeister von Miastko nicht aus, obwohl er doch den Tagungsraum zur Verfügung gestellt und zusammen mit anderen Behördenvertretern am Sozialforum teilgenommen hat. In der Öffentlichkeit hat er die beispielhafte Arbeit des Komitees in höchsten Tönen gelobt, aber Ewa weiß genau, wie lange sie Klinken putzen musste, bis sie ein paar Groschen für das Sozialforum locker machen konnte.
Ewa kann stundenlang erzählen; z.B. wie sie Lech Walesa einmal 20 Zloty geschenkt hat. Sie wollte ein Benefizfest für Kinder organisieren und brauchte Mittel. Und weil sie überall abgewiesen wurde, wandte sie sich schließlich an Walesa, der damals Staatspräsident war und immer noch das Image eines Mannes aus dem Volke genoss. Sie rief ihn in seinem Präsidentenbüro an, aber er jammerte herum, er würde selbst kaum etwas verdienen. Das empörte sie so, dass sie ihm 20 Zloty in den Briefumschlag steckte. Die Sache ging damals mächtig durch den Blätterwald, und der Präsident ließ schließlich großzügig 500 Zloty anweisen, das sind etwa 130 Euro.
Auch auf dem Sozialforum haben die Institutionen ihr Fett abgekriegt, z.B. die Vizedirektorin des Arbeitsamts: Sie ließ es sich nicht nehmen, den beiden Vertreterinnen der Euromärsche ausdrücklich zu widersprechen, die von der Notwendigkeit der europäischen Zusammenarbeit zur Verteidigung der sozialen Rechte gesprochen hatten. »Die nationalen Verhältnisse sind zu unterschiedlich, wir können keine gemeinsamen Lösungen gegen die Arbeitslosigkeit entwickeln.« Das kam nicht gut an; auch nicht die Redebeiträge anderer Behördenvertreter, die nur eine Lösung kannten, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden: Geld, Geld und nochmal Geld. Das ist anscheinend alles, was sie sich von der EU erhoffen: Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds.
Zum Tumult kam es schließlich, als sich ein junger Vertreter des Bürgermeisters von Slupsk, einer Küstenstadt an der Ostsee, erdreistete, die Erwerbslosen als faules Pack, Alkoholiker und Drogensüchtige zu beschimpfen. Der Starost von Miastko musste einschreiten.
Anders als im vergangenen Jahr in Schlesien waren in Miastko nicht viele andere gesellschaftliche Organisationen vertreten. Herausragend unter ihnen allerdings der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft OPZZ (früher die Staatsgewerkschaft) von der Gdingener Werft, der lebhaftes Interesse am Forum gewonnen hat. Wie in Deutschland wird auch in Polen die landesweite Konstituierung des Sozialforums erst nach Paris möglich sein.
Doch unter Aktiven in Polen ist das Sozialforum bereits ein Begriff. Die Delegation nach Paris wird um eine Reihe von Vertretern kämpferischer Belegschaften erweitert werden. Ein Zusammengehen von Erwerbslosen, kämpferischen Gewerkschaftern und Kleinbauern liegt in der Luft. Auch in Polen könnte die Oberhoheit des neoliberalen Einheitsdenkens gebrochen werden und linke Kritik wieder Gehör bekommen.

Angela Klein

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